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Das Responsum des Salomon Ben Adret

Im Dokument Kay Joe Petzold Masora und Exegese (Seite 155-158)

IV.1 bSanh 4a: Die Orthographie der Qarnot

IV.1.2  Das Responsum des Salomon Ben Adret

Als Reaktion auf die Verunsicherung durch die neuen masoretischen Lesarten kommt es noch im späten 13. Jh. in Spanien zu umfangreicher Korrespondenz bezüglich orthografischer Varianten im Konsonantentext der Kodizes, Rollen und des Talmud.

Vor allen anderen äußert sich R. Salomon Ben Adret (א׳׳בשר), ein Schüler des Nach-manides (R. Moses ben Nachman ן׳׳במר) und des Jona ben Abraham Gerondi, als höchste rabbinische Autorität Spaniens zu den Fragen der Defektiv- und Plene-Schrei-bung.390 Das Responsum Nr. 232 des Salomon Ben Adret391 ist die erste offizielle Ver-lautbarung zum Konflikt zwischen den tradierten und vorausgesetzten Lesarten im europäischen Konsonantentext und den geforderten Lesarten der tiberiensischen Masora. Vor allem die Küste der Iberische Halbinsel war durch ihre geographischen und kulturellen Bezüge in den maghrebinischen Raum zum Infektionsherd für Les-arten der orientalischen Kodizes und der tiberiensischen Masora geworden. Im Res-ponsum Nr. 232 des Salomon Ben Adret, das als ResRes-ponsum Nr. 1 den Abschnitt

390 תרדא ןב המלש ׳ר = R. Salomon Ben Abraham Ben Adret (1235–1310 Barcelona). Rabbiner von Barcelona, Berater und Bankier des Königs von Aragon, Führer der spanischen Juden zur Zeit des

‚Maimonides-Streits‘. Ben Adret nahm im Verlauf des ‚Maimonides-Streits‘ eine vermittelnde Stellung ein. Er erlaubte nicht nur die Lektüre der Werke Maimonides, sondern auch das Studium von Astrono-mie und Medizin und von Physik und Metaphysik ab einem Alter von 25 Jahren an.

391 Die Bezeichnung Responsum Nr. 232 referiert auf die Nummerierung in der gedruckten Ausgabe:

ל׳׳צז ןמחנ ןב השמ וניברל תוליאש תובושת, Venedig 1519, Nr. ב׳׳לר. Die Responsen Ben Adrets wurden traditionell dem Nachmanides zugeordnet, können aber anhand zeitgenössischer Mss (z. B. Paris hebr. 411 und 369) R. Salomon Ben Adret zugeordnet werden. Der vollständige Text findet sich auch in der Ausgabe Goldman, I., Sheʾeilot uTeshuvot HaRashba HaMeyuhasot LeHaRamban, Warschau 1883, und in der Bar-Ilan Responsa CD. Der Text des Responsums Nr. 232 folgt hier der Handschrift Paris BnF hebr. 411.

םתיישעןוקתוןתביתכותוזוזמוןילפתינינעבוונוקתוהרותרפסינידבתולאשתובושת ‚Antworten auf Fragen bzgl. der Gesetze des Sefer Torah und seiner Korrekturen und der Schreibung von Tfillin und Mesusot‘ eröffnet, wird R. Salomon Ben Adret etwa um das Jahr 1290 von einem anonymen Schreiber hinsichtlich der korrekten Plene- und Defektiv-Schreibung bestimmter biblischer und talmudischer Lemmata um Rat gefragt.

Responsum Nr. 232, Teil 1 (Ms. Paris BnF hebr. 411)

ירפסמ ןילועמ הרסמה ירפס ןיא ׳מוא ינאש הרוסמה דגנכ יהיש תורתיו תורסחב הרות רפס לספנ םא :הלאש ד׳׳ויב םישגליפ ונלש םירפסבו תנרק תנרק ןכו ביתכ תלכ ןכו ביתכ םמשאו ןכו ׳יתכ םשגליפ ורמאש דומלתה םירפסה ןקתל דומלתה ירפסל ןיששוח ונא ןיאו םימכח ורמאש הממ ךפה תונרק תונרק ו׳׳וב תולכ ד׳׳ויב םמישאו ... ואב בורקמ ]םישדח[ הרסמה רפסל שוחנ ךיאו ךממ לבוקמ ינא ךכש םתונשל Frage: Wird ein Sefer Torah pasul durch Defektiv- oder Plene-Schreibung gegen die Masora? Ich sage, die Masora steht doch nicht über dem Talmud und der liest תלכ ,םמשא ,םשגליפ und תנרק תנרק. In unseren Sifre Torah steht aber םישגליפ mit Jod, םמישאו mit Jod, תולכ mit Wav und תונרק תונרק plene, das Gegenteil von dem, was die Weisen sagen. Wir korrigieren unsere Sifre Torah nicht nach dem Talmud. Dazu habe ich eine Tradition von dir. Wieso sollten wir nun dem Buch der Masora Beachtung schenken, Neues, das erst vor Kurzem ankam?

Ohne die Antwort Ben Adrets zu kennen, ist bereits die überlieferte Fragestellung von unschätzbarem Wert für die Beurteilung der Masora in den Kodizes gegenüber den Lesarten in den Sifre Torah. Die Masora ist demnach selbst für jüdische Gelehrte im Raum Sepharad des 13. Jh.s ‚Neues, das erst vor Kurzem ankam‘. Der Autor der Frage des Responsums an Ben Adret referiert mit der polemischen Wendung: שוחנ ךיאו ואבבורקמםישדחהרוסמהירפסל „Wieso also nun die Bücher der Masora ‚deuten‘: Neues, das erst vor Kurzem ankam“ auf die Masora in der rhetorischen Figur der ‚neuen Dämonen‘ (Dtn 32,17), die keine Götter sind, weil ihnen das Alter und die Autorität mangelt, und wehrt sich gegen die Anmaßung der Masora auf Autorität gegen die Tradition des Talmud und gegen die belegten Lesarten in den eigenen Sifre Torah. Er benutzt den negativ konnotierten Begriff für Divination שוחנ für das Ausdeuten der Masora und disqualifiziert dieselbe damit als unsicheres auszudeutendes Sondergut.

Denn es geht um nicht weniger als die Bedrohung des traditionellen Konsonanten-textes in den eigenen Rollen und damit um die Infragestellung des lokalen Brauches (גהנמ), der Liturgie und der Schreiberpraxis durch die tiberiensische Masora.

Für die Fragestellung der Tradition der תנרק in Lev 4,25–34 sind gerade die Details des Fragestellers von besonderem Interesse, denn sowohl die für den Talmud belegte zweifache Defektiv-Schreibung: תנרק-תנרק in der Phrase von bSanh 4a als auch die Plene-Schreibung תונרק-תונרק in den eigenen Rollen wird im Responsum vorausge-setzt. Der Autor der Frage kannte sowohl die tradierte Lesart תנרק-תנרק-תונרק, wie sie in einigen mittelalterlichen Talmud-Handschriften vorkommt, als auch die dreifach Plene-Schreibung in den eigenen Rollen, die ebenfalls in aschkenasischen Hand-schriften belegt ist. Mit der tiberiensischen Masora wird er nun aufgefordert, die eigenen Rollen‚ von dreifach Plene- auf dreifach Defektiv-Schreibung zu korrigieren.

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Dieser Schritt erscheint unserem Autor doch zu brisant, geht es doch in der Sache mit den תונרק in Lev 4,25–34 um halachisch relevante Lesarten. Deshalb ergänzt der Autor die Frage und referiert zunächst auf bQid 30a und die Unkenntnis der Weisen des Talmud bezüglich der Plene- und Defektiv-Schreibung bestimmter Lemmata.

Responsum Nr. 232, Teil 2 (Ms. Paris BnF hebr. 411)

לכתורתיו׳ורסחביאיקבווהאלףסויברוהדוהיברדינשבד׳רמאדןישודקדק׳׳פבוניתלבקלהיארילשיו ]...[

ונירפסוםהלשוחנאלונאלבאםהירפסבואצמךכש׳מולונלשיתלכוםמשאוםשגליפשרדשימוונאןכש ינאששוחתנרקתנרקתונרקלבאןרמאדכהדגהלשתושרדיקוספלעהמתיניאינאםנמאםהשהמכקיזחנ יפלעןידןישועםהינשותרוסמלםאשיוארקמלםאשישבאﭏוקלחנאלוםהלםידומה׳׳בוש׳׳בשןויכןהל .הזבךתעדינעידוה ... ונרויוךרבדאבידעילרומשאורבדבאריינאשאﭏםנקתלהיהיתעדורתיהורסחה Ich habe den Beweis in unserer Tradition, die uns in Massekhet Qiddushin lehrt, dass es in den Jahren des Rav Jehuda und Rav Joseph keine Experten für Defektiv- und Plene-Schreibung gab. Wir sind es noch viel weniger. Was die Lesarten von םמשא, תלכ und םשגליפ angeht, so fanden sie es in ihren Rollen, aber wir werden ihnen darin nicht folgen, sondern unsere Rollen bleiben, wie sie sind. Auch bin ich darüber nicht erstaunt, geht es doch bei diesen Stellen um aggadische Auslegungen. Aber bei תנרק-תנרק-תונרק folge ich ihnen, denn Beit Shammai und Beit Hillel vertrauten darauf, obwohl sie nicht übereinstimmten in Bezug auf die Interpretation gemäß des Konsonantentextes (ארקמל ם ֵא) oder gemäß der Tradition (תרוסמל ם ֵא). Beide trafen halachische Entscheide aufgrund der Defektiv- oder Plene-Schreibung. Ich zog es in Betracht zu verbessern, fürchtete mich aber und warte nun, dass dein Wort mich erreicht und unterrichtet... Teile mir dein Wissen zu dieser Sache mit!

In den Fällen ohne halachische Relevanz, wie z. B. der Schreibung von םשגליפ (Neben-frauen) sieht er keinen Handlungsbedarf. Doch im Falle der Lesarten der תנרק in Lev 4,25–34 unterscheidet er deutlich zwischen der Masora (הרוסמ) und Massoret (ת ֶרוֹסּ ַמ). Mit תרוסמל ם ֵא ist hier nicht die Masora gemeint, sondern im Kontext des talmudischen Diskurses bezeichnet der Terminus ת ֶרוֹסּ ַמ die talmudische ‚Schreib-Tradition‘. Demnach müsste auch das berühmte, aber schlecht belegt Diktum aus mAvot 3,13: הרותלגייסת ֶרוֹסּ ַמ nicht mit Masora, sondern mit Massoret ‚die traditionel-len Lesarten des Konsonantentextes begrenzen die Torah‘ übersetzt werden.392

Zusammengefasst stellt der Frageteil des Responsums im Grunde drei Fragen: a) Wird ein Sefer Torah durch Plene-Schreibung gegen die Masora pasul? b) Ist die Auto-rität der Masora gegenüber dem Talmud groß genug, um die Schreibung in den Rollen zu ändern? c) Wie ist in halachisch relevanten und talmudisch gesicherten Lesarten zu verfahren, wenn die Masora anders liest als die eigenen Rollen am Beispiel von תונרק in Lev 4,25–34? Leider bleibt Ben Adret in den überlieferten Responsen dem Autor die entscheidenden Antworten schuldig. Ben Adrets Antworten sind in ver-schiedenen Fassungen überliefert, von denen keine auf eine der Fragestellung refe-riert, weswegen sie auch nicht Gegenstand dieser Arbeit sind. Der erste Satz der

392 Vgl. zu ת ֶרוֹסּ ַמ u. a. Jastrow 1926; Bacher 1899.

Antwort Salomon ben Adrets ist in diesem Zusammenhang jedoch aufschlussreich:

יפלעאלותרוסמהיפלעםירפסבםוקמו םוקמלכבןיערוגו ןיפיסומןיאשתמאהןכשיתעדמ תורתיותורסחבםיאיקבהםהימכחיפלעםתוצראבתומוקמבוקלחנשיפלהדגאישרדמ „Wahr ist meiner Meinung nach, dass an keiner Stelle in den Rollen ergänzt oder entfernt werden soll. Weder gemäß der Masora, noch gemäß aggadischer Midraschim. Denn obwohl die Weisen Experten waren, differierten sie an verschiedenen Stellen und in ver-schiedenen Ländern bezüglich der Defektiv- und Plene-Schreibung.“ Salomon ben Adret stimmt der Meinung des Fragestellers bezüglich der geringen Bedeutung der Masora zu, indem er bestätigt, dass diese weder für die Lesarten noch für Korrekturen der Rollen relevant ist. Ben Adret schließt mit der Aussage: הדגאישרדמיפלעאלו nicht aus, dass bei halachisch relevanten Passagen die tradierten Lesarten der Gemara (ם ֵא תרוסמל) durchaus relevant sind. Diese Interpretation impliziert aber auch, dass bei der für den halachischen Diskurs in bSanh 4a relevanten Reihung תונרק-תנרק-תנרק in Lev 4,25–34 die Schreibweise in den eigenen Rollen und in den Kodizes nicht nach der tiberiensischen Masora in dreifach defektiv verändert werden durfte.

Im Dokument Kay Joe Petzold Masora und Exegese (Seite 155-158)