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Ein Hauptanliegen dieser Arbeit war die Untersuchung des Zusammenhangs von FGM und der psychischen Gesundheit. Hierzu wurden im theoretischen Teil (s. Kapitel 2) folgende fünf Fragen formuliert:

Ist FGM als traumatisches Ereignis im Sinne des subjektiven A-Kriteriums der PTBS nach DSM-IV zu betrachten? Unterscheiden sich die FGM-Typen diesbezüglich?

Leiden beschnittene Frauen häufiger unter psychischen Störungen wie PTBS, Ängstlichkeit oder Depressivität? Unterscheiden sich die FGM-Typen diesbezüglich?

Unterscheiden sich die verschiedenen Beschneidungstypen hinsichtlich ihrer Symptom-schwere in den Bereichen PTBS, Dissoziation, Ängstlichkeit und Depressivität?

Unterscheidet sich die psychische Gesundheit der FGM-Typen unter Berücksichtigung des Effekts der Anzahl traumatischer Lebensereignistypen?

Hat der FGM-Schweregrad neben anderen psychische Belastungen (Anzahl traumati-scher Lebensereignistypen, familiäre Gewalt) einen negativen Effekt auf die psychische Gesundheit?

5.1.1 FGM als traumatisches Lebensereignis

Um zu entscheiden, ob FGM als traumatisches Lebensereignis im Sinne des DSM-IV gelten kann und inwiefern hier Abstufungen bezüglich des FGM-Typs gemacht werden müssen, wurde der Prozentsatz an Frauen ermittelt, die während des Eingriffs entweder intensive Angst oder Hilflosigkeit empfanden. Anschließend wurden die FGM-Typen hinsichtlich dieser Aspekte verglichen (Hypothese 1a). Weiterhin wurde untersucht, ob die Anzahl der den Eingriff begleitenden, retrospektiv berichteten Gefühle zwischen den Gruppen variierte (Hypothese 1b).

Um Verzerrungen aufgrund der infantilen Amnesie zu vermeiden, wurden Frauen, die bei dem Eingriff unter 3 Jahren waren, ausgeschlossen.

Es zeigte sich, dass weibliche Genitalverstümmelung als traumatisches Lebensereignis im Sinne des subjektiven A-Kriteriums des DSM-IV zu betrachten ist. Die Mehrzahl der Frauen berichtete, den Eingriff in intensiver Angst und/oder Hilflosigkeit erlebt zu haben. Für die verschiedenen FGM-Typen hat sich diesbezüglich kein Unterschied gezeigt und auch in der Anzahl der retrospektiv berichteten negativen Gefühle zeigte sich keine statistisch signifikante Differenz zwischen den FGM-Typen. Es bestand lediglich eine Tendenz, mit der Frauen der Gruppe FGM II/III mehr negative Gefühle nannten und den Eingriff somit tendenziell negativer in Erinnerung behielten als Frauen der Gruppe FGM I.

Dieses Ergebnis untermauert Einzelfallberichte, in denen Frauen von ihrer Erfahrung bezüglich der Beschneidung erzählen (z.B. Dirie, 1999) und repliziert darüber hinaus die Befunde von Stu-dien aus dem arabischen (Chibber et al., 2011; Kizilhan, 2011) und westafrikanischen (Behrendt

& Moritz, 2005) Raum für äthiopische und somalische Frauen. Aus psychologischer Perspektive ist weibliche Genitalverstümmelung unabhängig des Typs als traumatisches Lebensereignis zu betrachten. Es empfiehlt sich, FGM in die Liste der traumatischen Lebenserfahrungen aufzunehmen und in entsprechenden Stichproben im Zuge anderer Ereignisse abzufragen.

Um eine Aussage bezüglich der Traumatisierung durch FGM bei Kindern unter 3 Jahren zu machen, eignet sich die retrospektive Befragung wenig. Dass jedoch auch Neugeborene und Kinder vor dem 3. Lebensjahr das Ereignis in intensiver Angst und/oder Hilflosigkeit erleben, zeigte beispielsweise die Studie von Taddio, Katz, Ilersich & Koren (1997), in der Babies, die nach ihrer Geburt beschnitten wurden, 4 - 6 Monate später bei einer Impfung mehr Stressreaktionen (Gesichtsausdruck und Schreidauer) zeigten als unbeschnittene Babies.

Neugeborene und Kinder in der präverbalen Phase erleben bereits die komplette physiologische Stressantwort, und auch wenn das Ereignis nicht verbalisiert werden kann, werden interne Gedächtnisspuren angelegt, die im Falle weiterer Traumatisierungen verstärkt werden (Review Geansbauer, 2002).

Festzuhalten ist, dass weibliche Genitalverstümmelung ein traumatisches Lebensereignis im Sinne des A-Kriteriums des DSM-IV (APA, 1994) darstellt und als solches in der Forschung, aber auch in der traumatherapeutischen Praxis behandelt werden sollte. In Anbetracht der deskriptiven Ergebnisse zu den subjektiv wahrgenommen physischen Folgen der Beschneidung, kann FGM – insbesondere FGM II/III – auch als eine Form des Frühen Lebensstress interpretiert werden.

Welche Auswirkungen dieses Ereignis auf die psychische Gesundheit hat, wird im Folgenden beantwortet.

5.1.2 FGM und psychische Gesundheit

Um den Zusammenhang von FGM und der psychischen Gesundheit zu untersuchen, wurden zunächst die Häufigkeiten klinisch relevanter Störungen verglichen. Darüber hinaus wurden Gruppenvergleiche der Symptomschwere vorgenommen. Ergänzend wurde der Zusammenhang der Gesamtpsychopathologie mit der Anzahl traumatischer Lebensereignisse graphisch dar-gestellt und die FGM-Typen abgetragen. Anschließend wurden Modelle berechnet, die die Symptomschwere für PTBS, Ängstlichkeit, Depressivität und die Gesamtpsychopathologie anhand des FGM-Schweregrades sowie der Anzahl traumatischer Lebensereignisse und der familiären Gewalt vorhersagen.

5.1.2.1 FGM und psychopathologische Symptome im klinisch relevanten Bereich

Entgegen der Erwartungen zeigte sich kein signifikanter Unterschied zwischen nicht beschnit-tenen Frauen und Frauen der Gruppe FGM I hinsichtlich der Diagnosen PTBS und Major Depression sowie der Ängstlichkeits- und Depressivitätssymptomatik im klinisch relevanten Bereich. Die Gruppen FGM I und FGM II/III unterschieden sich jedoch trotz gleicher Anzahl traumatischer Lebensereignistypen bezüglich der letztgenannten Störungen: In der Gruppe FGM I liegt die Prävalenz für PTBS und Major Depression bei 0%. Eine Ängstlichkeitssyptomatik im klinisch relevanten Bereich wies ebenfalls keine dieser Frauen auf. Symptome der Depressivität

im klinisch relevanten Bereichen lagen bei 13.3%. Bei 18.4% der nach Typ II/III beschnittenen Frauen wurde eine PTBS diagnostiziert und 12.6% erhielten eine Diagnose für Major Depression nach DSM-IV. Unter Ängstlichkeitssymptomen im klinisch relevanten Bereich litten 13.8%.

Klinisch relevante Symptome der Depressivität zeigten sich bei 28.7%. Erwartungsgemäß unterschied sich auch die Gruppe FGM II/III von nicht beschnittenen Frauen hinsichtlich dieser Störungen.

Substanzmissbrauch und -abhängigkeit sowie psychotische Störungen traten in allen Gruppen gleichermaßen und sehr selten auf, so dass an dieser Stelle keine Unterschiede zwischen den Gruppen festzuhalten sind.

Verglichen mit den wenigen Studien, die bisher im Bereich FGM und psychische Gesundheit vorliegen, weist diese Stichprobe eher eine geringe Häufigkeit psychischer Störungen im kli-nisch relevanten Bereich auf, obwohl die vorliegenden Untersuchung die schwerste Form der Beschneidung mit untersucht und die Somali Region zu einer der, wie im Theorieteil dargestellt, vulnerablen Regionen Afrikas zählt. Bevor dies im Weiteren diskutiert wird, soll zunächst ein Überblick aller bisherigen Studien zum Thema FGM und psychische Gesundheit gegeben werden.

In Tabelle 5.1 sind deren Prävalenzraten für PTBS und Affektstörungen abgetragen.

Tab. 5.1: FGM und psychische Gesundheit: Diagnosen und Symptome im klinisch relevanten Bereich

Störung Instrument Prävalenz (%) FGM Quelle

PTBS

PSS-I 0, 18.4 FGM I, FGM II/III hier, Nges = 167

CPTSD-RI 44.3 FGM I/IIa Kizilhan (2011),N ges= 140

M.I.N.I. 30 v.a. FGM II/III Chibber et al. (2011),N ges= 4800

M.I.N.I. 30.7 nnb Behrendt & Moritz (2005),N

ges = 47

Affektstörungen

DHSCL 13.3, 18.7 FGM I, FGM II/III hier, Nges = 167

DIPS 33.75 FGM I/IIa Kizilhan (2011),N ges= 92

M.I.N.I. 58 v.a. FGM II/III Chibber et al. (2011),N ges= 4800

M.I.N.I. 21.7 nnb Behrendt & Moritz (2005),N

ges = 47

a 70% FGM I und 30% FGM II - keine separaten Analysen, vorliegend, Information auf Anfragen; nnb, nicht näher bezeichnet

Für PTBS liegen die Prävalenzen bei Mädchen im Nordirak, bei denen 30% FGM II und 70% FGM I berichten, mit 44.3% am höchsten (Kizilhan, 2011). Etwa für ein Drittel der beschnittenen Frauen der Stichprobe aus Kuwait (FGM II und FGM III) und im Senegal (nicht näher bezeichnet) wurde eine PTBS-Diagnose gestellt. In der vorliegenden Untersuchung liegen die Prävalenzen, vor allem für die Gruppe der nach Typ I beschnittenen Frauen mit 0%, aber auch für die Gruppe der nach Typ II/III beschnittenen Frauen, mit 18.4% relativ weit darunter.

Ähnlich verhält es sich mit den Prävalenzen zu Affektstörungen.

Verschiedene Punkte könnten für diese Inkonsistenz ausschlaggebend sein. Verzerrungen durch kleine, nicht repräsentative Stichproben und Rekrutierungsverfahren, die die Prävalenz unter-oder überschätzen, sind sowohl für die vorliegende als auch für die von Kizilhan (2011) und Behrendt & Moritz (2005) durchgeführten Studie nicht auszuschließen. In der Untersuchung von Chibber et al. (2011) mit 4800 Frauen, die laut Autoren repräsentativ für die weibliche Gesamtbevölkerung (in der gebärfähigen Phase) ist, bedarf der Befund, dass keine der nicht beschnittenen Frauen unter PTBS leidet, jedoch einer Replikation. Verzerrungen aufgrund von Anti-FGM-Überzeugungen können in keiner der vorliegenden Studien ausgeschlossen werden.

Stigmatisierung und die Identifikation mit der Opferrolle könnten ebenfalls zu erhöhten Präva-lenzen beitragen. Im Unterschied zu den anderen Studien handelt es sich bei der vorliegenden Untersuchung um eine Stichprobe, in der die Mehrzahl der Frauen beschnitten wurde und in der der Eingriff eine Art Aufnahmebedingung in die Gesellschaft darstellt. Inwiefern die Normalisierung des Eingriffs als Schutzfaktor wirken könnte, müsste zunächst in weiteren Untersuchungen abgeklärt werden.

In der vorliegenden Untersuchung könnte auch PTBS-bedingtes Vermeidungsverhalten zu einer Unterschätzung der Prävalenzen führen. Die Frauen wussten, dass es sich um ein Interview zu FGM handelt. Gehört FGM jedoch zu dem zu vermeidenden Ereignis der Frau im Sinne das C-Kriteriums (Vermeidung) des DSM-IV (APA, 1994), wird die Teilnahme an dem Interview von vornherein abgelehnt.

Um jedoch letztendlich verlässliche Prävalenzangaben zu erhalten sind empirische

Untersuchun-gen mit gemeindebasiertem, randomisiertem Design und größeren Stichproben nötig. Trotz möglicher Verzerrungen ist jedoch festzuhalten, dass bei Frauen mit den schwersten Formen weiblicher Genitalverstümmelung am häufigsten psychische Störungen vorkommen.

5.1.2.2 FGM und Symptomschwere

Um den Zusammenhang der Symptomschwere und den Formen weiblicher Genitalverstüm-melung zu untersuchen, wurden die FGM-Gruppen hinsichtlich ihrer PTBS-, Dissoziations-, Ängstlichkeits- und Depressivitätssymptomschwere verglichen (Hypothese 3). FGM II/III un-terschied sich hier wie erwartet bezüglich PTBS, Ängstlichkeit und Depressivität von der Gruppen FGM I und nicht beschnittenen Frauen. FGM I unterschied sich hypothesenkonträr bezüglich der letzteren drei Störungen nicht von der Gruppe unbeschnittener Frauen. Für die Dissoziationssymptomatik ergab sich jedoch ein anderes Bild: Erwartungsgemäß unterschieden sich die Gruppen der beschnittenen (für FGM I tendenziell) von den nicht beschnittenen Frauen, die Gruppen FGM I und II/III unterschieden sich jedoch hypothesenkonträr nicht voneinander.

Für diese Berechnungen fehlt es bisher an Vergleichsstudien. Im Großen und Ganzen bestätigt es jedoch letzteren Befund und zeigt, dass Frauen nach FGM II/III stärker belastet sind, auch wenn die Symptome im subklinischen Bereich miteinbezogen werden.

Das Ergebnis zu Dissoziation könnte ein Hinweis darauf sein, dass sich durch die frühe Trauma-tisierung dauerhaft dissoziative Strukturen bilden, beziehungsweise die Entwicklung (Zellteilung, Differenzierung, Myelinisierung) von bestimmten Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstrukturen gehemmt wird, so dass später einfacher auf diese Art der Abwehrreaktion zurückgegriffen werden kann. In lerntheoretischen Termini würde dies bedeuten, dass während der Beschneidung, die in einer kritischen Lebensphase stattfindet, dieShutdown-Reaktion als wirksame Verteidungs-strategie gelernt wird. Neurobiologisch werden die neuronalen Strukturen für mögliche weitere Erfahrungen solcher Art aufrechterhalten und im Falle weiterer traumatischer Erfahrungen verstärkt. Diese Schlussfolgerung wird durch Befunde der Entwicklungsneurobiologie gestützt (Review Teicher, Andersen, Polcari, Anderson, Navalta & Kim, 2003).

Die bisherigen Gruppenvergleiche betrachten keine konfundierenden Variablen. Die Gruppen-unterschiede hinsichtlich soziodemographischer Variablen (s. Anhang II, Tabelle 5.3) sind zu vernachlässigen, da diese letztendlich keine Psychopathologie bedingen (z.B. für PTBS Brewin, Andrews & Valentine, 2000). Ein Aspekt, der jedoch nicht gänzlich vernachlässigt werden sollte, ist die Anzahl traumatischer Lebensereignistypen. Frauen der beiden FGM-Gruppen (FGM I und FGM II/III) nennen signifikant mehr traumatische Lebensereignisse als nicht beschnittene Frauen. Für die PTBS ist das einer der wichtigsten Risikofaktoren (z.B. Neuner et al., 2004). Der nächste Abschnitt diskutiert die psychische Gesundheit der FGM-Typen unter Berücksichtigung des Effekts der Anzahl erlebter traumatischer Ereignisse.

5.1.2.3 FGM, die Anzahl traumatischer Lebensereignistypen und psychische Gesundheit

Der Zusammenhang der Anzahl psychopathologischer Symptome mit der Anzahl traumatischer Lebensereignistypen für die verschiedenen Formen weiblicher Genitalverstümmelung im Vergleich zu nicht beschnittenen Frauen wurde anhand einer Regressionsanalyse untersucht und graphisch dargestellt. Der größte Unterschied zeigte sich zwischen Frauen der Gruppen FGM I und FGM II/III. Die Regressionsanalyse hat darüber hinaus gezeigt, dass Frauen der Gruppe FGM II/III, in Abhängigkeit der Anzahl traumatischer Erfahrungen, einen signifikant schlechteren psychischen Gesundheitszustand aufweisen als dies bei Frauen der Gruppe FGM I der Fall ist.

Des Weiteren wird anhand dieser Graphik die Sonderstellung der Gruppe nicht beschnittener Frauen besonders deutlich. Unbeschnittene Frauen unterscheiden sich nicht signifikant von beiden FGM-Gruppen (FGM I und FGM II/III) und scheinen in dieser Stichprobe sogar tendenziell stärker belastet zu sein als Frauen der Gruppe FGM I – trotz signifikant weniger traumatischen Erfahrungen (s. Abschnitt 3.5.3.3). Verschiedene Aspekte, die hier eine Rolle spielen könnten, werden in Abschnitt 5.1.3 zu den Einschränkungen dieser Studie aufgegriffen.

Die Gruppe der Frauen, die nach FGM I beschnitten ist, weisen interessanterweise die wenigsten Diagnosen, die niedrigste Symptomschwere und – wie sich in diesen Berechnungen unter

Einbezug der erlebten Traumata nochmals gezeigt hat – die niedrigste Gesamtpsychopathologie auf. Diese Resilienz könnte damit zusammenhängen, dass diese Gruppe hauptsächlich aus (amharischen) Frauen besteht, die typischerweise direkt nach ihrer Geburt, in der präverbalen Phase, beschnitten wurden. Der Eingriff entspricht somit nicht dem klassischen traumatischen Lebensereignis, so dass die hier erhobenen Aspekte der psychischen Gesundheit wahrscheinlich nicht sensitiv für die psychopathologischen Zusammenhänge mit FGM I sind. Durch welche Einflussfaktoren diese Beobachtung bedingt ist und inwiefern hier von einer Resilienz gesprochen werden kann, gilt es in weiteren Forschungsbemühungen nachzuweisen.

Eine Beobachtung der vorliegenden Studie ist, dass bei jüngeren somalischen Mädchen in Jijiga zunehmend Typ I statt Typ III Beschneidungen durchgeführt werden. Obwohl dies anhand der vorliegenden Befunde zur psychischen Gesundheit als eine positive Entwicklung erscheint, sollte dies nicht als Fortschritt gesehen werden. Weibliche Genitalverstümmelung ist ein trau-matisches Ereignis – unabhängig vom Typ – wie in dieser Studie nochmals gezeigt wurde. Bei der Typ I Beschneidung fallen zwar physische Komplikationen und Folgetraumatisierungen (z.B. durch Defibulation, Re-Infibulation) geringer aus (s. Abschnitt 2.2.1), – aber das Trauma und die daran geknüpften psychischen und psychophysiologischen Reaktionen bleiben. Zum Zeitpunkt, an dem Beschneidungen durchgeführt werden – als Neugeborenes oder im Mäd-chenalter –, befindet sich das Gehirn in der Entwicklungsphase und reagiert hochplastisch auf die physiologische Stressantwort des Körpers. Hippocampus (Langzeitgedächtnis), Amygdala (Angstkonditionierung, Kontrolle von Aggressions- und Sexualverhalten) und andere Regionen, die sich nach der Geburt langsam entwickeln, eine hohe Dichte an Glukokortikoidrezeptoren haben sowie auch nach der Geburt neue Neurone bilden, sind betroffen (Teicher et al., 2003).

Die Forschungsarbeiten in diesem Bereich sprechen dafür, dass sich das Gehirn so modifiziert, dass eine größtmögliche Überlebenswahrscheinlichkeit in einer gefährlichen Umwelt erzielt wird.

Das heißt, auf Kosten der Anlegung neuronaler Strukturen, die für emotionale und soziale Stabilität wichtig sind, werden Verhaltenstendenzen wie Aggressivität, Irritabilität und Vigilanz auf neuronaler Ebene verstärkt (Teicher et al., 2003). Dadurch kann FGM auch einen negativen gesellschaftlichen Einfluss nehmen. Über die negativen Implikationen des Traumas hinaus kann

es durch die fehlende Innervation des klitoritalen Nevenstranges bei beschnittenen Frauen auch zu veränderten neuronalen Repräsentationen auf neokortikaler Ebene kommen (Einstein, 2008).

Über die Befunde zu den FGM-Typen hinaus wird im folgenden Abschnitt der Zusammenhand des FGM-Schweregrades mit der psychischen Gesundheit diskutiert.

5.1.2.4 FGM-Schweregrad, Anzahl traumatischer Lebensereignistypen, familiäre Gewalt und psychische Gesundheit

Ergänzend zu den Befunden bezüglich der FGM-Typen wird der Zusammenhang der psychischen Gesundheit und weiblicher Genitalverstümmelung anhand des FGM-Schweregrades nochmals differenzierter betrachtet. Die Anzahl traumatischer Lebensereignistypen und das Ausmaß der familiären Gewalt – zwei Faktoren die nachweislich Einfluss auf die psychische Gesundheit haben (z.B. Briggs-Gowan et al., 2010; Catani et al., 2008; Weber et al., 2008) – wurden hier in die Berechnungen integriert. Auf die Summenwerte der PTBS, der Ängstlichkeit, Depressivität und der Gesamtpsychopathologie wurde eine univariate Regression mit den Prädiktoren FGM-Schweregrad, Anzahl traumatischer Lebensereignistypen und familiäre Gewalt gerechnet.

Es zeigte sich wie erwartet, dass die Anzahl der PTBS-Symptome über die Anzahl der trauma-tischen Lebensereignistypen und den FGM-Schweregrad vorhergesagt werden. Entgegen der Erwartungen war jedoch die familiäre Gewalt kein signifikanter Prädiktor. Auch das Auftreten von Ängstlichkeitssymptomen konnte durch die Anzahl traumatischer Lebensereignistypen und den FGM-Schweregrad vorhergesagt werden. Hier war die familiäre Gewalt ebenfalls kein signifikan-ter Prädiktor. Erwartungsgemäß konnte auch die Varianz der Depressivitätsymptomatik – hier – von allen drei Prädiktoren erklärt werden. Zusammenfassend wurde auch für die Gesamtanzahl psychopathologischer Symptome von allen drei Prädiktoren signifikant vorhergesagt.

Festzuhalten ist, dass einerseits alle Korrelationen zwischen der Symptomschwere der psy-chischen Störungen und dem FGM-Schweregrad positiv und signifikant sind und sich dieser Zusammenhang auch für alle Modelle zeigt. Das heißt, weibliche Genitalverstümmelung hat über familiäre Gewalt und die Anzahl traumatischer Lebensereignisse hinaus einen Einfluss auf

die PTBS, auf Ängstlichkeit und Depressivität sowie die gesamte psychische Gesundheit.

Des Weiteren besteht nicht nur ein Zusammenhang der rein physischen Verletzung durch die Verstümmelung mit der psychischen Gesundheit, sondern es spielen auch subjektive Faktoren und physische Folgen, die als mit dem Eingriff verbunden wahrgenommen werden, eine Rolle.

Der FGM-Schweregrad als Prädiktor für die psychische Gesundheit hat gegenüber der konventio-nellen WHO-Typisierung den Vorteil, dass neben dem Zusammenhang des rein physiologischen Ausmaßes der Verstümmelung auch weitere relevante Faktoren einbezogen und so in Verbindung mit der psychischen Gesundheit gebracht werden können.

5.1.3 Einschränkungen und Generalisierbarkeit

Eine wichtige Einschränkung ist zunächst die geringe Stichprobenanzahl, welche im Rahmen der Konzeption dieser Untersuchung als Pilotstudie vorgegeben war. Tendenzen die sich in dieser Studie bereits abzeichnen könnten in größeren Stichproben signifikant hervortreten.

Als allgemeine Schwierigkeit bei der Durchführung von Studien zu FGM ist auch das Kon-trollgruppenproblem zu werten, welches ebenfalls in der vorliegenden Studie vorherrscht. Eine Gleichverteilung von Frauen aller FGM-Gruppen wäre optimal. Unbeschnittene und auch nach Typ II beschnittene Frauen sind in Jijiga jedoch eine absolute Minderheit (s. Abschnitt 2.2). Um zumindest eine („unexposed”) unbeschnittene Vergleichsgruppe zu haben, wurden diese in der vorliegenden Untersuchung aktiv rekrutiert. Im Verlauf der Studie wurde deutlich, dass diese Frauen zwar nicht beschnitten sind, dafür jedoch anderen psychisch belastenden Erfahrungen wie Stigmatisierung, Tod der Eltern oder Vernachlässigung ausgesetzt sind, die hier nicht systematisch erhoben wurden. Nur selten stammen diese Frauen aus westlich orientierten Familien, die ihre Töchter aus Überzeugung nicht beschneiden. Zudem ist auch nicht komplett auszuschließen, dass sich Frauen fälschlicherweise als nicht beschnitten ausgaben (auch wenn ihnen dadurch kein Vorteil entstand).

Darüber hinaus wurden mit FGM konfundierende Variablen wie Ethnie oder Religion nicht kontrolliert. Die äthiopische und die somalische Kultur bilden zwar linguistische (semitisch

vs. kuschitisch), religiöse (christlich vs. muslimisch), ökonomische (sesshafte vs. nomadische Landwirtschaft/Viehzucht) und politische (hierarchisch, feudal vs. egalitäre, segmentäre Ver-wandtschaftsstrukuren) Gegensätze (Hagmann & Khalif, 2006), diese sollten jedoch keinen Einfluss auf die psychische Gesundheit haben (z.B. für PTBS Brewin et al., 2000).

Die Zusammenfassung der Gruppen FGM II und FGM III erfolgte aufgrund einer geringen Anzahl von Frauen, die nach Typ II beschnitten wurden. Um möglichst genaue Aussagen zu den Zusammenhängen von weiblicher Genitalverstümmelung mit der psychischen Gesundheit treffen zu können und um eine differenzierte Vergleichbarkeit mit weiteren Studien zu ermöglichen, gilt es eigentlich, dies zu vermeiden und diese Zusammenfassung ist daher eher als Schwäche der Studie zu interpretieren. Aus praktischer Sicht ist dies jedoch weniger relevant: Das traumatische Erleben ist bei beiden FGM-Typen ähnlich, lediglich die Wahrscheinlichkeit von Folgetraumatisierungen bei der Defibulation und Re-Infibulation, die über den eigentlichen Beschneidungseingriff hinausgehen, sind bei Frauen nach FGM III erhöht. Die Berechnungen mit dem FGM-Schweregrad bieten hierfür eine gute Ergänzung.

Als Schwäche ist der Abbruch der PTBS-Diagnostik, wenn keine Intrusionen während der letzten vier Wochen vor dem Interview berichtet wurden, zu werten. Möglicherweise ist die PTBS-Symptomschwere dadurch für alle Gruppen unterschätzt. Verzerrungen wären dann zu beachten, wenn bei einer der Gruppen vermehrt keine Intrusions- aber gleichzeitig Vermeidungssymptome bestehen würden. Da Dissoziation, wie zuvor diskutiert, bei beschnittenen Frauen verstärkt auftreten könnte, und Dissoziation und Vermeidung nicht ganz unabhängige Konzepte sind, soll dieser Aspekt kurz fortgeführt werden. Angenommen, beschnittene Frauen neigen verstärkt zu Vermeidungsverhalten durch den Beschneidungseingriff, so wäre in dieser Arbeit die PTBS-Symptomatik bei FGM I und FGM II/III unterschätzt, da diese Gruppen eher keine Intrusionen

Als Schwäche ist der Abbruch der PTBS-Diagnostik, wenn keine Intrusionen während der letzten vier Wochen vor dem Interview berichtet wurden, zu werten. Möglicherweise ist die PTBS-Symptomschwere dadurch für alle Gruppen unterschätzt. Verzerrungen wären dann zu beachten, wenn bei einer der Gruppen vermehrt keine Intrusions- aber gleichzeitig Vermeidungssymptome bestehen würden. Da Dissoziation, wie zuvor diskutiert, bei beschnittenen Frauen verstärkt auftreten könnte, und Dissoziation und Vermeidung nicht ganz unabhängige Konzepte sind, soll dieser Aspekt kurz fortgeführt werden. Angenommen, beschnittene Frauen neigen verstärkt zu Vermeidungsverhalten durch den Beschneidungseingriff, so wäre in dieser Arbeit die PTBS-Symptomatik bei FGM I und FGM II/III unterschätzt, da diese Gruppen eher keine Intrusionen