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Exkurs: Die Masora als Zaun um die Torah

Im Dokument Kay Joe Petzold Masora und Exegese (Seite 124-150)

Ein häufig bemühter Aphorismus zur Bedeutung der Masora für den Text der hebräi-schen Bibel ist der Ausspruch R. Akivas (ףסויןבאביקע) in mAvot 13,3: הרותלגייסתרוסמ

„die Massoret ist ein Zaun für die Torah“.375 Mit diesem Sinnspruch beginnt Dotan seinen EJ-Artikel ‚Masora‘: „It seems that the statement of R. Akiva, masoret is a fence for the Torah (Avot 3,13), also refers to the same thing, i.e., that the written text as handed down with all the details is a fence of defense for the Torah...“, der damit auf die semantische Grauzone zwischen Massoret (ת ֶרוֹס ַמ) und Masora (הרוסמ) referiert.376 Auch Levitas gereimte Einführung in sein masoretisches Werk Masoret Ha-Masoret zitiert den Ausspruch R. Akivas הרותלגיסאיההרוסמה in leicht modifizierter Form und mit dem wichtigen Hinweis, dass viele halachische Regeln aus der Plene- und Defek-tiv-Schreibung von bestimmten Lemmata abgeleitet wurden und sich daraus die Bedeutung der Masora ergibt.377 Doch bereits 500 Jahre vor Levita nennt R. Meir ha-Levi Abulafia sein masoretisches Lexikon הרותל גייס תרוסמ רפס Sefer Masoret Seyag le-Torah nach der Mischna Avot 3,13a.378

Doch ausgerechnet der älteste Textzeuge der Mischna, die Budapester Hand-schrift Kaufmann 50A, bezeugt diese Lesart nicht, sondern liest: הרותלגיַי ְסתֿוֹר ְש ַע ַמ! Es wäre leichtfertig, die Lesart der Mischna Kaufmann als Schreibfehler abzutun, denn auch G. Stemberger und A. Katsh haben die Lesart: הרותלגיַי ְסתֿוֹר ְש ַע ַמ bestätigt, weil sie so in den Genizah-Fragmenten der Mischna in St. Petersburg vorkommt.379 Dass es sich bei dieser Lesart nicht um eine Haplographie, sondern um eine frühe Rezension handeln dürfte, dafür gibt es wichtige Indizien. Die Haplographie-Theorie geht davon aus, dass durch Auslassung von Zeichen oder Worten neue Bedeutungs-zusammenhänge entstehen und tradiert werden, sodass aus der vermeintlichen Urfassung הרותל ]גייסתרוסמרשועל[ גייסתורשעמ durch Haplographie die Variante in der Mischna Kaufmann 50A הרותלגיַי ְסתֿוֹר ְש ַע ַמ wurde. Allerdings zeigen die Varianten sämtlich die umgekehrte Lesart רשועלגייסתורשעמהרותלגייסתרוסמ, mit der sich diese Verkürzung nicht herstellen lässt. Bei Ms Kaufmann 50A handelt es sich um das älteste Exemplar der drei noch existierenden vollständigen Mischna-Handschriften.380 Der Text der Mischna-Handschrift wurde demnach sekundär korrigiert und behielt in mAvot 3,13 trotzdem seine ursprüngliche Textgestalt. Stemberger übersetzt die Phrase in mAvot 3,13 mit „Scherzen und Leichtsinn gewöhnen den Menschen an Unzucht.

Zehnte sind ein Zaun für die Torah, Gelübde ein Zaun für die Enthaltsamkeit. Ein Zaun

375 Vgl. zu R. Akiva u. a. Konovitz 1965; Lehnhardt & von der Osten-Sacken 1987.

376 Vgl. Dotan 2007, 603–656.

377 Vgl. Ginsburg 1867, 95.

378 Vgl. die Ausgabe: Rav Meir Ben Todros Halevi Abulafia, הרותל גייס תרוסמ, Firenze 1750.

379 Vgl. Katsh 1970; Stemberger 2010, 392.

380 M. Krupp hat in seiner Beschreibung der Mischna Kaufmann 50A auf das hohe Alter (11. Jh.) und die Abhängigkeit späterer Mss (z. B. Ms Parma 3173) hingewiese, vgl. Krupp 1987, 253–54.

III.7 Exkurs: Die Masora als Zaun um die Torah  111

für die Weisheit ist Schweigen“ und stellt die Phrase in Beziehung mit einer Variante in Avot de Rabbi Natan.381 Bereits Maimonides hat dieses Prinzip in der Mischne Torah in Abschnitt Hilkhot Mamrim 2,1 (םירממ תוכלה) angedeutet, wonach die Einhegung der Torah (הרותל גייס) nichts anderes bedeutet als ihr Schutz durch „Dekrete, Verordnun-gen und Bräuche“ (תוגהנמהו תונקתהו תורזגה ןהו). Stemberger übersetzt ת ֶרוֹס ַמ dennoch mit Masora, weil es in seiner Studie nicht auf die linguistische Genese und die seman-tische Unterscheidung ankam und weil sich durch die masoreseman-tische Brille der Neuzeit der Prozess der Verschmelzung von ת ֶרוֹס ַמ mit הרוסמ nicht mehr klar erkennen lässt, wie es der Autor der Frage an Ben Adret oder die Autoren von mAvot noch konnten.

Die Lesart von mAvot 3,13: הרותלגייסת ֶרוֹס ַמ, die sich auch linguistisch über Elision des Laryngals und Assimilation des שׂ zu ס aus herstellen lässt, setzte sich als Stan-dard-Lesart durch und fand ihren Weg in die späten Rezensionen der Mischna. Die ursprünglichere Lesart הרותלגיַי ְסתֿוֹר ְש ַע ַמ, die schwieriger zu interpretieren ist und die keinerlei masoretischen Zusatznutzen bietet, wurde über die Druckausgaben der Mischna marginalisiert. Es ist also völlig unklar, wie die ת ֶרוֹס ַמ zum Referenten des Satzes mAvot 3,13: הרותלגייסת ֶרוֹס ַמ wurde und was sich semantisch hinter ת ֶרוֹס ַמ im Kontext der Mischna verbirgt: Orthographie oder Masora. Gleichwohl wurde die masoretische Umdeutung offensichtlich stark rezipiert und im Kontext der in den europäischen Kulturraum eindringenden tiberiensischen Masora unmittelbar ver-standen. Nicht ganz zufällig nannte Norzi sein masoretisches Werk, das 1742 in Mantua unter dem Namen Minḥat Shay herausgegeben wurde, ursprünglich Goder Pereṣ (ץרפרדג) ‚Breschenschließer‘, zitiert er darin doch die Phrase aus mAvot 3,13.

Doch welche Rezension der Mischna hatte Raschi in mAvot 3,13 vorliegen und was hat er unter ת ֶרוֹס ַמ verstanden? Aus der kurzen Notiz Raschis zu mAvot 3,13: י׳׳ע ויתוכלהותוארקמהרוריבןיעדויתרוסמה geht zunächst hervor, dass ihm offensichtlich bereits eine spätere Rezension mit der masoretischen Umdeutung הרותלגייסת ֶרוֹס ַמ vorlag. Gleichwohl bestimmt für Raschi zunächst die Orthographie des Konsonanten-textes der Torah (ת ֶרוֹס ַמ) den Maßstab für die Herleitung von halachischen Regeln und für die Einhegung (גייס) der exegetischen Vielfalt innerhalb der Torah. Der Haupt-teil dieser Untersuchung wird zeigen, dass Raschi das Lemma ת ֶרוֹס ַמ auch als Termi-nus technicus für die Masora magna verwendet hat. Es ist mithin die Masora in den Bibelkodizes, die der religionsgesetzlichen und hermeneutischen Ausdeutung der Torah orthographische und religionsgesetzliche Zäune setzt, ohne dabei die plurale Hermeneutik der jüdischen Auslegungstradition zu gefährden.

381 Avot de Rabbi Natan (ARN) ist ein außerkanonisches Traktat, das als ARN-Fassung A erstmals in der Talmud-Ausgabe M. A. Justiniani, Venedig 1550, am Ende von Seder Nesikin abgedruckt wurde, in zahlreichen Mss und zwei Rezensionen vorliegt und als Tosefta zu Mischna Avot fungiert.

Abb 1: Raschi-Kommentar zum Pentateuch, Gebr. Ovadia, Manasse und Benjamin, um Rom 1470.

(Abbildung: Ende Gen 50 und Beginn Ex 1 – Paraschat Schemot)

Drucke

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Abb 2: Raschi-Kommentar zum Pentateuch, Abraham ben Garton, Reggio di Calabria 1475.

(Abbildung: Ende Ex 40 und Beginn Lev 1 – Paraschat Wayyiqra)

Abb. 3: Raschi-Kommentar zum Pentateuch, Schlomo ben Alqabez Halevi, Guadelajara 1476.

(Abbildung: Ende Ex 20 und Beginn Ex 21 – Paraschat Mischpatim)

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Abb. 4: Raschi-Kommentar zum Pentateuch, Joshua Schlomo ben Nathan Soncino, Soncino 1487.

(Abbildung: Beginn Deuteronomium – Devarim)

Abb. 5: Pentateuch mit Targum und Raschi-Kommentar, Joseph Calphon, Lissabon 1491.

(Abbildung: Deut 33,23 – Paraschat Habrachah)

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Abb. 6: Miqraot Gedolot, erste sog. Rabbiner-Bibel (Felix Pratensis) Daniel Bomberg, Venedig 1517.

(Abbildung: Beginn Genesis – Bereschit)

Abb. 7: Miqraot Gedolot, zweite Rabbiner-Bibel (Jakob ben Chayyim) Daniel Bomberg, Venedig 1525.

(Abbildung: Beginn Genesis – Bereschit)

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Abb. 8: Raschi-Kommentar zum Pentateuch, Gershon ben Moses Soncino, Rimini 1525.

(Abbildung: Ende Lev 24 Paraschat Emor und Beginn Lev 25 – Paraschat Behar Sinai)

Abb. 9: Raschi-Kommentar zum Pentateuch, Daniel Bomberg, Venedig 1548.

(Abbildung: Beginn Genesis – Bereschit)

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Abb. 10: Johann F. R. Breithaupt, Salomonis Jarchi Commentarius Hebraicus in Quinque Libros Mosis, Gotha 1710. (Abbildung: Beginn Genesis)

Abb. 11: Julius Dessauer, Der Pentateuch – nebst dem Raschi Commentare, Budapest 1905.

(Abbildung: Gen 1 – Bereschit)

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Abb. 12: Abraham Berliner, Raschi — Der Kommentar des Salomo B. Isak über den Pentateuch, Frankfurt a. M. 1905. (Abbildung: Gen 1 – Bereschit)

Abb. 13: Raschi-Kommentar zur Bibel, © München BSB, Cod. hebr. 5,1.2, Würzburg 1233.

(Abbildung: fol. 6r, Gen 6,9 – Paraschat Toldot Noah)

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Abb. 14: Raschi-Kommentar zum Pentateuch, © Leipzig UB, Cod. B.H. fol.1, erste Hälfte 13. Jh., Aschkenas. (Abbildung: fol. 47v, Ende Gen 50 und Beginn Ex 1 – Schemot)

Abb. 15: Raschi-Kommentar zum Pentateuch, © Berlin Stabi, Cod. Or. fol. 1221 (ex. Erfurt 13), 13. Jh., Aschkenas. (Abbildung: fol. 25v, Ende Gen 50 und Beginn Ex 1 – Schemot)

Handschriften  127 Handschriften  127

Abb. 16: Raschi-Kommentar zum Pentateuch, © Berlin Stabi, Cod. Or. fol. 121, 13. Jh., Aschkenas.

(Abbildung: fol. 1r , Beginn Genesis – Bereschit)

Abb. 17: Raschi-Kommentar zu Pentateuch, Megillot & Psalmen-Hiob-Sprüche, © Parma Bib. Palat., Cod. ebr. 3204 (De Rossi 181), 13. Jh., Aschkenas. (Abbildung: fol. 6v, Gen 6,9 – Paraschat Toldot Noah)

Handschriften  129 Handschriften  129

Abb. 18: Raschi-Kommentar zu den Propheten, © Parma Bib. Palat., Cod. ebr. 3260 (De Rossi 387), Ende 12. Jh., Aschkenas. (Abbildung: fol. 8r, Beginn Richter – Schoftim)

Abb. 19: Raschi-Kommentar zur Bibel, © Wien ÖNB, Cod. Hebr. 220 (Cod. hebr. 12b; ex. Schwarz 23), 13. Jh., Aschkenas. (Abbildung: fol. 4r, Gen 32,4 – Paraschat Wajischlach)

Handschriften  131 Handschriften  131

Abb. 20: Pentateuch mit Megillot, Targum und Raschi-Kommentar, © Paris BNF, Cod. Hébreu 48–49 (Ancient fonds 36/37), 13. Jh., Aschkenas. (Abbildung: fol. 4r, Beginn Genesis – Bereschit)

Abb. 21: Raschi-Kommentar zu Pentateuch und Megillot, © Paris BNF, Cod. Hébreu 155, Mitte 13. Jh., Aschkenas. (Abbildung: fol. 51r, Beginn Exodus – Schemot)

Handschriften  133 Handschriften  133

Abb. 22: Raschi-Kommentar zum Pentateuch, © Oxford Bodl. Library, Neubauer 186 (Oppenheim 34), erste Hälfte 13. Jh., Aschkenas. (Abbildung: fol. 5v, Gen Kap. 6, Paraschat Toldot Noah)

Abb. 23: Raschi-Kommentar zu den Propheten, © Oxford Bodl. Library, Neubauer 296 (Pococke 127), erste Hälfte 13. Jh. (Verkaufsnotiz 1271), Aschkenas. (Abbildung: fol. 1v, Beginn Josua)

Handschriften  135 Handschriften  135

Abb. 24: Raschi-Kommentar zum Pentateuch, © Hamburg UB, Cod. hebr. 32 (Sammelhandschrift mit Kommentaren), 14. Jh., Aschkenas. (Abbildung: fol. 35v, Ende Exodus, Beginn Leviticus – Wayyiqra)

Im Dokument Kay Joe Petzold Masora und Exegese (Seite 124-150)