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5.2 Fallen im Werk von Man Ray und Alberto Giacometti

5.2.2. Alberto Giacometti

In den frühen 1930er Jahren schuf Alberto Giacometti, wie Rosalind Krauss in ihrer Untersuchung864darlegt, unter dem Einfluss der von Georges Bataille her-ausgegebenen Zeitschrift ‚Documents’ einen neuen Typus von Objekten. Viele von ihnen sind eindeutig dem Kontext des inneren Zusammenhangs von Sexua-lität und Gewalt gewidmet und lassen sich in diesem Sinne in die Gruppe der

‚objets dangereux bzw. désagréables’ einordnen. Manfred Schneckenburger be-schreibt diesen Aspekt auf surrealistische Objekte allgemein bezogen wie folgt:

862Zabel 1989, S. 67. Die Verbindung von Maschine und Sexualität findet sich schon früher, etwa in Francis Picabias Gemälde ‚Parade amoureuse’ (1917, Neumann Collection, Chicago) und kann letztlich wohl auf griechische Mythen von ‚Roboterfrauen’ wie Pandora und Pygmalion zurückge-führt werden (siehe Kap. 2.2).

863Dafür spricht auch die Tatsache, dass sich Ray 1925 der surrealistischen Bewegung anschloss (siehe dazu Fußnote 850).

864Krauss 1985, S. 42f.

„Sigmund Freud gibt die Wegweisung. Da es meist um geheime, verdrängte Begierden geht, ist ein Zug ins Sexuelle, Sexualpathologische nicht verwunderlich.

Gerade die verborgenen, zensierten Tiefen, Tabuzonen, in denen die Lust sich mit Gewalt, Schmerz, Ekel verbindet, tauchen hervor. Giacomettis penetrierender Riesendorn, die Hand im Räderwerk einer Foltermechanik setzen das in Extreme um.“865

Christian Klemm erklärt den Kontext der im Folgenden vorgestellten Werke wie folgt: „Dieses phänomenologische Bemühen, das Sehen der Wirklichkeit zu erfas-sen, beinhaltet auch die Frage nach dem Aussen und Innen, dem gegenständlich Vorhandenem und dem Bewusstsein.[...]Ein solches Schaumodell weist auf die Zeit von 1925 bis 1935 zurück, als Giacometti keine fruchtbare Möglichkeit der di-rekten Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit sah und Anschluss an die aktuelle Avantgarde suchte. In den ersten Jahren antizipierte er die von der aussereuropä-ischen Stammeskunst und vom Kubismus ausgehenden Impulse, wobei ihm die stark abstrahierende Formensprache die metaphorische Gestaltung von Gefühlen und Triebstrukturen ermöglichte.“866

Für die 1932 erschienene dritte Nummer von André Bretons Zeitschrift ‚Le Surréal-isme au Service de la Révolution’ schrieb Giacometti einen Text867und lieferte u.a.

Zeichnungen der beiden Werke ‚Objet désagréable à jeter’ und ‚Objet désagré-able’, die beide in diesem Jahr entstanden. Das phallusartige, von Schneckenbur-ger anschaulich als ‚penetrierender Riesendorn’ beschriebene ‚Objet désagré-able’868kündigt dem Rezipienten bereits durch den Titel869seine wesentliche Ei-genschaft und zugleich eine Intention Giacomettis an: Es ist ein unangenehmes

865Schneckenburger 2000, S. 463

866Klemm 1990, S. 12.

867‚Objets mobiles et muets’, in: Le Surréalisme au Service de la Révolution, Nr. 3, Paris, 1932, S.

19f. Klemm beschreibt das Verhältnis Giacomettis zu den Surrealisten wie folgt: „Besonders eng gestaltete sich seine Beziehung zu den Schriftstellern in der surrealistischen Phase. Mit seinen da-mals geschaffenen Objekten und Schaumodellen kam er ihrem Bedürfnis nach Projektionsräumen für traumhaft verknüpfte Vorstellungen und psychische Obsessionen exakt entgegen.“ Klemm 1990, S. 14.

868Siehe Abb. 200.

869Auf Deutsch etwa ‚unangenehmes Objekt.’

Objekt, das wie Man Rays Bügeleisen nicht für den traditionellen Kunstgenuss be-stimmt und geeignet ist. Die Plastik ist ein visueller und intellektueller Stolperstein zugleich. Die biomorphe, horn- oder dornartige Form der Gipsplastik erinnert ei-nerseits an Kultobjekte außereuropäischer oder prähistorischer Stammeskulturen und vermittelt in diesem Sinne eine Aura der Ursprünglichkeit oder auch die eines Fetischs.870Auch Reinhold Hohl erwähnt diesen Aspekt und verweist auf formal sehr verwandte „Eingeborenenplastiken.“871Im diesen Kontext lässt sich das Werk aufgrund formaler Parallelen ebenso als Phallus interpretieren.872 Andererseits scheint Schneckenburgers Assoziation eines Dornes besonders geeignet, um die Ambivalenz der Plastik zu beschreiben: Der Dorn einer Pflanze verletzt passiv im Sinne einer Schutzfunktion, während die dem Phallus verwandte Lesart des Ob-jekts als Horn entgesetzte Assoziationen wie Potenz und den aktiven Kampf evo-ziert. Bereits auf rein formaler Ebene zeigt sich deutlich die von Bataille873und Freud beschriebene Nähe von Sexualität und Gewalt, die Giacomettis Plastik der frühen 1930er Jahre kennzeichnet.

Dieser innere Zusammenhang von Eros und Thanatos zeigt sich auch in der Be-schreibung des ‚Objet désagréable’ von Mary McInnes: „Its biomorphic form sug-gests several possibilities: penis, embryo, larva, cocoon. A horn shape is squeez-ed out from a bulbous root. There is a sense of transformation, of a form inside the

870Auf den Aspekt des Fetischs bezogen nennt McInnes Giacometti einen ‚féticheur’ und verweist auf eine formale wie inhaltliche Parallele des ‚Objet désagréable’ zu einem Totem und dem ihm zu-gehörigen Mythos der äthiopischen Kultur: „The creation myth of the Ethiopian people, which invol-ves a man who coupled with an aloe plant and later found children in its folds.“ McInnes 2000, S.

181.

871„In den frühen dreißiger Jahren teilte er sein schöpferisches Interesse für die Eingeborenenplas-tik mit den Surrealisten, wobei er mehr die plastische Gestaltungsmöglichkeit, jene aber den Ob-jekt- und Fetischcharakter gesehen haben. [...] Es wäre falsch, in diesen Gestalt-Verwandtschaften nur formale Bezüge zu sehen. Giacometti wußte den Gehalt der Negerskulpturen, den etwa sein ethnologisch bewanderter Freund Michel Leiris ihm deuten konnte, für den Gehalt seiner eigenen Werke fruchtbar zu machen.“ Hohl 1987, S. 79 (siehe Abb. 201).

872 In diesem Sinne bieten sich zum Vergleich mit Werken anderer Vertreter des Surrealismus etwa die beiden ‚Anthropomorphes Brot’ genannten Ölgemälde Salvador Dalis an, die ebenfalls 1932 entstanden sind. Siehe Descharnes 2004, Band I, S. 178 und 179.

873Bataille zufolge kennt die Natur „drei Arten der Verschwendung, des Luxus: das Verzehren le-bender Organismen, den Tod und die geschlechtliche Fortpflanzung.“ Traugott König in: Lutz 1995 S. 82.

structure that is either emerging or entrapped.”874Giacometti selbst beschreibt in einem Brief an Pierre Matisse mit Skizzen zu den beiden hier vorgestellten Ob-jekten seine Motivation wie folgt: „Mais tous ceci m' éloignait peu à peu de la réalité extérieure, j'avais la tendance à ne me passioner pour la construction des objets eux mêmes. [...] Ce n'était plus la forme extérieure des êtres qui m’interes-sait, mais ce que je sentais affectivement dans ma vie. Il ne s' agissait plus de pré-senter une figure extérieurement ressemblante, mais de vivre et de ne réaliser que ce qui m'avait affecté, ou que je désirais. [...] Désir aussi de trouver une solution entre les choses pleines et calmes et aiguës et violentes.”875

Der Aspekt der Drohung, von Gewalt und Verletzung wird besonders an den Dornen oder Widerhaken sichtbar, die sich am verjüngenden Ende der Plastik be-finden. Erst durch sie lässt sich das ‚Wesen’ des Objektes eindeutiger der Sphäre der Gewalt zuordnen. Diese Bedeutungsebene ist auf der Zeichnung876der Plastik noch stärker ausgeprägt: Giacometti zeigt eine von oben auf das Objekt hin aus-gestreckte Hand, deren mittlere Finger das dünnere, mit Dornen versehene Ende leicht berühren. Ob es sich dabei um eine vorsichtige Annäherung oder den Mo-ment des ‚Loslassens’ handelt, ist nicht eindeutig auszumachen.877Auffallend sind jedoch die im Verhältnis zu der Pariser Gipsplastik spitzer ausgeprägten Dor-nen.878Diese auf der Zeichnung markant symbolisch illustrierte Verletzungsgefahr für den Rezipienten betont einerseits den Aspekt der Bedrohung. Andererseits verweist die ambivalente Geste der Hand auf den latent vorhandenen, warnenden

874McInnes 2000, S. 181. Die dem Objekt aufgrund seiner Ambivalenz zugeschriebene Harmonie spiegelt sich auch – bewusst oder unbewusst – in der Formulierung McInnes, wenn sie von Horn und Zwiebel spricht. Liest man das Horn als Symbol der Männlichkeit und die Zwiebel als Metapher der weiblichen Fruchtbarkeit, die sich – angedeutet durch die Krümmung des Objektes – je nach Lesart aufeinander zu oder voneinander weg bewegen, bietet die Plastik eine interessante Paralle-le zu Constantin Brancusis ‚Princesse X’ (1916). Sie wurde als Phallus-Darstellung fehlinterpretiert und sorgte daher für einen Skandal.

875Ein Faksimile des Briefes von 1947 findet sich in Hohl 1987, S. 249

876Siehe Abb. 202.

877McInnes liest die Geste eindeutig als „hand poised to pick up the work.“ McInnes 2000, S. 182.

878Handelt es sich jedoch bei dem im Pariser Centre Pompidou befindlichen Gipsmodell um den Rohling für den späteren Guss des Objektes, lassen sich dessen stumpfere Dornen neben mög-licher unsachgemäßer Aufbewahrung als ein Zeichen der Abnutzung bereits im Laufe des Produk-tionsprozesses interpretieren.