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Inklusion im Kontext von zugeschriebener Behinderung

3.4 Inklusion von potenziellen Risikogruppen mit Behinderungen

3.4.1 Inklusion im Kontext von zugeschriebener Behinderung

Um die Orientierung im Alltagsleben aufrechtzuerhalten, sind Individuen stets be-müht, so schnell wie möglich begründete Zuordnungen zu treffen und Einordnungen vorzunehmen. Begegnen sie einem Menschen zum ersten Mal, beginnen sie automa-tisch, das Gegenüber nach erlebten Dingen und bestehenden Normen zu bewerten.

Dabei spielt beispielsweise das Geschlecht der Person eine Rolle. Kann hier nicht eine eindeutige Zuordnung getroffen werden, so kommt es zu Irritationen. Es wird also versucht, komplexere soziale Konstellationen zu reduzieren, anstatt eine Heterogeni-tät anzuerkennen.

Nach Boban und Hinz (2008, 2009a) ist es deswegen kein Zufall, dass „Inklusion im deutschen wie im internationalen Kontext von vielen Autoren und Autorinnen vor-schnell mit Beeinträchtigung und Behinderung in Zusammenhang gebracht“ (Hinz 2012, S. 1) wird.

„Dass dies durch die Ratifizierung der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen verstärkt wird, ist einerseits produktiv, weil es die Diskussion verstärkt und im Bildungsbereich auch deutlich verändert – von der Frage des Ob zur Frage des Wie –, andererseits wird die Gefahr der Verengung und der ‚Sonderpädagogisierung‘ der Inklusion damit größer“ (ebd.).

Die vielfältigen Diskurse über Inklusion und somit über „teils synonym, teils differen-ziert verwandte Be- bzw. Zuschreibungen wie Behinderung, Benachteiligung, Beein-trächtigung, Störung, sonderpädagogischer Förderbedarf etc.“ (Zoyke und Vollmer 2016, S. 8) lassen sich als eine soziale Konstruktion der Beziehung zwischen indivi-dueller Förderbedürftigkeit und dem gesellschaftlichen Umgang mit ihr begreifen.

All diese Begriffe lassen sich „als soziale Konstruktion der Wechselbeziehung zwi-schen individueller Beeinträchtigung und dem gesellschaftlichen Umgang mit ihr“

(ebd.) erklären. Werning und Baumert (2013, S. 146) gingen davon aus, dass Inklusion nicht an Menschen mit Behinderung etc. gebunden werden kann, jedoch an den Lernorten des Bildungssystems anknüpft (Zoyke und Vollmer 2016, S. 8). Hierbei sind Zugänglichkeit, Individualisierung, Anschlussfähigkeit und Durchlässigkeit die wich-tigsten Indikatoren einer inklusiven Berufsbildung (ebd.).

Die Zuschreibung von Sondermerkmalen der Menschen erfolgt in verschiede-nen Kontexten und kann bezogen auf das Bildungssystem sowohl bestimmte spezifi-sche Maßnahmen vorsehen als auch einige gesonderte Leistungsansprüche definie-ren (Zoyke und Vollmer 2016, S. 33).

Zu den genannten spezifischen Maßnahmen zählen die schulischen und außer-schulischen Bildungsgänge des Übergangssystems und berufsvorbereitende Über-gangsmodelle ohne beruflich qualifizierte Abschlüsse. In solche Übergangsverläufe geraten Benachteiligte und vor allem Menschen mit Behinderung.

Wansing und Westphal sind der Meinung, dass Behinderung auch als Resultat politisch-rechtlicher Strukturen bzw. Praktiken erklärt werden kann. (Wansing und Westphal 2014, S. 17) In Anlehnung an BRK (Präambel, e) betonen die Autoren und Autorinnen eine stärkere Berücksichtigung kontextuell bedingter Faktoren und be-greifen den Behinderungsbegriff als eine Benachteiligungsform (BGBL – Bundes-gesetzblatt 2008, II, S. 1420).

„Die internationale ‚Classification of Functioning Disability and Health (ICF)‘ operationa-lisiert in ihrem bio-psycho-sozialen Modell von Behinderung Kontextfaktoren, die den ge-samten Lebenshintergrund eines Menschen umfassen, nämlich sowohl Umweltfaktoren (materielle, soziale und einstellungsbezogene Faktoren) als auch Personenfaktoren (z. B.

Geschlecht, Alter, Migrationserfahrungen, ethnische Zugehörigkeit, Bewältigungsstile)“

(Wansing und Westphal 2014, S. 19).

Bei der Umsetzung der Teilhabe von betroffenen Personen können die gegebenen Kontextfaktoren sowohl ressourcenreich und somit förderlich als auch hinderlich sein. Das DIMDI – Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Infor-mation (2010, S. 22) charakterisiert die Entstehung einer Behinderung als „das Ergeb-nis oder die Folge einer komplexen Beziehung zwischen dem Gesundheitsproblem eines Menschen und seinen personenbezogenen Faktoren einerseits und den exter-nen Faktoren, welche die Umstände repräsentieren, unter deexter-nen das Individuum lebt, andererseits“ (Wansing und Westphal 2014, S. 19). Um die Teilhabe der beeinträchtig-ten Menschen zu verwirklichen, die bestehenden Barrieren abzubauen und Diskrimi-nierung in allen gesellschaftlichen Bereichen zu vermeiden, sollen neben der menschlichen Vielfalt unterschiedliche Beeinträchtigungen und deren Bedeutung so-wie alle zeitlich, materiell und soziokulturell bedingten Folgen berücksichtigt werden (ebd.).

Da eine Behinderung als eine subjektive Bestimmung betrachtet werden kann, ist kein Zusammenhang mit nur individuellen Eigenschaften von Menschen mit Be-hinderung ersichtlich (ebd.). Kommt eine festgestellte BeBe-hinderung infolge einer Zu-schreibung zustande, kann die Eindeutigkeit der jeweiligen Diagnose infrage gestellt werden (Zoyke und Vollmer 2016, S. 33).

Außerdem können die Zuschreibungen abhängig vom Hintergrund und Aufga-benbereich der zuschreibenden Einrichtungen völlig unterschiedliche Ergebnisse lie-fern. Damit lässt sich nach der Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2014, S. 179) der bundesweit schwankende Schüleranteil mit dem diagnostizierten

sonder-pädagogischen Förderbedarf erklären. So wurden etwa in den Jahren 2012 und 2013 zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern über 10 Prozent aller Schüler und Schü-lerinnen Förderschulen zugewiesen, während in Rheinland-Pfalz lediglich bei rund 5 Prozent ein Förderbedarf diagnostiziert wurde (Zoyke und Vollmer 2016, S. 33).

„Dass es sich um Zuschreibungen handelt, wird auch daran deutlich, dass mit der Ausdif-ferenzierung des Systems der Förderung von behinderten Menschen ganz unterschied-liche Typologien von Behinderung zum Einsatz kommen. So entwickelten sich im schu-lischen System unterschiedliche Förderschwerpunkte (Lernen, emotionale und soziale Entwicklung, geistige Entwicklung, körperliche und motorische Entwicklung, Sehen, Hö-ren, Sprache), im Bereich der Berufsbildungswerke werden die Rubriken Lern-, Körper-, Sinnes-, psychische, geistige und Mehrfachbehinderung unterschieden (vgl. Niehaus u. a.

2012, S. 56; Seyd und Schulz 2012, S. 78).“ (Zoyke und Vollmer 2016, S. 33)

Bei der Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs in einem oder mehreren Förderschwerpunkten werden die betroffenen Persönlichkeiten in ihrer Kompetenz und in ihren Entwicklungsmöglichkeiten meistens unterschätzt. Werden Kompeten-zen von Kindern und Jugendlichen „nicht oder unzureichend erkannt bzw. aner-kannt“ (Ziemen 2013, S. 23), wird die Entwicklung von Betroffenen durch die entstan-dene Stresssituation massiv beeinflusst und ihre Zukunftsperspektiven verstellt.

Zurzeit lassen sich zwei Kategorien der Inklusion im engeren Sinne in der deutschsprachigen Literatur nach wie vor identifizieren. Man wird entweder als „be-hinderte Person“ oder „nichtbe„be-hinderte Person“ erachtet. Diese konstruierte Unter-scheidung nähert sich dem Ordnungsprinzip und befördert die Diskussionen über Normalität oder Anomalität, über die Vertrautheit oder Fremdheit (Langner 2015, S. 16).

Die genannten Unterscheidungen durch Langer lassen es zu, den Inklusionsbe-griff durch die Behinderung als weitere Kategorie zu erweitern:

„Mit Behinderung als Konstrukt wird der Fokus auf den Prozess der Benachteiligung ge-legt […]. Dieser Prozess beschreibt ein Behindertwerden und Behindern, der als solcher notwendigerweise mit der Analyse der Praktiken/Diskurse/Interaktionen, die Behinde-rung herstellen und mit dem Wechselspiel von Inklusion und Exklusion in unterschied-lichen Bereichen […] verbunden ist.“ (Langner 2015, S. 23)

Ziemen versteht den Behinderungsbegriff als ein sozial konstruiertes und stetig re-produziertes Produkt, das in „Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata“ so-wie im Selbstverständnis von Menschen so-wiedergefunden werden kann (Ziemen 2013, S. 59).

Je nachdem wie eine Behinderung verstanden und interpretiert wurde, konnte eine Zuschreibung in Bezug auf eine oder mehrfache Beeinträchtigungen erfolgen.

Diese Aussonderung behinderte vor allem in der Vergangenheit den Regelschul-besuch von Menschen mit etikettierter Behinderung und ließ meist nur eine Sonder-oder Förderschulkarriere zu. Die behindernden Konsequenzen für die berufliche Zu-kunft der Betroffenen werden noch während der Schulzeit vorweggenommen.

Darüber hinaus erfolgen die schulisch-beruflichen Übergänge der förderbedürftigen

Menschen meist prekär und zeichnen sich durch berufsbildungsbezogene bzw. be-triebliche Zugangsbarrieren auf dem Weg zum ersten Arbeitsmarkt aus.

Wie bereits angedeutet, existieren unterschiedliche Ansätze zum Verständnis von Behinderung. Im Folgenden sollen diese Ansätze überblicksmäßig dargestellt und in Zusammenhang mit der Zielgruppe des Forschungsprojektes gebracht wer-den.