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Eine weitere wichtige Brücke zum Verständnis der Falle in der christlichen Reli-gion und abendländischen Kultur vor dem Hintergrund der Moral bildet der Begriff Skandal. Der in diesem Kontext heute nicht mehr verwendete Begriff lässt sich seinem griechischen Ursprung zufolge auf die Falle zurückführen. Während der Begriff Skandal heute als Synonym für ein Aufsehen oder Anstoß erregendes Er-eignis gilt, bezeichnet das ursprüngliche, griechische Wort ‚skándalon’ „ein aufge-hängtes oder frei herabhängendes Holz, die Auslösevorrichtung einer Tierfalle“, ein „losschnellendes Gerät“377oder auch „ein Fußeisen, das [...] angelegt wird.“378

Dem Theologen Gottfried Büchner zufolge wurde der Begriff von Martin Luther „in der heiligen Schrift durch Falle, [...] Strick [...] und Netz [...] übersetzt. Es bedeutet also, wodurch man kann gefällt, gefangen werden.“379Schon die Sprache des Theologen deutet auf den einleitend bereits angedeuteten Kontext des Todes: Das

376Radin 154, S. 194f. Eine ähnlich ‚chaotische’ Gottheit, die die These der ,Universalität’ der Trickster-Figur belegt, ist die ursprünglich aus Afrika stammende Gottheit Elegba, die durch die Kolonialisierung in die karibische Kultur aufgenommen wurde. Edwards 1985, S. 8f. Kern erwähnt zwei weitere listige Gottheiten, die das Labyrinth als Falle verwenden: „Eine vergleichbare – für An-greifer tödliche – Irreführung wird behauptet für Tcuhu, den Herrn und Erbauer des Labyrinths bei den Pima-Indianern im Südwesten der USA, und auch bei den Batak auf Sumatra ist der Herr der Labyrinths, Si Jonaha, eine Art Eulenspiegel-Figur.“ Kern 1982, S. 108.

377Pfeiffer 1989, S. 1298.

378Büchner 1890, S. 29. Für das ‚fesselnde’ Fußeisen als Bedeutung des scandalon spricht ein Vers Salomos: „Den Gottlosen werden seine Missetaten fangen, und er wird mit den Stricken sei-ner Sünde gebunden.“ Spr 5, 22.

379Büchner 1890, S. 29.

„wodurch man kann gefällt werden“380bildet neben der etymologischen Wurzel im Sinne der Tod-Sünden zugleich eine semantische Brücke zur Moral. Folgt man Büchners These, lässt sich die biblische Vielfalt der Netz- und Fallstrickmetaphern also auf das lateinische scandalum bzw. griechische skándalon zurückführen.381

Aufgrund der enormen Bedeutung der griechischen und der römischen Kultur für die Entwicklung der abendländischen Kultur bis in die Gegenwart – die sich gera-dezu exemplarisch auch am hier untersuchten Begriff belegen lässt – ist eine Analyse der antiken Wurzeln des Fallen-Begriffes hilfreich. In der Septuaginta382 steht ‚skándalon’ bereits für die „Versuchung, die der Teufel dem Menschen in den Weg legt.“383Im Laufe der Zeit wird das lateinische ‚scandalum’ zum Begriff für den „Fallstrick“ und „die Verführung zum Bösen“384und ist ein Kennzeichen teuf-lischer Machenschaften. Der Evangelist Lukas warnt vor dem Gericht über Jerusa-lem385mit den folgenden Worten: „Nehmt euch in acht, [...] dass jener Tag euch nicht überrascht, (so) wie (man in) eine Falle (gerät)“386; andere Quellen ver-wenden den Begriff den Fallstrick statt Falle387, was Büchner zufolge auf die Über-setzung Luthers zurückzuführen ist. Diese Stelle erscheint besonders interessant, wenn man bedenkt, dass schon Adam und Eva Opfer eines ‚skándalon’ waren,

380Das Verb fällen gilt (wie bereits erwähnt, siehe Kap. 2.4) als Synonym für töten.

381Auch Redewendungen wie ‚sich bzw. den Kopf aus der Schlinge ziehen’, ‚das Netz zerreißen’

und ‚Haare bzw. Federn lassen müssen’ deuten auf den Tod bzw. das knappe Entkommen vor dem sicheren Ende. In diesem Sinne rät der Volksmund „es ist besser einige Haare zu lassen, als den Balg zu verlieren.“ Röhrich 1971, S. 320.

382Die Septuaginta ist die altgriechische Übersetzung des hebräischen Tanach bzw. Alten Testa-ments und wurde im dritten Jahrhundert v. Chr. wahrscheinlich von König Ptolemaius II. Philadel-phus (285 - 247 v. Chr.) in Auftrag gegeben. Es ist die älteste durchgehende Bibelübersetzung und das Werk hellenistischer Juden aus Alexandria. Ihr Name leitet sich vom lateinischen Begriff für die Zahl siebzig ab, weil der Legende nach siebzig Gelehrte siebzig Tage lang an der Übersetzung ins Altgriechische arbeiteten. Obwohl sie alle unabhängig voneinander arbeiteten – so die Legende – entstanden siebzig wörtlich gleichlautende Texte.

383Pfeiffer 1989, S. 1298.

384Pfeiffer 1989, S. 1298.

385 Gemeint ist Jüngste Gericht.

386Luk 21, 34-35.

387Röhrich 1991, S. 413.

genauer gesagt der Ursünde, weil Verführung zum Bösen, die treffenderweise in der Regel als Sündenfallbezeichnet wird.388

Auch in Georg Hönns ‚Betrugslexicon’ von 1724 ist der biblische Sündenfall der Anfang allen Übels: „Der Fürst der Welt und Urheber des Betrugs leget sein erstes Meisterstück an unser aller Mutter der Eva ab als welche er so grausam betrogen, dass ihr und uns Nachkommen darüber billigst die Augen übergehen mögen.“389In diesem Sinne mahnt auch Jesus dem Evangelisten Johannes zufolge die skepti-schen Juden, die ihn töten wollen: „Ihr habt den Teufel zum Vater, und ihr wollt tun, wonach es euren Vater verlangt [...] und er steht nicht in der Wahrheit, denn es ist keine in ihm. [...] Er ist ein Lügner und ist der Vater der Lüge.“390Leicht mo-difiziert findet sich diese Metapher Simrock zufolge als Sprichwort noch in der Mit-te des neunzehnMit-ten Jahrhunderts wieder: „Der Lügner trägt des Teufels Livree.“391 Der Apostel Paulus rät in seinem zweiten Brief an seinen Mitarbeiter Timotheus392 zu Güte und Geduld mit den Ungläubigen, damit sie „aus dem Netz des Teufels befreit werden, der sie eingefangen und sie gefügig gemacht hat.“393Im Umkehr-schluss bedeutet dies, dass Menschen sich bereits aufgrund der Tatsache, dass sie nicht an den Gott der Bibel glauben, in den Fallen des Teufels befinden. Ein Holzschnitt in einer Bilderbibel aus der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, die,

388Diese These findet sich in der Auslegung von Genesis 3 der slawischen Baruch-Apokalypse wieder. Dort schlüpft der gefallene Engel Satanael in die Schlange „mit der Absicht, Eva zu verfüh-ren.“ Colpe 1993, S. 75. Diese ‚Einheit’ von Schlange und Teufel findet sich in Gestalt eines Zwit-ters aus Schlange und Mensch in dem Gemälde ‚Der Sündenfall’ von Cornelis Cornelisz van Haar-lem (1592, Rijksmuseum, Amsterdam). Während Adam und Eva von Tieren wie Fuchs, Hund, Kröte und Bär umgeben sind, die alle den Teufel oder die Todsünden symbolisieren, reicht eine puttoartige Gestalt aus dem Baum heraus Eva den Apfel. Der Unterkörper des Wesens, der sich um den Ast windet, endet in einem schlangenartigen Schwanz. Das Elend der Welt der Menschheit ist hier wie im Falle Pandoras das Ergebnis einer gezielten Intrige; eine Falle. Auch in der Schee-delschen Weltchronik von 1493 ist von „der Eingebung des Teufels in Gestalt der Schlangen“ die Rede. Scheedelsche Weltchronik 1493, fol. VIIr.

389Hönn 1981, S. 2.

390Joh 8, 44.

391Simrock 1846, Nr. 6660.

392Die Briefe sind als Richtlinien für die Ausübung des kirchlichen Amtes und die persönliche Le-bensführung gedacht.

393 I Tim 2, 26.

wie ihr Untertitel394andeutet, auf kindgerechte Art wesentliche Bibelinhalte vermit-teln will, versinnbildlicht diese symbolische Bedeutung des Netzes.395Dem Psalm

‚Meine Augen sehen stets nach dem Herrn, denn er wird meinen Fuß aus dem Netz ziehen’396und dem logopädischen Bilderbuch-Konzept gemäß sind nur die Nomen bildhaft auf dem Holzschnitt dargestellt, so dass ein Kind unter Anleitung deren Bedeutung und Aussprache lernen kann. Neben den Wörtern wurde zu-gleich die biblische Moral vermittelt, dass nur derjenige, der – metaphorisch ge-sprochen – stets den Blick auf Gott gerichtet hat, den Fallstricken des Teufels ent-kommen kann.

Im Buch Hiob schildert Bildad397das Schicksal des Frevlers wie das eines vom Jäger verfolgten Tieres: „Ins Garn bringen ihn seine Füße, und über Fanggruben führt sein Weg. Das Netz wird seine Ferse festhalten, und die Schlinge wird ihn fangen. Sein Strick ist versteckt in der Erde und seine Falle auf seinem Weg.“398In diesem Sinne schildert ein Psalm Davids, ein Loblied auf die göttliche Rettung aus der Bedrängnis das Schicksal der Heiden wie folgt: „Die Heiden sind versunken in der Grube, die sie gegraben, ihr Fuß ist gefangen im Netz, das sie gestellt hat-ten.“399

Es sind stets die Frevler400, die Gottlosen401oder der Teufel selbst, die Schlingen legen und Fallen stellen.402Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum der

394„Dem Gemüth zur Ergötzung, der lieben Jugend zu Erlernung eines jeden Dinges, mit seinem rechten Nahmen zu nennen; Wie nicht weniger die Sprüche Heil. Schrift ohne Mühe ins Gedächt-niß zu bringen.“ Bilder-Bibel, Kopenhagen 1751, siehe Pictura Paedagogica Online.

395Siebe Abb. 125.

396Die Botschaft des Bildes bezieht sich auf einen vom Autor als biblischen ‚Kernspruch’ bezeich-neten Psalm (25, 15). Vor dem Hintergrund der bereits erwähnten, ursprünglichen Bedeutung des scandalon als Fußeisen- oder -fessel (Büchner 1890, S. 29) kann das Netz als eine Metapher dafür gelesen werden.

397Bildad war einer der drei Freunde Hiobs, Sohn Abrahams und dessen zweiter Ehefrau Keturah.

398Hiob 18, 8.

399Ps 9, 16.

400Spr 16, 29.

401Ps 119, 110.

402An dieser Stelle konnten dem Umfang der Arbeit geschuldet nur einige, besonders aussagekräf-tige Bibelstellen erwähnt werden. Eine Suche im Register der Bibel nach Begriffen wie Schlinge,

Teufel in den Geschichten des Mittelalters auch in der Gestalt des ‚wilden Jägers’

auftritt.403In dieser Gestalt findet er sich noch in der Novelle ‚Die schwarze Spin-ne’404von Jeremias Gotthelf aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Der Teufel als Vogelfänger in seiner bildlichen Form, „in the guise of the modest bird catcher appears fully developed in German popular art of the late fifteenth and early sixteenth centuries.”405

Stellvertretend für diesen teuflischen Vogelfang als äußerst beliebte Allegorie406 für den mit listigen ausgelegten Fallstricken betriebenen Seelenfang kann auf einen Holzschnitt aus einem Bestseller des späten fünfzehnten Jahrhundert ver-wiesen werden: Eine Illustration aus dem Narrenschiff.407Der Holzschnitt408zeigt einen sich hinter Gebüsch versteckenden Vogelfänger. Er trägt eine Narrenkappe und hat lange Eselsohren, die ihm neben seinem grimassenhaft verzerrten

Ge-Falle oder Fallstrick offenbart die hier nur angedeutete Omnipräsenz der Ge-Fallenstellerei als Kenn-zeichen des Teufels und der ihm nahestehenden Frevler und Ungläubigen.

403Die Spuren des teuflischen Jägers führen zum Physiologus. Darin heißt es: „Der Teufel ist der Jäger. Seine ihm gehörenden Werke sind Unzucht, Ehebruch und Mord. Derartiges schneide aus dir aus und gib es dem Teufel, und es wird dich der Jäger-Teufel loslassen, wie auch du sagst:

‚Unser Seele ist entronnen wie ein Vogel dem Strick der Jäger.’“ Treu 1981, S. 46f.

404Gotthelf hieß mit richtigem Namen Albert Bitzius und wurde am 4.10.1797 in Murten geboren.

Die Erzählung erschien zum ersten Mal in den „Bildern und Sagen aus der Schweiz" im Jahr 1842.

Als Inspiration diente Gotthelf eine 600 Jahre alte Sage aus der Zeit der Pest.

405Bauer 1984, S. 146.

406Die folgenden Verse aus Johann Mannichs ‚Sacra Emblamta“ von 1625 belegen die Intention und Bedeutung des Motivs: „Ein Vogler in der Hütten gut / Mit Garn den vögeln stellen thut / der Teuffel wird hierdurch andeut / Der listig und voll geschwindigkeit / kann lieblich pfeiffn und fistulirn und Damit den Christen zu ein Fürbild ist [...].“ Zitiert nach Bauer 1984, S. 149, siehe Abb. 126.

407Das Buch machte den Juristen und Stadtschreiber Sebastian Brant (1457-1521) berühmt, der Erfolg seiner Moralsatire (1494) war auch der hohen Qualität der Holzschnitte geschuldet. Ihr Hauptteil wird heute nahezu einstimmig Albrecht Dürer zugeordnet. Der in 112 Kapitel gegliederte Text benutzt die Narrengestalt als Exempel für negative Didaxe. Kern ist die Kritik menschlichen Fehlverhaltens, neben den sieben Hauptsünden und deren Untereinteilungen wird allgemein menschliches Verhalten thematisiert, insofern es gegen etablierte Normen verstößt. Das Buch diente auch zur Abgrenzung der entstehenden gesellschaftlichen Klasse der Bürger gegenüber Adel und Bauern, daher wurden auch neue Normen und Werte wurden thematisiert.

408Siehe Abb. 127.

sicht teuflische Züge verleihen.409In seiner rechten Hand hält er die Strippe für das in der Mitte des Bildes ausgelegte Schlagnetz, das von einem Baum, Gräsern und Gebüsch gerahmt wird, und wartet auf den rechten Moment. Die zahlreichen um die Falle befindlichen Vögel scheinen angekirrt worden zu sein, da sich kein Lockvogel in der Szene findet.410 Der schöne, von filigranen Ranken gerahmte Holzschnitt macht diesen Zusammenhang besonders deutlich: Neben der Allego-rie vom teuflischen Vogelsteller kann das Werk aufgrund der Bildunterschrift „von offlichen anschlag“411zugleich auch als ein Hinweis auf die bereits erwähnte Ver-bindung zwischen dem Motiv der Falle und dem Begriff Skandal verstanden wer-den.

Neben den hier erläuterten etymologischen Entwicklungen ist der Prozess der Zu-sammenführung verschiedener, biblischer Stellvertreter und Symbole des Bösen ein Kennzeichen der Fallen stellenden Teufelsfigur. Der Satan des Alten Testa-ments, der Teufel des Neuen Testaments und der Teufel des Judentums wurde mit den Lehren der Kirchenväter im dreizehnten Jahrhundert zur ‚Endgestalt’ Teu-fel vereint. Die uns bis heute vertraute TeuTeu-felsfigur des spätmittelalterlichen Chris-tentums ist das Ergebnis dieses Prozesses, so der Religionshistoriker und Theo-loge Carsten Colpe: Sie ist „ein Konglomerat aus Volksglauben und kirchlichen Kanones.“412Ein Ansatz für die mittelalterliche Fusion der verschiedenen Figuren

409Dass es sich nicht um einen als Narren verkleideten Menschen, sondern den Teufel oder ein teuflisches Wesen handelt, wird besonders durch die Ohren deutlich. Im Gegensatz zu den ‚Ohren’

der kleinen Narrenfiguren, die in den das Bild rahmenden Ranken klettern, haben die des Vogel-fängers keine Schellen. Auch seine grobe Nase deutet im Vergleich mit denen der Ziernarren auf eine ‚bestialische’ Natur.

410Auf einen Kirrplatz (kirren = ködern) deuten neben den auf dem Boden pickenden vor allem die zahlreichen in den Bäumen sitzenden Vögel.

411Der Reim, dem das Motiv gewidmet ist, lautet: „Eyn narr ist wer will fahen sparen/ Vnd für ir ougen spreit das garn/ Gar lycht eyn vogel flyehen kan/ Das garn/ das er sicht vor im stan.“

412Colpe 1993, S. 68. Der Krötenzauber ist ein gutes Beispiel für die Übernahme von Elementen des Volksglaubens in die kirchliche Sphäre. Zwar gibt es auch in der Bibel Stellen, welche die Krö-te als Symbol des Bösen verwenden (2. Buch Mose, 7, 28 und Joh Offenbarung 16, 13), doch dürf-ten die schriftlich und darauf folgend auch bildlich dokumentierdürf-ten, volkstümlichen Berichte über Verwandlungen des Teufels einflussreicher gewesen sein. (LCI 1972, Band II, S. 676) Die West-fassaden der Münster von Basel, Freiburg und Straßburg dokumentieren das im dreizehnten Jahr-hundert besonders populäre ‚Fürst der Welt’ Motiv (Joh 12, 31). Wie lange und tief sich die

ver-des Bösen findet sich bereits in der Offenbarung ver-des Johannes: „Und es wurde hinausgeworfen der große Drache, die alte Schlange, die da heißt: Teufel und Satan, der die ganze Welt verführt.“413Der gemeinsame Nenner der vielen ver-schiedenen Gestalten des Teufels414ist das Verstellen, die auf das jeweilige Opfer spezifisch ausgerichtete Täuschung – so wie die Verblendung oder der Auslöser einer Falle auf ihr Opfer abgestimmt ist. Besonders deutlich wird diese an Zeus’

Metamorphosen erinnernde Kunst der Täuschung an den beiden im dreizehnten Jahrhundert häufig dargestellten Figuren ‚Fürst der Welt’ und ‚Frau Welt’. Er ist der vornehme, stets wohlwollend lächelnde junge Herr für die weibliche und sie die verführerisch schöne wie junge Dame für die männliche Zielgruppe.415Die beiden Figuren veranschaulichen die auf Verführung ausgerichteten Verwandlungskünste des Bösen.416So finden sich auch im Lehrgedicht ‚Der welsche Gast’ von

Thoma-schiedenen, mittelalterlichen Metaphern und Bilder für den Teufel ins kulturelle Gedächtnis einge-graben haben, zeigt der 1837 erschienene Text ‚Die Elementargeister’ von Heinrich Heine. Beson-ders die Mythen und Sagen um die für den Menschen oder zumindest für dessen Vieh gefährlichen Raubtiere wie Fuchs und Wolf lassen sich bis weit ins neunzehnte Jahrhundert anhand von Ritua-len oder Redensarten nachweisen. Willkomm berichtet von einem noch in den 1980er Jahren prak-tizierten Marder-Ritual: „Der aufgespannte Balg [Balg ist die Bezeichnung für das Fell des Nieder-wildes] des Marders wird noch heute von der Dorfjugend im Elsaß unter Absingen eines Bettelrei-mes durch die Gassen getragen – höchstwahrscheinlich als Schutz gegen den bösen Blick des Räubers“. Willkomm 1986, S. 110. Das Tier wurde unter anderem wegen seines Blicks gefürchtet, nach alter Vorstellung lag es nachts auf dem Rücken im Stall und starrte die Hühner so lange an, bis sie verzaubert von der Stange fielen.

413 Offenbarung 12, 9.

414Er erscheint als Pferd, Hund, Katze, Affe, Kröte, Rabe und je nach Geschlecht des zu verfüh-rendem Menschen als schöne Frau oder Soldat. Colpe 1993, S. 68. Weitere Metamorphosen des Teufels findet man in Heines Text ,Die Elementargeister’ (1837), siehe www.gutenberg.spiegel.de (1.5.07).

415Die Motiv ‚Frau Welt’ wird auf das Moralstück ‚Der Welt Lohn’ des Baselers Dichters Konrad von 1260 zurückgeführt. Beispielhaft für die plastische Gestalt von Fürst und Frau Welt sei an dieser Stelle auf die Bauplastiken der Münster von Basel und Freiburg sowie des Doms zu Worms ver-wiesen. Als Zeichen ihrer ‚wahren Identität’ sind die Rücken der von vorne sehr reich und schön gestalteten Figuren von Verwesung gekennzeichnet: Kröten, Schlagen und Würmer fressen sich in den Körper.

416In dieser Tradition erscheint der Teufel auch in Gottfried Kellers Märchen ‚Die Jungfrau und der Teufel.’ Während die (heilige) Jungfrau sich selbst verstellt, um den Teufel zu überlisten, nimmt der Teufel im Laufe der Erzählung zahlreiche, je nach Opfer oder Zweck dienliche Formen an.

sin von Zerclaere417 vom Beginn des dreizehnten Jahrhunderts schöne, aber hinterlistige Hofdamen, die ihre männlichen Opfer mit Netzen fangen.418 In diesem Sinne warnt der Apostel Paulus vor den teuflischen Verwandlungskünsten: „Denn er selbst, der Satan, verstellt sich als Engel des Lichts. Darum ist es nichts Großes, wenn sich auch seine Diener verstellen.“419

Vor diesem Hintergrund erscheint es – abgesehen von dem großen zeitlichen Ab-stand – kaum verwunderlich, dass die von Henrie Saussure 1869 entdeckte, mit der europäischen Gottesanbeterin (Mantis religiosa) verwandte Insektenart, deren Fangarme eine Orchideenblüte simulieren420, dem Forscher diabolisch anmutete.

Mit Hilfe dieser aus menschlicher Perspektive schönen und zugleich arglistigen Täuschung421lockt das Insekt422seine Opfer – süßen Orchideennektar suchende

417Thomasin von Zerclaere (Zirklære oder Zirklaria) lebte um 1186 - 1238. Er war ein gebildeter Ministeriale und seit etwa 1206 Domherr am Hofe des deutschsprachigen Patriarchen von Aquileja.

Eva Willms zufolge hat sich Thomasin durch – wie er selbst schreibt – Not zum Schreiben des Buches entschlossen, „er sah, dass es nicht gut stand mit der Christenheit, dass die Gier nach Macht und Geld das Verhalten der Menschen im Großen wie im Kleinen bestimmte und die christ-lichen Tugenden dabei auf der Strecke blieben. Und so verfasste er sein großes Lehrgedicht als Anleitung zu gesittetem Denken und Tun.“ Thomasin 2004, S. 6.

418Zwei Miniaturen zeigen ein dem Frau-Welt-Motiv verwandtes Thema: Die schöne Frau und der Törichte. Die Schöne wird oft nur durch ihr offenes Haar als moralisch fragwürdige Person gekenn-zeichnet, doch ihre Handlungen offenbaren ihren Charakter; sie fängt den Törichten mit den übli-chen Hilfsmitteln des Teufels (siehe Abb. 128 und 129). Der Ursprung dieses Motivs ist wohl in den Sprüchen Salomos zu finden. In der folgenden, als Rat an seine Söhne gedachten, Geschichte warnt er vor den weiblichen Verlockungen. Dabei verwendet er viele Fallenmetaphern, um das Bö-se deutlich zu kennzeichnen: „Denn am Fenster meines HauBö-ses guckte ich durchs Gitter und sah [...] einen törichten Jüngling. [...] Und siehe, da begegnete ihm eine Frau im Hurengewand, listig, wild und unbändig, dass ihre Füße nicht in ihrem Hause bleiben können. Jetzt ist sie draußen, jetzt auf der Gasse und lauert an allen Ecken. Und sie erwischt ihn und küsst ihn, wird dreist und spricht: Ich habe mein Lager mit Myrrhe besprengt, mit Aloe und Zimt. Komm, lass uns kosen bis an den Morgen und lass uns die Liebe genießen. Denn der Mann ist nicht daheim, er ist auf eine

418Zwei Miniaturen zeigen ein dem Frau-Welt-Motiv verwandtes Thema: Die schöne Frau und der Törichte. Die Schöne wird oft nur durch ihr offenes Haar als moralisch fragwürdige Person gekenn-zeichnet, doch ihre Handlungen offenbaren ihren Charakter; sie fängt den Törichten mit den übli-chen Hilfsmitteln des Teufels (siehe Abb. 128 und 129). Der Ursprung dieses Motivs ist wohl in den Sprüchen Salomos zu finden. In der folgenden, als Rat an seine Söhne gedachten, Geschichte warnt er vor den weiblichen Verlockungen. Dabei verwendet er viele Fallenmetaphern, um das Bö-se deutlich zu kennzeichnen: „Denn am Fenster meines HauBö-ses guckte ich durchs Gitter und sah [...] einen törichten Jüngling. [...] Und siehe, da begegnete ihm eine Frau im Hurengewand, listig, wild und unbändig, dass ihre Füße nicht in ihrem Hause bleiben können. Jetzt ist sie draußen, jetzt auf der Gasse und lauert an allen Ecken. Und sie erwischt ihn und küsst ihn, wird dreist und spricht: Ich habe mein Lager mit Myrrhe besprengt, mit Aloe und Zimt. Komm, lass uns kosen bis an den Morgen und lass uns die Liebe genießen. Denn der Mann ist nicht daheim, er ist auf eine