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Historische Betrachtungen – Vom Zwiebelmodell zur ESeC-Klassifikation

3 Theoretische Grundlagen

3.2 Bildungs- und Berufsressourcen der Familie

3.2.2 Der soziale Familienhintergrund

3.2.2.1 Historische Betrachtungen – Vom Zwiebelmodell zur ESeC-Klassifikation

Der Soziologe Theodor Geiger (1932) widmete sich als einer der ersten Wissenschaftler in den 30er Jahren des vergangen Jahrhunderts der Schichtanalyse der westeuropäischen Gesell-schaft. Seine Annahme war, dass sich Individuen nach äußeren Merkmalen, z.B. Berufsposi-tionen, und nach inneren Merkmalen, z.B. Persönlichkeitsvariablen, zu bestimmten Gesell-schaftschichten zusammenfassen lassen, die sich in bestimmten Privilegien und Benachteili-gungen unterscheiden. Die Schichtanalyse geht davon aus, dass Individuen in ähnlichen Le-bensbedingungen ähnliche Lebenserfahrungen machen und dass die äußere Lebenslage daher einen gewissen Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung und auf das Verhalten der Indivi-duen hat (Geißler, 2002, 2004). Seiner Meinung nach orientiert sich die Schichtzugehörigkeit in aller Regel an der Berufsposition und am höchsten Schulabschluss als Berufsqualifikation, da eine hohe Berufsposition in der Regel eine gute schulische und berufliche Qualifikation voraussetzt, ein vergleichsweise hohes Einkommen sichert, zu einem hohen Sozialprestige und zu einem großen Einfluss führt (ebd., 2002). Diese Vorstellung von Schichtzugehörigkeit hat bis heute ihre Gültigkeit behalten. In den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhun-derts versuchten weitere Sozialwissenschaftler diesen Grundannahmen verschiedene Modelle zugrunde zu legen. Ein bekanntes dreiteiliges Modell aus dieser Zeit ist das sogenannte

bel-Modell, welches nach Karl Martin Bolte auch als Bolte-Zwiebel bezeichnet wurde. In den 60er Jahren fand dieses Modell zur Einteilung der bundesdeutschen Bevölkerung in verschie-denen Gesellschaftsschichten große Beachtung (ebd., 2004). Dieses Modell teilte die Bevöl-kerung in eine Oberschicht, in eine obere, mittlere und untere Mittelschicht und in eine Unter-schicht ein. Seither wurden GesellschaftsUnter-schichten auch als Gesellschaftsklassen im nicht marxistischen Sinne bezeichnet, um Individuen nach ihrer Berufsposition, ihrem Qualifikati-onsniveau, ihrem Einkommen und ihrem Besitz in bestimmte Gruppen zu zuordnen. Dahren-dorf (1965) griff diese Idee auf und entwickelte aus dem Zwiebelmodell das bekannte Haus-modell der sozialen Schichtung weiter. Im HausHaus-modell unterschied Dahrendorf sieben Schichten: Im Dachgeschoss war eine kleine Elite angesiedelt (< 1%). Im Obergeschoss resi-dierten die obere Bürokratie (12%) und der alte Mittelstand der Selbstständigen (20%). Zwi-schen dem Obergeschoss und dem Erdgeschoss war die Arbeiterelite (5%) sesshaft geworden.

Im Erdgeschoss befanden sich die einfachen Arbeiter (45%) und die Dienstleistungsberufe (12%). Der Keller des Hauses wurde von der sogenannten Unterschicht, z.B. Langzeitarbeits-lose oder Sozialhilfeempfänger, (5%) bewohnt.

Rainer Geißler entwickelte in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts dieses Modell zu ei-nem erweiterten Hausmodell weiter und differenzierte die einzelnen Schichten genauer. Die Machtelite im Dachgeschoss des Hauses ist gleich geblieben (< 1%). Die Schicht der Büro-kraten und Dienstleister ist in den vergangenen Jahren stark angestiegen und wird nun in eine höhere (23%), in eine mittlere (22%) und in eine ausführende Dienstleistungsschicht (9%) aufgeteilt. Der selbstständige Mittelstand ist gleichzeitig stark geschrumpft (7%). Hinzuge-kommen ist der ausländische Mittelstand (2%). Der Anteil der Landwirte ist relativ gering (1%). Die Arbeiterelite ist ebenfalls etwas zurückgegangen (2%). Die übrige Arbeiterschicht setzt sich aus deutschen (14%) und ausländischen Facharbeitern (2%) sowie ungelernten deutschen (12%) und ungelernten ausländischen Arbeitern (6%) zusammen (ebd., 2002, 2004). Aufgrund der zunehmenden sozialen Mobilität und verbesserten Bildungschancen sind die Trennungslinien zwischen den einzelnen Schichten und sozialen Milieus nicht mehr starr und können durch entsprechende Bildungsangebote und berufliche Veränderungen leichter durchbrochen werden (Erikson, 1989). Die Etagen und Räume des erweiterten sozialen Hausmodells sind nicht streng gegeneinander abgeschottet, sondern Durch- und Übergänge ermöglichen häufiger als früher ein offenes Wohnen. Die einzelnen Berufspositionen des er-weiterten Hausmodells werden durch das international gültige Erikson-Portocarero-Goldthorpe-Schema (EPG) erfasst (Goldthorpe, 1980, 1983; Erikson, & Goldthorpe, 1992).

Mit seiner Hilfe lässt sich die Entwicklung einer industriellen Gesellschaft und deren Wandel

zur Dienstleistungsgesellschaft anhand der Expansion oder Schrumpfung einzelner Klassen exakt nachzeichnen und analysieren. Dabei werden die Berufe der Erwerbstätigen nach be-stimmten Kriterien, z.B. Art der Tätigkeit, Weisungsbefugnisse, Anforderungsniveau, zu Klassen zusammengefasst, ohne dass hierbei die Hierarchisierung der einzelnen Klassen im Vordergrund steht.

Ein Problem des EPG-Schemas besteht allerdings darin, dass es den Anspruch hat, in ganz Europa gültig zu sein, aber nur für Großbritannien validiert wurde. Varianten für einzelne andere Länder werden in Anlehnung an das britische Model, ohne entsprechende Validierung für das betreffende europäische Land, weitgehend auf der Grundlage informeller Plausibilität erstellt. In diesem Zusammenhang werden beispielsweise in Deutschland oft zusätzliche In-formationen zur Stellung im Beruf oder im Betrieb zur Generierung dieses Klassenschemas herangezogen, die es in dieser Detailliertheit in vielen anderen europäischen Ländern nicht gibt. Die Folgen sind unterschiedliche Operationalisierungen in den verschiedenen Ländern zur Erfassung der Berufspositionen in Europa (Müller, Wirth, Bauer, Pollak & Weis, 2006).

Aus diesem Grund hat ein aus neun europäischen Forschungseinrichtungen bestehendes Kon-sortium12, unter der Leitung von David Rose aus Essex, eine Weiterentwicklung des EPG-Schemas in eine neue europäisch gültige und valide berufliche Klassifikation als European Socio-economic Classification (ESeC) vorgenommen (ebd., 2006). Sie geben folgendes Pro-jektziel für die neue Klassifikation an: „...die vergleichende Analyse sozialer Disparitäten in Europa durch eine Systematisierung der Operationalisierung zu verbessern und die neue Klas-sifikation einer gründlichen Validierung in mehreren Ländern mit unterschiedlichen, nationa-len wie internationanationa-len Datensätzen zu unterziehen“ (ebd., S.111). Das ESeC ist in der fol-genden Tabelle dargestellt:

12 Dieses europäische Konsortium wurde in Deutschland durch das Mannheimer Zentrum für Europäische Sozi-alforschung (MZES) zusammen mit dem Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen (ZUMA) vertreten.

Tabelle 1: Klassifikationsschema des „European Socio-economic Classification” (ESeC)

ESeC Stellung im Erwerbsleben Regulierung des

Beschäftigungs -verhältnisses

Vertei-lung in % Englische

Klassenbe-zeichnungen

Diese Klassen enthalten u.a.

1 Large employers, higher grade professional, administrative and managerial occupations (higher salariat)

Höhere Professionen und Ingenieure, lt. Ver-waltungs- und Managementberufe, höhere technische Berufe

Dienstverhältnis 9.9

2 Lower grade professional, ad-ministrative and managerial occupations and higher grade technician and supervisory occupations (lower salariat)

Semi-Professionen; Lehrer, gehobene Verwal-tungs- und Managementberufe, höhere techni-sche Berufe

Dienstverhältnis 24.3

3 Intermediate occupations Qualifizierte Büro-, Dienstleitungs- und Handelsberufe

Mischtyp 12.6

4 Small employers and self-employed (except agriculture)

Inhaber von Kleinbetrieben, Selbstständige (ohne Landwirte)

- 7.1

5 Small employers and self-employed (in agriculture)

Selbstständige Landwirte - 0.6

6 Lower supervisory and lower technician occupations

Vorarbeiter, Meister, Techniker Mischtyp 10.8

7 Lower clerical, services & sales occupations

Einfache Büro-, Dienstleitungs- und Handels-berufe

Arbeitskontrakt 9.2 8 Lower technical

occupa-tions

Facharbeiter Arbeitskontrakt 12.3

9 Routine occupations Un- und angelernte Arbeiter Arbeitskontrakt 13.2 Datenquelle: Müller, Wirth, Bauer, Pollak, & Weis, 2006, ZUMA-Nachrichten, 59, 2006. S.112. Erwerb und Bewertung beruflicher Qualifikationen von Erwerbstätigen. BIBB/IAB Strukturerhebung 1998/1999. Anzahl:

33598 erwerbstätige Personen. Eigenes Tabellenformat.

Wie aus der Tabelle ersichtlich wird, bezieht sich die Klassenzuordnung auf die Stellung im Erwerbsleben und auf die Regulierung des Beschäftigungsverhältnisses. Mit der Stellung im Erwerbsleben wird das soziale Ansehen einer beruflichen Profession einer Person in Abhän-gigkeit von ihrer schulischen und beruflichen Qualifikation beschrieben. Die berufliche Stel-lung umfasst die ESeC-Klassen eins bis neun. Die Klassen eins und zwei beschreiben ein ho-hes soziales Ansehen, die Klassen drei bis sechs ein mittleres soziales Ansehen und die Klas-sen drei bis eins ein eher niedriges soziales Ansehen der beruflichen Position. Bei der Be-schreibung der lohnabhängigen Erwerbstätigen wird zur Regulierung des Beschäftigungsver-hältnisses je nach beruflichem Anforderungsniveau zwischen einem Dienstverhältnis, einem Arbeitskontrakt und einem Mischtypus aus beiden unterschieden. Von einem Dienstverhältnis wird gesprochen, wenn die Arbeitsstruktur sehr komplex ist, die erbrachte Leistung schwer kontrolliert werden kann, die Beschäftigung ein ausgeprägtes aufgabenspezifisches Human-kapital erfordert und hohe spezifische Kompetenzen zur Aufgabenlösung erfordert werden.

Diese Berufsklassen sind in der Regel z.B. durch langfristige Beschäftigungsperspektiven, höhere Einkommen und Einkommenssicherheit, Gehaltssteigerungen und Aussichten auf Be-förderung bei guten Leistungen sowie andere zukunftsgerichtete Elemente und Privilegien zur Loyalitätssicherung definiert. In diesen Bereich fallen vor allem die anspruchsvolleren Berufe des höheren und mittleren Dienstleistungssektors, z.B. Professorinnen und Professoren. Sie

werden durch die Stufen eins und zwei der ESeC-Klassifikation beschrieben. Zur Erforschung der beruflichen Schichten wurde in Deutschland 1998 und 1999 eine Strukturerhebung des Bundesinstituts für Berufsbildung (BiBB) und des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsfor-schung (IAB) an 33598 Beschäftigten durchgeführt. Es zeigte sich, dass 34.2% der Erwerbs-tätigen in Deutschland eine höhere soziale Stellung im Erwerbsleben inne hatten und das Be-schäftigungsverhältnis entsprechend anspruchsvoll und komplex war. Der Mischtyp zur Be-schreibung des Beschäftigungsverhältnisses erfordert einerseits spezifische berufliche Kom-petenzen und anderseits Routinefähigkeiten im mittleren Ausmaß, z.B. Verwaltungsfachleute, oder Meisterinnen und Meister eines Handwerkes. In diese Berufe fallen die ESeC-Klassen drei und sechs. In der Strukturerhebung traf das auf 23.4% aller lohnabhängig Beschäftigten zu. Ein Arbeitskontrakt als Beschäftigungsverhältnis liegt vor, wenn die Arbeitsleistung ein-fach strukturiert, unmittelbar kontrolliert und quantifiziert werden kann und keines hohes spe-zifisches Wissen und Können erfordert, sondern vor allem auf Routinetätigkeiten beruht, z.B.

un- oder angelernte Arbeiterinnen und Arbeiter. Dazu gehören die ESeC-Klassen sieben bis neun. In der BIBB/IAB Strukturerhebung waren dass 36.5 % der Erwerbstätigen. Wie aus diesen Daten ersichtlich wird, war die Verteilung zwischen den Beschäftigten, die eine eher anspruchsvolle berufliche Tätigkeit ausübten und den Arbeiterinnen und Arbeitern, die eher einfache manuelle berufliche Tätigkeiten ausübten, relativ ausgewogen. 7.7% der Erwerbstä-tigen waren in dieser Untersuchung selbstständig und konnten keinem Beschäftigungsverhält-nis zugeordnet werden.