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2.2 Begriffsbestimmung

2.2.3 Funktionen von Noten

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anhand folgender Problemsituationen: „Ein Schüler hat bereits einen gültigen Lehrvertrag.

Durch die Note ‚mangelhaft‘ im Fach Deutsch würde ihm der Abschluss verwehrt bleiben“ oder

„Eine Schülerin ist extrem schüchtern und ängstlich. Durch eine gezielte Ermutigung ist es der Lehrerin gelungen, sie zu einer gelegentlichen Beteiligung am Unterricht zu bewegen. Die so-zialen Kontakte zu den Mitschülern haben sich ebenfalls verbessert.“ (S. 458) Zum Ende des Schuljahres fragt sich die Lehrerin, ob sie der Schülerin zur Stabilisierung ihrer Persönlichkeit in den Fächern Erdkunde und Mathematik die Note „ausreichend“ geben soll, obwohl dies weder von der mündlichen Mitarbeit in den beiden Fächern noch von den schriftlichen Arbeiten im Fach Mathematik gerechtfertigt wäre (Lüders, 2001). Bei der Mathematiknote ist die Leh-rerin dadurch verunsichert, dass die Schülerin Aufgaben, die sie im Unterricht erfolgreich be-wältigt, in der Arbeit falsch rechnet (Lüders, 2001). Die aufgezeigten Beispiele verdeutlichen die Problematik der Vermengung verschiedener Aspekte und der daraus resultierenden man-gelhaften Akkuarität des Notensystems auf eindrückliche Weise, worauf im Folgenden einge-treten werden soll.

2.2.3 Funktionen von Noten

Wie schon erwähnt, geben Noten nicht nur die Schulleistung wieder, sondern sind auch Ergeb-nis der sie bedingenden Funktionen, was teilweise nicht nur akzeptiert, sondern gar gewollt ist.

Dies impliziert, dass Schule somit mitunter auch funktional definiert ist (Lübke, 1996). Dies führt dazu, dass die Institution Schule bestimmte Aufgaben respektive Funktionen wahrnimmt, was zur Konsequenz hat, dass in der Literatur zahlreiche Publikationen existieren, die verschie-dene Funktionen von Schulnoten erwähnen und diese als Klassifizierungsschema verwenden (Sacher, 2001; Zielinski, 1974). Sacher (2001) spricht von einer Selektionsfunktion, Stigmati-sierungsfunktion, Sozialisationsfunktion, Legitimationsfunktion, Kontrollfunktion, Prognose-funktion, InformationsPrognose-funktion, RückmeldePrognose-funktion, DisziplinierungsPrognose-funktion, Lehr- und Lerndiagnosefunktion und einer Lern- und Leistungserziehungsfunktion. Lintorf (2012) er-wähnt, dass die vielfältigen Funktionen der Schulnoten sich grob zwei Oberbegriffen zuordnen lassen. Je nach Verfasser der Abhandlung werden sie unterschiedlich betitelt. So sprechen Till-mann und Vollstädt (2000) oder Tent (2006) von einerseits pädagogischen und andererseits gesellschaftlichen Funktionen der Schulnoten. Shepard (2000) dagegen teilt Schülerbeurteilun-gen in solche mit summativer und solche mit formativer Funktion ein (Lintorf, 2012). Zu den gesellschaftlichen Funktionen zählen alle mit den Noten einhergehenden Funktionen, bei denen

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die Schülerbeurteilung die Grundlage für gesellschaftsrelevante Entscheidungen ist (Lintorf, 2012). Klafki (1971) schreibt diesbezüglich, dass diese wesentlich am Leistungsprinzip orien-tiert seien und den deutlichsten Ausdruck im Benotungs- und Zeugnissystem fänden. Lintorf (2012) sieht die vordringlichste gesellschaftliche Funktion in der Selektions- oder Allokations-funktion der Schule.

Die Schulnoten der Volksschule berechtigen oder verweigern den Aufstieg in die nächst höhere Klassenstufe, den Besuch einer bestimmten Schulform des Sekundarschulwesens und den Zu-gang zur Hochschule bzw. zu einem bestimmten Berufszweig mit den damit verbundenen ge-sellschaftlich anerkannten Positionen (Lintorf, 2012). Lintorf (2012) schreibt bezüglich der Prognosefunktion unter Bezugnahme auf Tillmann & Vollstädt (2000), dass der Gedanke einer leistungsgerechten Auslese basierend auf dem Leistungsprinzip möglich werden soll, was die vom Schulsystem geforderte Zuweisung und Laufbahnentscheidungen nach einem als gerecht geltenden Kriterium zur Folge habe (Lintorf, 2012). Das Leistungsprinzip steht auch mit der Sozialisations- bzw. Qualifizierungsfunktion von Schulnoten in Verbindung (Lintorf, 2012).

Leistungsbewertungen sollen dazu beitragen, bei den Schülern „das Kriterium der inidividuel-len Leistung als gerechten Maßstab zu Verteilung unterschiedlicher Lebenschancen zu inter-nalisieren“ (Tilmann & Vollstädt, 2000). Lintorf (2012) mit Bezugnahme auf Sacher (1994) folgert daraus, dass die diesbezügliche Leistungsorientierung unserer Gesellschaft an junge Menschen weitergegeben werden soll um so Akzeptanz für Leistungszertifikate zu schaffen und somit den Erhalt der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung zu sichern (Lintorf, 2012).

Tillmann & Vollstädt (2000) und Sacher (1994) erwähnen, dass gleichzeitig die Identifikation mit diesen Zielen auch einen Anreiz bieten soll, eigene gesellschaftliche Ziele anzustreben und die dafür erforderlichen Leistungen zu erbringen in Form von Qualifizierungsmaßnahmen (Lin-torf, 2012). Im weitesten Sinne kann zu den gesellschaftlichen Funktionen auch die Berichts-funktion gezählt werden, wobei Tillmann & Vollstädt (2000) oder Rieder (1990) präzisieren, dass der deutsche Sprachraum damit meist eine Rückmeldung an die Eltern und Schüler meinen und die Berichtsfunktion so den pädagogischen Funktionen zugeordnet werden kann (Lintorf, 2012). Lintorf (2012) unter Bezug auf Resnick & Resnick (1996) präzisiert, dass die englische Literatur darunter eine Rechenschaftsablegung gegenüber der Öffentlichkeit verstehe, die der Qualitätssicherung diene.16 Lintorf (2012) schlussendlich subsumiert unter pädagogischen

16 Unter dem Begriff accountability kennzeichnet sie ein Rechenschaftsprinzip, demgemäß alle an der schulischen Bildung und Erziehung beteiligten Personen der Öffentlichkeit für ihre Handlungen Rechenschaft schuldig sind,

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Funktionen somit diejenigen Funktionen, bei denen die Schülerbeurteilung die Grundlage für Entscheidungen bietet, mit denen dem Lernenden die Möglichkeit zum Lernfortschritt und zur Optimierung des Lehr-Lern-Prozesses geboten wird. Des Weiteren ist die Rückmeldefunktion- bzw. Berichtsfunktion, welche dem Individum Auskunft bezüglich seines Standes gibt, und die Anreizfunktion oder Disziplinierungsfunktion zu nennen, welche auch motivationale Ausrich-tungen zu fördern vermögen (Lintorf, 2012). Der hier wiedergegebene Überblick über die der Schülerbeurteilung zugedachten Funktionen verdeutlicht, dass diese ausserordentlich vielfältig sind. Diese Vielfalt geht so weit, dass Sacher (1994) von einer funktionalen Überfrachtung der Schulpraxis spricht und anzweifelt, dass man angesichts einer solchen Fülle allen Funktionen in gleicher Weise gerecht werden kann. Letztlich ist auch die Perspektive der notengebenden Personen mitzuberücksichtigen, stellen doch die erwähnten Funktionen der Notengebung nicht eine empirische Grundlage dar, sondern sind intuitive und normative Funktionsbeschreibungen, die von Lehrern nicht unbedingt geteilt werden müssen (Lintorf, 2012). Tatsächlich stehen für Lehrer wie für Eltern die pädagogischen Funktionen im Vordergrund: Aus der Sichtweise von Haupt- und Grundschullehrkräften sowie Lehramtskandidaten spielen die Funktionen der Rückmeldung an die Schüler, aber auch an ihre Eltern sowie die Motivierungsfunktion die wichtigsten Rollen (Lintorf, 2012). Eine Disziplinierungsfunktion wird den Noten höchst selten zugeschrieben (vermutlich auch weil dies sozial unerwünscht ist), während die Selektionsfunk-tion immerhin noch eine mittlere Wichtigkeit hat (Krampen, 1984). Diese Ansichten sind weit-gehend kongruent mit der Sichtweise von Eltern (Valtin & Schmude, 2002).

Bezüglich der konkreten Funktionen von Noten im Hochschulbereich erwähnen Metzger &

Nüesch (2004) unter Bezugnahme auf Bloom, Hastings & Madaus (1971), dass Prüfungen grundsätzlich zwei unterschiedliche Zielsetzungen verfolgen beziehungsweise verschiedene Funktionen zu erfüllen haben: erstens eine Lenkungsfunktion, indem sie Lernprozesse und Lehrprozesse durch differenzierte Kontrollen, Rückmeldungen und Hilfen begleiten und unter-stützen, zweitens den Kompetenznachweis respektive die Selektion, um Betroffene und Inte-ressierte über nachgewiesene Kompetenzen zu informieren zum Zwecke der Zulassung, Zu-weisung und WegZu-weisung. Bezüglich der konkreten Anforderungen an Prüfungen wird in An-lehnung an AERA, APA, NCME (2002); Baker, Linn & Herman (1996); Lienert (1989); Linn

& Gronlund (1995) und Messick (1994) gezeigt, dass Prüfungen den vier Bedingungen der

wohingen der von Wheeler & Haertel (1993) ebenso gebräuchliche Begriff monitoring stärker auf eine Fort-schrittskontrolle abzielt, wobei beide Begriffe sich allerdings eher auf die Leistungsbeurteilung im Allgemeinen und weniger auf Schulnoten beziehen (Lintorf, 2012).

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Gültigkeit, Chancengerechtigkeit (Fairness), Zuverlässigkeit und Ökonomie zu entsprechen ha-ben (Metzger & Nüesch, 2004).

Wie gezeigt wurde, sind mit Noten Funktionen verbunden beziehungsweise fallen den Noten Aufgaben zu, wobei Funktionen von Noten wiederum eingebettet sind in ein Bildungssystem, dem ebenso Funktionen zukommen. Schumann (2006) unterteilt die Funktionen für Bildungs-systeme in eine Qualifikationsfunktion, eine Selektionsfunktion, eine Legitimations- und Integ-rationsfunktion, eine Absorptionsfunktion und eine Korrekturfunktion.17 Wenn man sich mit Funktionen von Bildungssystemen, wie gerade der Vollständigkeit halber gezeigt, respektive spezifischer mit Noten auseinandersetzt, stellt sich unweigerlich auch die Frage der Legitima-tion eben dieser FunkLegitima-tionen, sowohl für die Gesellschaft als auch für das Bildungssytem selbst respektive deren Akteure. Noten mit den ihnen verbundenen Funktionen müssen von Lehrper-sonen als legitim empfunden werden. Ausdruck der Legitimation der unterschiedlichen Funk-tionen nicht nur auf übergeordneter gesellschaftlicher Ebene, sondern auch auf schlichter No-tenebene lässt sich in den unterschiedlich vorhandenen Bezugsnormen finden, welche in zahl-reichen Lehrbüchern erwähnt werden (dazu beispielsweise Jäger, 2007 oder Klein, 2009). Klein (2009) gliedert in eine Individualorientierung, Gruppenorientierung und eine Sachorientierung.

Die Individualorientierung orientiert sich am Lernfortschritt des Einzelnen und die Lernleistung wird im Vergleich zu einer vorher erbrachten Leistung betrachtet, die Gruppenorientierung setzt das Leistungsergebnis in das Verhältnis zum durchschnittlichen Leistungsstand der Gruppe res-pektive Klasse und die Sachorientierung, wobei die Leistung daran gemessen wird, in welchem Umfang curriculare Lernziele erreicht und Kompetenzen erworben werden (Klein 2009). Die unterschiedlichen Bezugsnormen werden von Lehrpersonen im Alltag täglich angewandt und führen dazu, dass die alltägliche Praxis diese Bezugsnormen ganz einfach als legitim und ge-geben betrachtet. Die Bezugsnormen führen mitunter auch zu mittlerweile fast schon populär abgehandelten Effekten in der pädagogisch-psychologischen Forschung. So ist beispielsweise

17 Die Qualifikationsfunktion stellt dabei die zentrale Verbindungsstelle zwischen dem Bildungssystem und der Gesellschaft dar und zielt auf die Reproduktion kultureller und zivilisatorischer Systeme, wobei für die allgemein bildende Schule es darum geht, ein derartiges Qualifikationsniveau zu generieren (Schumann, 2006). Schumann (2006) bezieht sich auf Schelsky (1957) der die Selektions- und Allokationsfunktion als eine soziale Dirigierung-stelle darstellt. Die Legitimations- und Integrationsfunktion zielt auf die Reproduktion von kulturellen Normen und Wertemuster ab, darauf wurde auch schon von Weber (1947) & Durkheim (1956) aufmerksam gemacht (Schu-mann, 2006). Dem Bildungssystem kommt auch eine Absorptionsfunktion zu, beispielsweise in der Schweiz das 10. Schuljahr, in welchem Jugendliche, welche sich nicht auf den Arbeitsmärkten durchsetzen, eine Übergangslö-sung finden (Schumann, 2006). Schlussendlich ist auf eine Korrekturfunktion hinzuweisen, die dahingehend zu sehen ist, dass ungünstige Bildungsverläufe zu korrigieren sind (Schumann, 2006).

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der durch Marsh (2005) beschriebene Big-Fish-Little-Pond-Effect (BFLPE) so zu interpretie-ren, dass Schüler durch leistungsschwächere Mitschüler in ihrer Klasse eine stärkere Lernmo-tivation besitzen, da ihre Leistungen dort öfter auffallen, besonders honoriert werden und sie bestrebt sind, ihren Vorsprung zu halten. Dies führt dazu, dass die Leistung innerhalb einer Klasse unmittelbar vom Leistungsniveau der Mitschüler abhängt (Klein, 2009).