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Gegenwärtige Betrachtung der Heilpädagogik im Spiegel der Menschenrechte

2.3 H EILPÄDAGOGIK – R EKONSTRUKTION EINES HISTORISCHEN P ROBLEMBEGRIFFS

2.3.4 Gegenwärtige Betrachtung der Heilpädagogik im Spiegel der Menschenrechte

Ab 1945 nahmen die Bestrebungen um Menschen mit Behinderung eine klare Form an und wurden schrittweise etabliert. Zuerst wurde 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verfasst. Darauf folgten 1979 die Frauenrechtskonvention, 1989 die Kinderrechtskonvention und schließlich 2008 die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK)12 in Österreich. Ein Zentraler Aspekt hinsichtlich der Teilhabe und Bildungschancen für Menschen mit Behinderung in dieser Konvention sieht „die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit […] auf Grundlagen von Chancengleichheit […] [und stärkerer] Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten“ (Biermann u. Pfahl, 2016: 200) vor. Die UN-BRK stellt damit den „Höhepunkt einer Präzisierung des Rechts auf Bildung [dar, die] seit den 1990er Jahren [als] Entwicklung zum Aufbau inklusiver Bildungssysteme auf internationaler Ebene“

(Peters zit. n. ebd.: 201) ständig voranschreitet. In der UN-BRK ist vor allem auch das Recht auf gleiche Bildungschancen für Menschen mit Behinderung verankert. Diese sollen im vollen Umfang der Wahrung ihrer Würde und dem Recht auf Teilhabe die Möglichkeit auf

12 BMSGK UN-Behindertenrechtskonvention 2016, 15. 06. 2016, Teil III

barrierefreien Zugang zu Bildung erhalten. Dieser Zugang kann folglich nur durch ein inklusives Verständnis von Bildung erreicht werden, sodass Diskriminierung abgebaut und angemessene Vorkehrungen bereitgestellt werden. Während integrative Maßnahmen zwar das Recht auf Teilhabe behinderter Menschen bestärken, fehlt es hier jedoch an entsprechenden Aspekten, die den zur ungehinderten Teilhabe notwendigen Abbau von Differenzen beseitigt.

Lisa Pfahl und Julia Biermann zufolge ist dies die zentrale Aufgabe von Inklusion. Sie schreiben:

„Ein Schulsystem, in dem Schüler_ […] [innen] mit Behinderung in der Regel an separaten Schulen unterrichtet werden, steht im Widerspruch zum Recht und Prinzip der Inklusion, nach welchem das Schulsystem die individuellen Bedürfnisse berücksichtigen und sich an diese anpassen muss – und nicht umgekehrt das Individuum an das Schulsystem und seine Strukturen“ (Biermann u. Pfahl, 2016).

Auch wenn sich die beiden Autorinnen hier auf das schulische Bildungssystem beziehen, kann die formulierte Vorstellung einer Inklusiven Pädagogik auf alle Bereiche (sozial-) pädagogischer Tätigkeit mit Behinderten oder von Behinderung bedrohten Menschen übertragen werden. Ein weiterer zentraler Kern inklusiver Pädagogik sind paradoxerweise die Differenzen. Es ist gerade die unausweichliche Heterogenität der Gesellschaft, die zugleich deren Vielfalt ausmacht und auf der der Inklusionsgedanke fußt. Alle Menschen sind unabhängig ihrer kognitiven oder körperlichen Konstitution besonders, haben spezielle Talente, Vorlieben, Eigenschaften und Fehler. Einem Individuum auf Grund dieser Eigenschaften gesellschaftliche Kreditwürdigkeit zuzuschreiben oder sie ihm zu verwehren, ist in hohem Maße diskriminierend. Durch ein normiertes Schulsystem, das vorgefertigte Wissenspakete stellt, werden jedoch genau diese Gedanken der heterogenen Vielfalt erstickt. Es geht folglich um eine aktive Auseinandersetzung mit Differenzen zwischen den Menschen (vgl. Cook et al.

zit. n. Biermann u. Pfahl, 2016: 203) und eine wertschätzende Anerkennung der Unterschiede.

Damit kann im Umkehrschluss gefolgert werden, dass das Ziel Inklusiver Bildung die Befreiung der Menschen aus diskriminierenden Verhältnissen ist und ihnen eine Eingliederung in ein Leben in Würde, Teilhabe und Selbstbestimmung ermöglichen soll, das sich auf ihre Bedürfnisse ausrichtet. Mit dieser Betrachtung würden Kategorien wie normal und abnormal verschwinden, da die Curricula der mächtigen Institutionen ihre Wirkkraft aufgeben müssten.

Zusammenfassend kann demnach konstatiert werden, dass die Geschichte der Heil- bzw.

Sonderpädagogik eine ist, die sich zwischen der praktischen Tätigkeit und den nachgereihten

Theorien zusammen- und auseinander setzt. So kommt es nicht von ungefähr, dass die Begriffe sich nicht einheitlich und vor allem nicht eindeutig fassen lassen. Es sind spezifische Erfahrungen verschiedener Zeiten, in denen ein jeweils anderer Umgang und damit auch eine Beurteilung von Menschen mit Behinderung gepflegt wurde, woraus sich sodann auch verschiedene Ansätze einer Konstitution des Begriffes ergeben haben. Folgt man dabei den Entwicklungen, die aus den USA nach Europa übergeschwappt sind,13 wird klar, was das zentrale Anliegen Heilpädagogischer Familienhilfe auch heute noch ist. Nämlich die Stärkung der Familien, sodass diese ihre Leben bestmöglich ohne fremde Unterstützungshilfe bewältigen können, auch wenn diese Tätigkeit, wie sie heute verstanden wird, geschichtlich in dieser ambulanten Form noch relativ jung ist. Auf diese Weise betrachtet dürfen der Begriff Heilpädagogik und die damit verbundenen Tätigkeiten nicht von jeher als isolierte Phänomene gesehen werden, sondern müssen als ein durch Zeit und Geschichte geformter ambivalenter Problembegriff betrachtet werden.

13Auch wenn die Heilpädagogische Familienhilfe ihre heutige Form erst ab den 1970er Jahren angenommen hat, haben Hilfstätigkeiten dieser Art ihren Ursprung im letzten Viertel des 19.Jahrhunderts. So kam es etwa ab 1883 in England, aber vor allem in den USA, zur Etablierung s.g. Settlements. Dies waren Wohngemeinschaften von jungen Akademikern, die eine Verbesserung der Lebenssituationen in den Armenvierteln suchten. Sie verfolgten dabei ein dreistufiges System, das durch eine Verbesserung der Infrastrukturen des Armenviertels durch alltägliche Hilfeleistungen wie Krabbelstuben, Kindergärten und Schulspeisungen aber auch durch die Anleitung von Müttern, wie sie ihren Haushalt besser strukturieren konnten, zu einer Verbesserung in den Armenvierteln beitragen sollte. Zudem sollte der Druck auf die Politik und die Organisation von Gewerkschaften das Leben der Menschen verbessern. Darüber hinaus sollten besonders bedrohte Gruppen wie Frauen und Kinder durch eine Hilfe zur Verbesserung des Arbeitsschutzes und die Einführung von Mindestlöhnen zusätzlich geschützt werden. (Vgl. Nielsen et. Al. 1986: 19) Zudem erhielt die Versorgung der Armenviertel schließlich durch die Gründung eines eigenen, kostenlosen Hauskrankenpflegedienstes, in der Henry Street 256 in New York im Jahre 1893 durch die beiden Krankenschwestern Lillian D. Wald und Mary Brewster einen entscheidenden Schritt nach vorne. Diese voll ausgebildeten Krankenschwestern erlebten die Lebensverhältnisse der Mütter und Kinder in den Armenvierteln als ein unvorstellbares Elend. So beschlossen sie „unter Beachtung größtmöglicher Würde und Unabhängigkeit der Patienten und unter dem Gesichtspunkt, dass auch […] [sie] etwas zur Verbesserung dieses Wohngebietes“

(Müller zit n. Nielsen et al. ebd.) beitragen konnten, tätig zu werden. Das Hauptanliegen war dabei zunächst, die medizinische Versorgung zu sichern. Durch die steigenden Zahlen der Inanspruchnahme, sowie die zunehmende Überlastung der Krankenhäuser, waren die Gründerinnen jedoch gezwungen, ihre Arbeit um Lehrtätigkeiten zu erweitern. So sollten die nicht betroffenen Familienmitglieder unterwiesen werden, die pflegerischen Tätigkeiten schrittweise zu übernehmen, um so nicht nur eine Entlastung des Krankenkassensystems herbeizuführen, sondern zugleich den Familien die Möglichkeit auf ein würdevolles Leben zu ermöglichen. Der Fokus war dabei vor allem auf die Zusammenarbeit mit der sozialen Gemeinde gerichtet. Die Menschen sollten nicht von außen kontrolliert werden, sondern selbst zur Lösung ihres Problems beitragen. Selbst die Lösung ihres Problems werden. Dieser Ansatz ist vergleichbar mit heutigen Empowerment- Bestrebungen, die auf eine Bemächtigung der Betroffenen und deren Familien bzw. sozialen Nahfelder legte, ganz nach dem Prinzip Hilfe zur Selbsthilfe. Später wurde dieses Konzept von Alice Solomon übernommen und für Deutschland modelliert. Ihr zufolge ging es nicht nur darum, dass die Krankenpflegerinnen in ihren Bemühungen möglichst engagiert waren, sondern eben auch darum wie die Klient_innen die Hilfsangebote annahmen. Dabei forcierte sie einen Ansatz, der auf Gegenseitigkeit beruhte

„[D]ie Kunst zu helfen hinge mit der Kunst zu lehren eng zusammen“ (ebd. 22). Somit entfaltete sich ihr zufolge der Kern dieser Hilfeleistung erst vor dem Hintergrund einer interaktiven Kooperation zwischen Helfenden und den Hilfesuchenden.

3 Behinderung – Ein Problembegriff im Spiegel rechtlicher und

gesellschaftlicher Normzwänge