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Gründe für das Scheitern von schulisch-beruflichen Übergängen

5.3 Deduktiv gebildete theoretische Konstrukte und hierzu entwickelte

5.3.2 Gründe für das Scheitern von schulisch-beruflichen Übergängen

Während der schulisch-beruflichen Übergänge erleben viele junge Menschen vor allem mit Förderbedarf zahlreiche Umbruchsituationen in verschiedenen Lebensbe-reichen. Insbesondere nachschulische Übergänge fallen in Anlehnung an Montada,

Abbildung 29:

Lindenberger und Schneider (2012, S. 54) mit einem biologischen Reifungsprozess zusammen, der die persönliche Identitätsbildung bzw. Identitätsentwicklung prägt (Stein, Kranert und Hascher 2020, S. 19). Diese identitätsstiftenden Wechselprozesse kollidieren einerseits mit Peer Group-bezogenen Interessen und andererseits mit den familiären Änderungen etwa hinsichtlich der Wohnsituation. Mit einem Schulab-schluss fällt beispielsweise die Phase der Ablösung vom Elternhaus (Kauz, Uphoff und Schellong 2013, S. 151) oder vom Heim zusammen. Das autonome Wohnen hebt Kastl als Merkmal der sozialen Anerkennung hervor (Kastl 2017, S. 230 f.). Mit den genannten Anforderungsaspekten überschneiden sich schulische Umwelten sowie die Berufsorientierung, die die Ausbildung bestimmter Fähigkeitspotenziale erfordert (ebd.). Dementsprechend kann das Übergangsscheitern von Menschen mit Förderbe-darf durch komplexe, parallel laufende Wechselprozesse im Hinblick auf die gesell-schaftlichen, sozialen und persönlichen Anforderungen begründet sein (s. Abb. 30).

Komplexe parallellaufende Wechselprozesse als Gründe für das Übergangsscheitern (Stein, Kranert und Hascher 2020, S. 26, komprimierte und zugleich erweiterte eigene Darstellung)

Aus diesem Zusammenhang kann die folgende Hypothese entwickelt werden:

H1: Die Fülle von komplexen, parallel laufenden Übergängen und Wechselprozessen über-fordert Menschen mit den Förderschwerpunkten Lernen, geistige Entwicklung und führt we-gen Bildungs- und Entwicklungsverzögerung dieser Zielgruppe häufig zum Scheitern des schulisch-beruflichen Übergangs.

Nach Kranert und Stein (2019, S. 216 f.) stehen junge Menschen gleichzeitig vor gesell-schaftlichen, sozialen und persönlichen Herausforderungen. Diese Herausforderun-gen können als Krisensituationen betrachtet werden. Kranert und Stein verbinden die

Abbildung 30:

Entwicklungskrise (s. Abb. 31) mit den Anforderungen der Identitätsentwicklung.

Jedoch steht diese Entwicklungskrise im Zusammenhang mit den Entwicklungspro-zessen innerhalb der schulischen bzw. beruflichen Umwelten und somit auch im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Anforderungen. Im Kontext dieser Anfor-derungen sind Jugendliche mit den Umbrüchen in ihrer Lebenswirklichkeit konfron-tiert. Nebenbei erleben sie eine Individualkrise, die auf soziokulturelle oder psycholo-gische Belastungen zurückzuführen ist. Die Gesamtbelastung dieses Verbundes aus drei Krisen hat hemmende Auswirkungen auf die berufsbildungs- und arbeitsmarkt-bezogene Teilhabe (Stein, Kranert und Hascher 2020, S. 19).

Nicht bewältigte Krisen als Gründe für das Übergangsscheitern (Stein, Kranert und Hascher 2020, S. 26, komprimierte und zugleich erweiterte eigene Darstellung)

Hierauf bezogen lässt sich in Bezug auf die Systematisierung der Krisenerlebnisse eine weitere Hypothese formulieren:

H2: Da Menschen mit Förderbedarf nicht immer in der Lage sind, die gekoppelten Krisen des Jugendalters selbstständig zu bewältigen, können deren schulisch-berufliche Übergänge scheitern.

In Anlehnung an Stein, Kranert und Hascher (2020, S. 19) erfordert eine ausgewählte berufliche Ausrichtung im Rahmen der Berufsorientierung das Vorhandensein bzw.

die Entwicklung bestimmter Persönlichkeitspotenziale.

Abbildung 31:

Diskrepanz zwischen den Berufsanforderungen und Fähigkeitspotenzialen als Grund für das Übergangsscheitern (Stein, Kranert und Hascher 2020, S. 19; S. 26, komprimierte und zugleich erweiterte eigene Darstellung)

Hierauf bezieht sich folgende Hypothese:

H3: Ist die Diskrepanz im Spannungsfeld zwischen den Berufsanforderungen (gesellschaft-liche Herausforderungen) und vorausgesetzten Fähigkeitspotenzialen sowie persön(gesellschaft-lichen Eigenschaften (persönliche Herausforderungen) zu verzeichnen (s. Abb. 32), ist das Über-gangsscheitern absehbar.

Bei der Suche nach einem geeigneten Ausbildungsplatz strengen sich auch viele Men-schen mit Förderbedarf und ihre Bezugspersonen während der Bewerbungsphase an (s. Abb. 33). Trotz ernsthafter Bemühungen der Betroffenen wird der Aufbau einer beruflichen und persönlichen Identität der Betroffenen aufgrund scheiternder Ausbil-dungsplatzsuche gehemmt. Infolgedessen verlieren junge Menschen mit Förderbe-darf nicht nur das Selbstwirksamkeitsgefühl, die Hoffnung und Motivation, sondern werden arbeitslos oder weichen in ungelernte Beschäftigungen aus. In Anlehnung an Zoelch und Thomas wirkt sich die von ihnen konstatierte unzureichende Unterstüt-zung von stark UnterstütUnterstüt-zungsbedürftigen durch Berufsberater und Berufsberaterin-nen der Bundesagentur für Arbeit in manchen Fällen deprimierend aus. Mit dem blo-ßen Verweis auf die agentureigenen Angebote fühlen sich die Betroffenen lediglich alleingelassen und geben die weitere Ausbildungsplatzsuche auf (Zoelch und Thomas 2010, S. 115).

Abbildung 32:

Scheiternde Ausbildungsplatzsuche als Grund für das Übergangsscheitern (Stein, Kranert und Hascher 2020, S. 26, komprimierte und zugleich erweiterte eigene Darstellung)

Zusammenfassend kann daraus die folgende Hypothese entwickelt werden:

H4: Eine unangemessene und diskontinuierliche amtliche Unterstützung der Betroffenen während der Bewerbungsphase führt zum Scheitern der Ausbildungsplatzsuche.

Zum schulisch-beruflichen Übergangsabbruch können viele hemmende Faktoren führen. Gründe sind nach Ginnold (2009, S. 11) eine Feststellung der Förderbedürftig-keit, -schulzuweisung und -schulbeschulung. Weitere hemmende Einflüsse sind auch die Zuweisung in eine außerbetriebliche praxisfernere Ausbildung mit sonderpädago-gischer Unterstützung sowie die Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbe-darfs. Selbst die unüberschaubare Vielfalt der Übergangsangebote, die daraus resul-tierende Komplexität des Übergangssystems und das Verbleiben in andauernden, leistungslosen Warteschleifen (Bojaniwski 2012, S. 127 f. sowie Ginnold 2008, S. 14) sind Faktoren, die als Gründe für ein Scheitern des Übergangs in Betracht gezogen werden können (s. Abb. 34).

Negative Erfahrungen (Düggeli und Kinder 2013, S. 211) wie etwa Mobbingerleb-nisse (Lenzen, Brunner und Resch 2016, S. 103) oder „Misserfolge und Versagen“

(HHS – Hermann-Hesse-Schule 2016, S. 3 f.) wirken sich auf den Übergangsprozess aus und verursachen ein Abbauen der Selbstwirksamkeit, der Hoffnung und Motiva-tion. Sie führen zu Frustration und starker psychischen Belastung.

Abbildung 33:

Übergangsabbruch als Grund für das Übergangsscheitern (Stein, Kranert und Hascher 2020, S. 26, komprimierte und zugleich erweiterte eigene Darstellung)

Hieraus lassen sich folgende Hypothesen formulieren:

H5: Die Feststellung des Förderbedarfs und die Aussonderung in eine Förderbeschulung so-wie weitere psychologische Gutachten und Statuszuweisungen programmieren den schu-lisch-beruflichen Übergangsabbruch vor.

H6: Negative Erfahrungen, Misserfolge und Versagen führen zum Übergangsscheitern.

H7: Das Verbleiben in Warteschleifen des Übergangssystems führt zur Exklusion und ist ein Anzeichen für das Übergangsscheitern.

In Anlehnung an Walter und Pohl kann das Fehlen eines Zugangs zu einer Ausbil-dung oder zu einer Erwerbstätigkeit auf stigmatisierende Zuschreibungen37 zurück-geführt werden. Aufgrund mangelnder Kompetenzen (persönliche Defizite) fehlen den Betroffenen Schulabschlüsse (s. Abb. 35). Eine Ausbildungsreife, die formal zur Ausübung einer Beschäftigung qualifiziert, bleibt in der Folge unerreicht. Erleben Menschen mit Förderbedarf derartige Zugangseinschränkungen aufgrund der per-sönlichen Entwicklungsverzögerung, steigt deren Frustration und Demotivation (Wal-ther 2013, S. 16).

Abbildung 34:

37 Bei der Auseinandersetzung mit den strukturell und individuell bedingten Zuschreibungen handelt es sich bei Walther (2013, S. 16) um die Konstellationen von Benachteiligung nach Pohl und Walther (2006). Dadurch, dass Menschen mit Förderbedarf beim Zugang zur Ausbildung und Beschäftigung benachteiligt werden, können die Konstellationen von Benachteiligung auf die Zielgruppe übertragen werden.

Fehlender Zugang zur Ausbildung und/oder Beschäftigung als Grund für das Übergangsschei-tern (Stein, Kranert und Hascher 2020, S. 26, komprimierte und zugleich erweiterte eigene Darstellung)

Diese stigmatisierenden Zuschreibungen äußern sich nach Granato, Milde und Ul-rich (2018, S. 3) auch in den mangelnden Kompetenzen und formalen Qualifikationen der beeinträchtigten Bewerber und in der damit begründeten ablehnenden Haltung des Ausbildungspersonals sowie der Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen. Das Schei-tern der schulisch-beruflichen Übergänge von Betroffenen (Stein, Kranert und Ha-scher 2020, S. 20) ist die Folge. Weder das Vorhandensein eines betrieblichen oder außerbetrieblichen Ausbildungsplatzes noch eine Fehlqualifizierung können eine Stigmatisierung beim Zugangsanspruch in eine Beschäftigung ausschließen (Spies und Tredop 2006, S. 13).

In diesem Zusammenhang kann folgende Hypothese formuliert werden:

H8: Werden die stigmatisierenden Zuschreibungen weiterhin gesellschaftlich definiert, wer-den die Zugangsbarrieren für die förderbedürftigen Menschen weiterhin existieren.

Nicht nur die ungenügende Berufsorientierung bzw. Berufsvorbereitung, sondern auch die Fehlentscheidungen bei der Berufswahl (Walther 2013, S. 16) sowie einge-schränkte Berufswahlmöglichkeiten (Thielen, Katzenbach und Schnell 2013, S. 9) bzw. die Annahme der „Second-choice-Optionen“ (Stauber und Walther 2004, S. 60) können frühzeitige Ausbildungsabbrüche verursachen (s. Abb. 36). Dadurch werden die Betroffenen versuchen zu flüchten und Konflikten während der Ausbildung aus-zuweichen (Ginnold 2008, S. 180).

Aufgrund der starken psychischen Belastung durch Ausbildungsabbrüche wer-den Betroffene demotiviert und frustriert (Stauber und Walther 2004, S. 60).

Abbildung 35:

Hieraus kann die folgende Hypothese formuliert und während der Erhebung und Auswertung von Daten überprüft werden:

H9: Fehlende oder fehlgetroffene Berufswahlentscheidungen, eingeschränkte Berufswahl-möglichkeiten und die Inanspruchnahme der Second-choice-Optionen resultieren in einem frühzeitigen Ausbildungsabbruch.

Ausbildungsabbruch als Grund für das Übergangsscheitern (Stein, Kranert und Hascher 2020, S. 26, Ausschnitt der Originalgrafik durch eigene Darstellung erweitert)

Das beschriebene Modell belastbarer Faktoren kann die systematische Rekonstruk-tion nicht nur von Gründen für scheiternde schulisch-berufliche Übergänge, sondern auch von Bedingungen des Übergangsgelingens (s. Kap. 4.5.3) unterstützen. Die em-pirischen Daten der in den vergangenen Jahren vorgelegten Studienergebnisse sollen gemeinsam mit den dargestellten theoretischen Konstrukten die empirische Erhe-bung des vorliegenden Forschungsprojektes flankieren.

5.3.3 Bedingungen für das Gelingen erfolgreicher schulisch-beruflicher