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Interaktive Vorbereitung auf die Interviewsituation

5.4 Methode der Datenerhebung

5.4.2 Interaktive Vorbereitung auf die Interviewsituation

Die schulisch-beruflichen Übergänge betreffen einen überwiegenden Teil des Lebens eines Menschen und beziehen sich auf seine Biografie. Um lebensgeschichtliche Ereignisse von bildungs- und berufsbiografischen Übergangsverläufen der Proban-den zu erforschen und ein geeignetes Forschungsinstrument zu entwickeln, ist es notwendig, die zwei Prinzipien der Konstruktion biografischer Prozesse nach Schulze (1993) nachzuvollziehen.

Biografie kann einerseits als ein Bildungsprozess begriffen werden, der die sub-jektiven lebensweltlichen Daten des Individuums umfasst. Andererseits kann Biogra-fie als ein Konglomerat aus Erzählungen, Zielen und Selbstwahrnehmungen dessel-ben über das eigene Ledessel-ben verstanden werden. Darüber hinaus können Selbstkon-zepte bzw. einige subjektive (alltägliche) Theorien in dem Fall von Menschen mit den Förderschwerpunkten Lernen und geistige Entwicklung erfasst werden (Lindmeier 2013, S. 11 ff.).

Im Rahmen des theoretischen Ansatzes von Schulze werden zwei „Gestaltungs-prinzipien biografischer Prozesse“ (ebd., S. 14 f.) thematisiert, die sich einerseits im Lebenslauf und andererseits in der Lebensgeschichte wiederfinden (ebd., S. 14 f.).

Während der Begriff Lebenslauf die äußeren Daten eines menschlichen Lebens er-fasst, umreißt der Begriff Biografie die innere Seite, die – mündlich oder schriftlich überlieferte – subjektiv empfundene eigene Lebensgeschichte (Schulze 1993, S. 190 sowie Behrens-Cobet und Reichling 1997).

Nach Schulze zeichnen sich Lebensgeschichten durch Erfolge oder Misserfolge, durch gescheiterte Versuche, Zumutungen, Enttäuschungen, Krisen, Unsicherheiten und Verzweiflung aus. Dabei werden Versuche unternommen, in diesen Lebens-geschichten etwas Gutes zu sehen und in bestimmte Gewinne umzuwandeln. In Le-bensläufen scheinen Laufbahnen und Rollen einerseits als normal und gleichzeitig isoliert sowie voneinander losgelöst. Andererseits überschneiden sie sich, verbinden sich oder gehen ineinander über. In Lebensgeschichten wird es offensichtlich, dass Laufbahnen nicht einer geraden Linie folgen, sondern sich häufig wenden, biegen, voll von Brüchen und Unterbrechungen, erfolglosen Versuchen und Misserfolgen sind. Darüber hinaus kann eine Laufbahn nicht das Ergebnis einer ersten Wahl sein (Schulze 1993, S. 190).

Die oben genannten Aspekte der Lebensgeschichte sollten bei der Erstellung des Erhebungsinstruments berücksichtigt werden. Im Mittelpunkt dieses Forschungspro-jektes steht ein Personenkreis, der wegen der auf ihren Förderschwerpunkt bezoge-nen Merkmale eine spezifische Vorgehensweise bzw. Flexibilität, ein reflexives und emphatisches Hinterfragen sowie den Einsatz von hilfreichen Methoden während der Interviewdurchführung erfordert.

Beispielsweise ist Bader der Auffassung, dass es den meisten Menschen mit (geistiger) Behinderung an zeitlicher Orientierung mangelt. Er meint, dass die Betrof-fenen ein geschichtsloses Leben führten. Kaum ein Mensch mit Behinderung kann Jahres- oder Altersdaten unterscheiden und korrekt erinnern. Häufig ordnen Men-schen mit Behinderung bestimmte Wohninstitutionen bestimmten

Lebenszeiträu-men zu. Daher ist die zeitliche Wahrnehmung einer Person sehr unterschiedlich.

Lange Zeiträume können als kürzer empfunden werden. Das eigene Alter wird als falsch eingestuft, d. h. falsch im Verhältnis zum Alter anderer Menschen (Bader 1996, S. 282).

„Die vom Bader beschriebenen und als ‚geschichtsloses Leben‘ abgewerteten zeitlichen Perspektiven geistig behinderter Erwachsener lassen sich ohne weiteres den von Schulze herausgearbeiteten Kennzeichen lebensgeschichtlicher Äußerungen zuordnen, während es Bader nur um lebenslaufbezogene Äußerungen zu gehen scheint.“ (Lindmeier 2013, S. 19)

Schulze unterscheidet lebenslaufbezogene und lebensgeschichtliche Äußerungen in Bezug auf drei Aspekte.

(1) Während Aussagen mit dem Lebenslaufbezug für einen bestimmten Zweck bestimmt sind und in verwaltungstechnischen Handlungskontexten und therapeu-tischen Zusammenhängen präsentiert werden, sind Aussagen mit dem lebens-geschichtlichen Charakter ein Selbstzweck.

(2) Die Gegensätze zwischen dem jeweiligen Lebenslauf und lebensgeschicht-lichen Aussagen sind nicht nur in sprachlebensgeschicht-lichen Formulierungen vorhanden, sondern beeinflussen auch die Lebensgestaltung. Daher müssen Lebenslauf und Lebens-geschichte auch als zwei verschiedene Arten der Wahrnehmung des individuellen Le-bens verstanden werden (Schulze 1993, S. 189 sowie Pfahl 2011, S. 69).

(3) Sowohl Lebenslauf als auch Lebensgeschichte werden durch verschiedene Denkmuster und Handlungspläne bestimmt. Obwohl die Lebensläufe im Hinblick auf Qualifikationen und Rollen geplant sind, werden die Lebensgeschichten von den Bemühungen um die Schaffung und Erhaltung von Identität geprägt (Schulze 1993, S. 192).

Lebensgeschichten setzen den konzipierten Lebenslauf voraus, dem im Prozess einer produktiven Leistung der konkreten Person im Zuge der Herstellung der neuen Konzeption ein anderer Sinn gegeben wird. Diese bewusste Auseinandersetzung mit der persönlichen Lebensgeschichte ist eine produktive Leistung, die in Bezug auf den Lebenslauf gar nicht zustande kommt, jedoch den Charakter des didaktisch-methodi-schen Ansatzes des biografididaktisch-methodi-schen Lernens trägt (Lindmeier 2013, S. 21 ff.).

Der didaktisch-methodische Ansatz biografischen Lernens basiert auf dem Prin-zip einer offenen Didaktik und soll insbesondere die folgenden Aspekte beachten:

• Es soll ein weitgehend realistisches Bild der Lebenswelt dargestellt werden.

• Auf der Grundlage von bestimmten Lebensphasen und Lebensereignissen im Sinne der Normalbiografie sollen Themenbereiche wie „Geburt, Kind sein, Ein-schulung, Ausbildung, Prüfungen, Partnerschaft, Berufskarriere, […] kritische Lebensereignisse“ (ebd., S. 30) etc. identifiziert werden.

• Im Laufe der Biografiearbeit, die Momente der Vertiefung und Verlangsamung während der Erzählung erlaubt, sollten handlungsorientierte Formen verwendet werden.

• Aufgrund der Unvorhersehbarkeit bei der Planung einzelner biografischer Akti-vitäten sollte eine offene Didaktik angewendet werden. Es ist unmöglich, eine didaktische Planung zu entwickeln, die auf den Erfahrungen in Biografien ba-siert. In der Regel finden im Prozess der biografischen Untersuchung themati-sche Veränderungen oder Transformationen statt (ebd., S. 30 f.).

Was die methodische Umsetzung betrifft, so kann biografisches Lernen auf sehr un-terschiedliche Weise stattfinden. Nach Gereben, Kopinitsch-Berger (1998) kann das biografische Lernen nicht nur in Form von Malerei und kreativer, aktivitätsorientierter Biografiearbeit, sondern auch in gesprächsorientierter Form – etwa im Rahmen von Erzählungen oder durch die archivarische Dokumentation von Erinnerungen – erfol-gen (Lindmeier 2013, S. 32).

Eine weitere, jedoch nicht weniger entscheidende Rolle spielt die Auswahl der richtigen Sozialform, da biografische Arbeit in Form von Gruppenarbeit nicht mit je-der Person durchgeführt werden kann. Indem die Einzelarbeit die Arbeit mit schwer erreichbaren Menschen ermöglicht und eine vertrauliche Atmosphäre geschafften wird, werden Hemmungen leichter überwunden und eine größere Flexibilität in Be-zug auf Zeit, Raum, Inhalt und individuelle Gestaltung geboten. Entsprechend effek-tiver ist die Einzelarbeit als Sozialform für die Durchführung des episodischen Inter-views. Allerdings erfordert diese Sozialform ein hohes Maß an Zuverlässigkeit, Offen-heit und Einfühlungsvermögen des Befragenden (Lindmeier 2013, S. 73 ff.).

Stellt sich allerdings heraus, dass ein Proband aufgrund gewisser Einschränkun-gen enorme Schwierigkeiten beim Erzählen der eiEinschränkun-genen Geschichte hat oder auch die eigene Lebensgeschichte unter der Berücksichtigung von biografischen Verläufen nicht darstellen kann, so sollte nach Sensibilisierungsmöglichkeiten gesucht werden, die das Lernen der eigenen biografischen Ereignisse einleitet, Erinnerungen weckt und zum Nachdenken anregt. Im Hinblick auf die Förderschwerpunkte Lernen und geistige Entwicklung erfordern diese Prozesse einen hohen Zeitaufwand.

In diesem Zusammenhang kann festgestellt werden, dass die methodische Um-setzung eine bestimmte moderierte Lehr-Lern-Situation – ein biografisches Lernset-ting für die zur Verfügung stehende Gruppe an Interviewten – erfordert, bevor es zu einzelnen Interviewsituationen kommen kann.

Die Rolle des moderierenden Begleiters biografischer Lernprozesse im Rahmen eines biografischen Lernsettings umfasst bestimmte verantwortungsbewusste metho-disch-didaktische Entscheidungen darüber, wie der Lernprozess initiiert werden kann und zu halten ist. Hierbei ergeben sich Herausforderungen insbesondere hinsichtlich einer stimulierenden Einleitung, der angemessenen Thematisierung der Lebens-geschichte des Probanden und eines angemessenen Einwirkens zur Aufrechterhal-tung des Erzählflusses. Besonders hilfreich und anregend können impulsgebenden Fragen während des Lernsettings sein, etwa:

• Können Sie sich noch an Ihre Kindheit, Schulzeit erinnern?

• Woran können Sie sich nach der Schulzeit erinnern? (ebd., S. 36)

Bei der Entwicklung einer offenen didaktischen Detailplanung zum biografischen Lernsetting sollte nach Petzold (1999) Folgendes beachtet werden:

• Die Aufgabe der Moderation besteht in der Ausgestaltung der angemessenen bio-grafischen Kommunikation, die sich in der stellvertretenden Deutung als Probe-deutung in den immer thematisch wiederkehrenden Verstehens- und Verständ-nisprozessen äußert und anhand dieser Interpretationsversuche zugleich zu den Korrekturen am entworfenen Bild beiträgt.

• Das Verstehen der Lebensgeschichten anderer scheint umso erfolgreicher zu sein, je mehr es sich auf die lebensgeschichtliche Selbstreflexion der Moderieren-den verlassen kann.

• Nicht weniger wichtig ist die Bereithaltung eines Methodenrepertoires: Je flexibler das Methodenrepertoire des biografischen Lernsettings eingesetzt werden kann, desto angemessener kann die Vorbereitung zum Erzählen der Lebensgeschichte erfolgen.

• Um gemeinsam mit anderen diskursive Situationen herbeiführen zu können, ist eine allgemeine soziale Kompetenz notwendig. In der biografischen Arbeit ist nach Petzold (1999) ohne soziale Kompetenz keine dialogoffene und freie Atmo-sphäre möglich (Lindmeier 2013, S. 36 ff.).

• In der Regel ist das Anknüpfen an bekannte Geschichten auch ein hilfreicher Impuls:

„Wenn wir dabei an alte, gute Geschichten anknüpfen können, ist das sehr hilfreich und wenn wir schlechte Geschichten aufnehmen müssen, weil sie uns präsentiert werden, dann nehmen wir sie an, aber wir graben nicht nach Traumata. Wenn wir auf schlimme Geschichten stoßen oder auf Traumata, können wir diese emphatisch wahrnehmen und dem Klient vermitteln, für ihn ein ‚significant caring other‘ – ein sorgender mitfühlender Mensch – zu sein, denn dann werden wir zu einem ‘projektiven Faktor‘. Außerdem kann es für den Klienten sehr hilfreich sein, wenn wir mit ihm ‚alternative Erfahrungen‘ zu schaffen suchen.“ (Petzold 1999, S. 56)

• Die Grundvoraussetzungen für eine moderate Rolle sind nicht nur die Informa-tion, Aufmerksamkeit, Neugier und das Taktgefühl, sondern auch eine Abstrak-tions- und Verbalisierungsfähigkeit. Die moderierende Person sollte in der Lage sein, sich auf die wechselseitige Spannung sowohl zwischen rekonstruktiver und konstruktiver als auch retrospektiver und prospektiver Biografiearbeit einzustel-len. Der Erzähler und der Zuhörer bilden nach Ruhe (2003, S. 12) eine Arbeitsge-meinschaft, in der der Zuhörer sich mit Fragen an den Erzähler wendet und sein Interesse an dessen Lebenswirklichkeit zum Ausdruck bringt. Da viele Dinge im Leben unbewusst geschehen und der Erzähler nichts davon bewusst wahr-nimmt, sollte der Zuhörer den Erzähler auch als Fragesteller betrachten (Lind-meier 2013, S. 39).

Auf Grundlage der bisher genannten Aufgabenstellungen wurde eine offene didakti-sche Detailplanung zusammengestellt. Sie ist zugleich eine Voraussetzung für die Entwicklung eines flexiblen biografischen Lernsettings. Ursprünglich wurde davon

ausgegangen, dass das biografische Lernsetting in drei zeitlich grob umrissenen Blö-cken mit Interviewpartnern und -partnerinnen durchgeführt werden kann.

Nach der Anpassung des Lernsettings entstand eine geeignete Vorgehensweise bei der Interviewdurchführung. Zu erwarten waren zwei Gruppen von Interviewpart-nern und -partnerinnen mit den Förderschwerpunkten Lernen und geistige Entwick-lung. Eine Gruppe umfasste die Absolventen einer überbetrieblichen Ausbildungs-stätte, die anschließend eine anerkannte Berufsausbildung absolvierten und die Möglichkeit erhalten haben, auf dem ersten Arbeitsmarkt tätig zu werden. Zur zwei-ten Gruppe gehörzwei-ten jene Interviewzwei-ten, die keine anerkannte Berufsausbildung ab-solvierten und auf dem zweiten Arbeitsmarkt beschäftigt sind.

Die Interviewpartner und -partnerinnen der ersten Gruppe konnten an einem Tag ohne zeitaufwendige Vorbereitung interviewt werden.

Bei den Interviewpartnern und -partnerinnen der zweiten Gruppe bestand Be-darf, die Besprechung und die Vorbereitung auf das Interview von der eigentlichen Interviewdurchführung zu trennen.

Für die Durchführung des Vorhabens waren zwei Treffen geplant.

Während des ersten Treffens wurden die Besprechung und die moderierende Vorbereitung auf das Interview mit starkem Fokus auf die folgenden thematischen Bereiche durchgeführt. Das Treffen erfolgte unter der Zuhilfenahme von Visualisie-rungselementen wie „Mein Lebensbaum“38 und dem „Zeitstrahl meines Lebens“39:

• Schule,

• Berufsorientierung,

• Beruf,

• Praktikum,

• Berufsberatung,

• BVJ,

• BGJ,

• Ausbildung und

• deren Übergänge.

Zum Einstieg waren die Erläuterungen der Gruppenregeln vorgesehen. Die Inter-viewpartner und -partnerinnen wurden darauf hingewiesen, dass sie zum nächsten Termin den eigenen Lebenslauf und eigene Fotoalben freiwillig mitbringen könnten.

Anhand dieser Lebenslaufdaten konnten die Erinnerungen ihres Lebensweges festge-halten und während des Interviews eingesetzt werden.

Für das zweite Treffen wurde eine Terminreihe innerhalb von zwei Tagen verein-bart.

Vor der Interviewdurchführung wurde eine kurze Smalltalk-Situation geplant, um eine möglichst entspannte Atmosphäre zu erzeugen (Bortz und Döring 2006, S. 310). Nach dem Überreichen des Informationsblattes und dem Erhalt der Einwilli-gungserklärung – Einwilligung zur Verarbeitung von Daten und zur

Tonaufzeich-38 Darstellung einer persönlichen Lebensübersicht mit dem Fokus auf schulisch-berufliche Ereignisse 39 Lebensereignisse in zeitlicher Abfolge

nung – wurde der Ablaufplan dargestellt. Die Probanden wurden darauf eingestellt, gemeinsam mit der Interviewerin oder auch in eigenständiger Arbeit die Dokumenta-tion der eigenen Lebensgeschichte – Mein Lebensweg – auszugestalten. Alle dazuge-hörigen Materialien einschließlich der Bildkarten wurden zur Verfügung gestellt. Es wurde die Möglichkeit zur Klärung entstandener Fragen, Anmerkungen und von ent-sprechenden Vorschlägen gegeben. Um in das Interview einzuleiten, wurde das Un-tersuchungsanliegen (Thema der ersten Sitzung) zunächst wiederholt. Während der Wiederholung wurden die bereits im ersten Treffen genutzten Abbildungen verwen-det. Um das Erzählen so wenig wie möglich zu beeinflussen und das Interview ausrei-chend offen zu gestalten, wurden die biografieorientierten Bildkarten vorgelegt.

Gleichzeitig wurde empfohlen, die Karten nach eigenem Wunsch in beliebiger Rei-henfolge auszusuchen, um die eigene Lebensgeschichte zu visualisieren. Die Inter-viewten erhielten Unterstützung von der Interviewerin, wenn ihnen wesentliche für sie wichtige Themen nicht in den Sinn kamen.

In besonders schwierigen Fällen, in denen gar kein Erzählfluss zustande kom-men konnte, sollte der vorgesehene Leitfaden (s. Kap. 5.3.2) verwendet werden. Nach den erfolgten Interviews wurde ein Hinweis gegeben, dass es hilfreich ist, nach der Analyse über die Ergebnisse der Untersuchung mit den Interviewten zu sprechen.