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Integrität als zentraler ethischer Begriff in der Integrativen Theorie

Im Dokument SUPERVISION – EIN RISIKO? (Seite 35-40)

3. Ethik in der Supervision

3.2 Integrität als zentraler ethischer Begriff in der Integrativen Theorie

Integrativen Therapie. Aufgrund der ethischen Verankerung in der Integrität – also dem Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit – können auch mögliche „Ver-sehrungen“, also Schäden (an der Integrität der Persönlichkeit), Risiken und Neben-wirkungen sichtbar gemacht und eventuell vermieden werden. Integrität in der Integrativen Theorie verweist aber nicht nur auf den Idealzustand der Unversehrtheit der Person, sondern auch auf den Prozess, welcher Integrität herstellt, u. a. durch die Integration der verschiedenen Perspektiven der am Supervisionsprozess beteiligten Personen sowie auf die Integration unterschiedlicher philosophischer Schulen und ihrer ethischen Grundlagen. Damit ist die Ethik im Integrativen Ansatz ein wesentli-cher Bezugspunkt für diese Master These, die sich mit der Frage der Fehler, Risiken, Schäden und Nebenwirkung von Supervision befasst.

Johanna Sieper, Ilse Orth und Petzold legen wesentliche Elemente der Ethik der Integrativen Therapie in folgendem Artikel dar: „Warum die Sorge um Integrität‘ in der Integrativen Therapie wichtig ist – Überlegungen zu Humanität, Menschenwürde und Tugend in der Psychotherapie“ (Sieper, Orth, Petzold 2010, Internet).

Obwohl sich der Titel dieses Artikels auf Psychotherapie bezieht, kann dieser Ansatz auch auf Supervision oder wie Sieper sagt – auf die Tätigkeit der „Menschenarbeit“

allgemein – umgelegt werden: „Das Thema der „Integrität“ ist ein zentrales Thema des Integrativen Ansatzes. Es sollte eigentlich Kernthema jeder Form von Psycho-therapie sein, ja jeder „Menschenarbeit“. Integrität gilt es daher zu schätzen, zu sichern, aber auch als Potenzial zu entwickeln. Für solches genuin melioristisches, für die Verbesserung von Lebensverhältnissen eintretendes Tun ist ein humanitäres Ziel, an dem die Integrative Therapie in der gebotenen Bescheidenheit (Petzold

29 1994b) mitzuwirken bemüht ist zusammen mit der Vielfalt an melioristischen Initiati-ven und Einrichtungen der Hilfeleistung, die wir im öffentlichen und privaten Raum weltweit finden“ (Sieper, Orth, Petzold 2010, 6).

Die Ethik ist eine wichtige Basis der Integrativen Theorie und damit die Basis der integrativen therapeutischen und auch der integrativen supervisorischen Arbeit.

Diese „Menschenarbeit“ ist die nach außen und auf die Andere oder den Anderen bezogene, praktische Umsetzung der Integrativen Theorie. Supervision und Therapie verstehen die Autorinnen bzw. der Autor als Teil eines politisch bewussten Engagements in der Gesellschaft: „Eine für den Menschen und das Leben engagierte Ethik ist für die IT handlungsanleitend und verlangt vom Therapeuten eine politisch bewusste, integre Haltung, die sich für die Integrität von Menschen, für ihr Leben, für die Sicherung gesunder sozialer Netzwerke (Hass, Petzold 1999), familialer Integrität (idem 2009h) und unbelasteter ökologischer Lebensräume (idem 2006p) engagiert – verbal, schriftlich, aber auch mit einer real eintretenden, handlungskonkreten Praxis …“ (ibid., 46).

Im Zentrum der Ethik des Integrativen Ansatzes steht der Begriff der „Integrität“.

Integrität bedeutet im eigentlichen Wortsinn „Unversehrtheit“. Im Zusammenhang mit der Integrität beziehen sich die Autorinnen, der Autor auf die in der demokratischen Verfassung der BRD verankerte Integritätszusicherung (vgl. ibid., 7) und betonen auch hier, dass Integrität die Zusammenarbeit aller Gesellschaftsmitglieder auf den verschiedenen Handlungsebenen erfordert: „An der in demokratischen Verfassungen verankerten Integritätszusicherung mit dem ‚Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit‘ muss prinzipiell ein jeder in seinem Lebens-, Aufgaben- und Arbeits-bereich mitarbeiten, damit es Wirklichkeit werden kann“ (ibid., 7).

Integrität erfordert laut Sieper, Orth und Petzold Respekt, insbesondere den Respekt vor der „Andersheit des Anderen“ (Levinas) (vgl. ibid., 45).

Risiken, Nebenwirkungen und Verletzungen entstehen in der therapeutisch-super-visorischen Praxis besonders dann, wenn diese „Andersheit“ nicht respektiert und von verkürzten Menschenbildern ausgegangen wird (vgl. ibid., 31 ff). Als Lösung empfiehlt Petzold, „vom hegemonialen Ich“ noch weiter abzurücken und das „Wir“ in

30 der Formel des „Du, Ich, Wir – Wir, Du, Ich in Kontext und Kontinuum“ stärker zu betonen. Es geht um die „Andersheit des Anderen“, der „immer vor mir ist“ und unbedingten „Respekt“ verlangt – so Levinas. (vgl. ibid., 56).

Ein wesentliches Risiko im Zusammenhang mit der „Menschenarbeit“, sehen Sieper, Orth und Petzold in den selbstüberhöhenden Ansprüchen von „übermächtigen“

Gründern der Psychotherapie. „Man kann an der Psychoanalyse und ihrer Ge-schichte exemplarisch gravierende Probleme psychotherapeutischer Theoriebildung insgesamt erkennen – es geht hier nämlich nicht nur um Fehler der Zeitgebunden-heit, sondern um Fehler durch überzogene Geltungsansprüche und Anmaßung von Erklärungen, die so nicht oder noch nicht zu geben waren (und sogar z. T. heute noch nicht zu geben sind), weil man über den Menschen und seine seelischen und somatoformen Erkrankungen einfach noch nicht genug wusste und weiss. Sie ber-gen deshalb die Gefahr von Risiken, Nebenwirkungen und die Verletzung von Integrität.“ Petzold verweist darauf, dass es eigentlich um „WEG-Erfahrungen“ geht, ein Weg, der z. T. von Fehlern begleitet ist (vgl. ibid., 56). Therapien wirken und kön-nen daher – wie Sieper, Orth und Petzold betokön-nen – schaden und Nebenwirkungen haben (vgl. ibid., 32 f). Sie fordern daher eine „risikosensible Praxis“ (ibid., 34).

Supervision zählt zur Praxis der „Menschenarbeit“ und ist daher vermutlich auch mit Risiken, Nebenwirkungen und Integritätsverletzungen verbunden. Die Forderung nach einer solchen risikosensiblen Praxis sollte daher auf die Supervision ausge-weitet werden, worin das Thema dieser Masterarbeit besteht. Für diese risiko-sensible Praxis entwirft Petzold folgende Grundregel:

Therapie findet im Zusammenfließen von zwei Qualitäten statt: einerseits eine Qua-lität der Konvivialität – der Therapeut/ die Therapeutin bieten einen ‚gastlichen Raum‘, in dem PatientInnen willkommen sind und sich niederlassen, heimisch wer-den können, in dem Affiliationen in Dialogen, Polylogen eines ‚Du, Ich, Wir‘ möglich werden. Andererseits ist eine Qualität der Partnerschaftlichkeit erforderlich, in der beide miteinander die gemeinsame Aufgabe der Therapie in Angriff nehmen unter Bedingungen eines ‚geregelten Miteinanders‘, einer Grundregel, wenn man so will:

31 - Der Patient bringt die prinzipielle Bereitschaft mit, sich in seiner Therapie mit sich selbst, seiner Störung, ihren Hintergründen und seiner Lebenslage sowie (problem-bezogen) mit dem Therapeuten und seinen Anregungen partnerschaftlich auseinan-derzusetzen. Das geschieht in einer Form, in der er – seinen Möglichkeiten entspre-chend – seine Kompetenzen/ Fähigkeiten und Performanzen/ Fertigkeiten, seine Pro-bleme und seine subjektiven Theorien einbringt, Verantwortung für das Gelingen seiner Therapie mit übernimmt und er die Integrität des Therapeuten als Gegenüber und belastungsfähigen professional nicht verletzt.

- Der Therapeut seinerseits bringt die engagierte Bereitschaft mit, sich aus einer intersubjektiven Grundhaltung mit dem Patienten als Person, mit seiner Lebenslage und Netzwerksituation partnerschaftlich auseinanderzusetzen, mit seinem Leiden, seinen Störungen, Belastungen, aber auch mit seinen Ressourcen, Kompetenzen und Entwicklungsaufgaben, um mit ihm gemeinsam an Gesundung, Problemlösun-gen und Persönlichkeitsentwicklung zu arbeiten, wobei er ihm nach Kräften mit professioneller, soweit möglich forschungsgesicherter ‚best practice‘ Hilfe, Unter-stützung und Förderung gibt.

- Therapeut und Patient anerkennen die Prinzipien der „doppelten Expertenschaft“ – die des Patienten für seine Lebenssituation und die des Therapeuten für klinische Belange – des Respekts vor der ‚Andersheit des Anderen‘ und vor ihrer jeweiligen

‚Souveränität‘. Sie verpflichten und bemühen sich, auftretende Probleme im thera-peutischen Prozess und in der therathera-peutischen Beziehung korrespondierend und lösungsorientiert zu bearbeiten.

- Das Setting muss gewährleisten (durch gesetzliche Bestimmungen und fachver-bandliche Regelungen), dass Patientenrechte, „informierte Übereinstimmung“, Fach-lichkeit und die Würde des Patienten gesichert sind und der Therapeut die Bereit-schaft hat, seine Arbeit (die Zustimmung des Patienten vorausgesetzt, im Krisenfall unter seiner Teilnahme) durch Supervision fachlich überprüfen und unterstützen zu lassen.

32 - Das Therapieverfahren, die Methode muss gewährleisten, dass in größtmöglicher Flexibilität auf dem Hintergrund klinisch-philosophischer und klinisch-psychologischer Beziehungstheorie reflektierte, begründbare und prozessual veränderbare Regeln der konkreten Beziehungsgestaltung im Rahmen dieser Grundregel mit dem Patien-ten/ der Patientin und ihren Bezugspersonen ausgehandelt und vereinbart werden, die die Basis für eine polylogisch bestimmte, sinnvolle therapeutische Arbeit bieten“

(Petzold 2000, cit. ibid., 53 f).

In vielfacher Hinsicht könnte diese „Grundregel“, wenn sie auch in der Supervision beachtet wird, verschiedene Risiken, die im Rahmen der Supervision auftreten können, zu vermindern oder vermeiden helfen.

Zur risikosensiblen Praxis zählt z. B. auch eine „gendersensible“ Herangehensweise an Therapie und Supervision, die – wenn sie vernachlässigt wird – durchaus zu

„Therapieschäden“ (vgl. ibid., 37) bzw. im Fall der Supervision zu „Supervisions-schäden“ führen kann. Einen wirksamen Schutz vor Integritätsverletzungen bietet die Vorbildfunktion von Lehrern und Lehrerinnen, „nicht bloß als „Imitationsmodell“ für technische Handhabung, sondern als Modell an Warmherzigkeit, Großzügigkeit, empathische Kompetenz und Performanz. Solche Modellfunktionen sind wahrschein-lich die bedeutendsten Mittel gegen die Verletzung von Integrität und müssen in Ausbildungsinstitutionen und in ihrer lehrenden und forschenden Arbeit zum Tragen kommen, allerdings auch durch entsprechende Gremien und institutionelle Regelun-gen unterfanRegelun-gen sein (vgl. Anhang I), etwa durch eine Regelun-genderbewusste Sprache“

(ibid., 39). Respekt ist für die Autorinnen und den Autor ein wirkungsvolles Mittel, um Integrität zu gewährleisten. Mangelnder Respekt drückt sich häufig in der verwende-ten Sprache aus, etwa wenn von Patienverwende-ten und Patientinnen als „Fällen“ gesprochen wird (vgl. ibid., 40). Respektvolles Sprechen ermöglich umgekehrt das wechselseitige Vertrauen der beteiligten Personen: „Für das Verstehen und Verständnis solcher Integrität und für eine integre Praxis ist das Leitkonzept des ‚Respekt‘ (Sennett 2002) wichtig und ermöglicht eine grundsätzlich respektvolle Haltung von Therapeu-tinnen und Supervisoren, eine ‚respektvolle Sprache‘ und eine Würde und Integrität respektierende Ansprache der PatientInnen/ KlientInnen, die einen gastlichen

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