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Diskussion des MT zu 1 Sam 5,9

Im Dokument Kay Joe Petzold Masora und Exegese (Seite 183-186)

IV. 3 1 Sam 5,9: Die Krankheit der Aschdoditer

IV.3.3  Diskussion des MT zu 1 Sam 5,9

Die beiden Samuel-Bücher (ursprünglich ein Buch der hebräischen Bibel) schildern die israelitische Geschichte von der Geburt Samuels, über die Einführung des König-tums in Israel unter Saul, bis zur Thronbesteigung und Herrschaft Davids.403 Die Bezeichnung Samuel-Bücher geht dabei auf die rabbinische Tradition zurück, wonach die Geschichte König Davids von Samuel, Gad und Natan aufgeschrieben wurde.404 Die Samuel-Bücher, die im Kern deuteronomistisch, in ihrer Endgestalt aber nachexi-lisch sind, bieten neben zentralen Elementen wie Samuel (Richter, Prophet und Pries-ter von Schilo), dem Königtum Sauls und dem Aufstieg und der Herrschaft Davids auch älteres Material, zu dem der Komplex vom Verlust und der Rückkehr der Lade gehört.405 Die Bundeslade (תוּד ֵע ָהןוֹר ֲא), die als kultisch hoch aufgeladenes Artefakt im Jerusalemer Tempel ihren Platz finden sollte, hatte zu Beginn des Samuel-Buches eine sehr wechselvolle Geschichte. Sie geht im Verlauf der Schlacht von Eben-Eser bei Afek verloren und gerät zur Kriegsbeute der Philister. Diese stellen sie zunächst im Heiligtum des Dagon406 in Aschdod auf, um sie später, nach dem Sturz der Dagon-Statue,407 nach Gat zu überführen. In Aschdod und Gat kommt es nach Ankunft der Lade zum Ausbruch einer rätselhaften Krankheit, deren Symptomatik auf Hämorrho-iden im Endstadium hindeutet. Die Plage der Aschdoditer, die Raschi in einer drasti-schen Schilderung beschreibt, ist der Auftakt für die Plagen und Krankheiten, welche die Lade unter den Philistern auslöst, und die erst nach Rückgabe der Lade an die Israeliten aufhören.408

403 Vgl. Dietrich 2010; McCarter 1980; Zenger 1995, 210–216.

404 Vgl. 1 Chr 29,29.

405 Vgl. Rost 1926.

406 Vgl. zu Dagon Healey 1999, 216–219; und Ingo Kottsieper, Art. Dagon in WiBiLex: https://www.

bibelwissenschaft.de/de/stichwort/16113/.

407 Raschi hält die Dagon-Statue für eine Fisch-Figur: גד תומדכ יושע תומד, vgl. dagegen die Wandma-lerei der Synagoge von Dura-Europos (3. Jh.), Westwand, mit dem am Boden liegenden zerbrochenen Standbild des Dagon in Menschengestalt.

408 Die Lade wird nach sieben Monaten an die Israeliten zurückgegeben und verbleibt die nächsten 20 Jahre im Haus Avinadavs in Kirjat-Jearim (Tel Qiryat Yearim), bis sie unter Aḥija (Ahimelech von Nob), dem Vater Abjatars, wieder in kultischen Gebrauch unter den Israeliten kommt und als Artefakt des Nordreich-Heiligtums Schilo im Jerusalemer Tempel ihren Platz findet.

Raschi erklärt in seinem Kommentar zu 1 Sam 5,6 ausführlich das Krankheitsbild anhand des Lemmas םי ִל ָפ ֳע, das er in der qere-Form םי ִרֹח ְט bzw. der Übersetzung des Targum mit ןי ִרוֹחט ִב zitiert: םהיבקנבןיסנכנםירבכעבקנהתכמאשכרכתלוחלח .םירוחטב ןיאצויוםהיעמינבןיטמושו „Hämorrhoiden, das Gedärm am Rectum, eine Krankheit des Anus, Mäuse kriechen in ihre Hintern, die sie ausweiden und wieder verlassen“.409 Raschis Erläuterungen zu den םי ִל ָפ ֳע (Hämorrhoiden) wird in 1 Sam 5,9 mit der maso-retischen Verknüpfung von ורתשיו und ורתסיו unterfüttert: אוהירהשורתסיוומכ .ורתשיו םירתסהתיבתכמך׳׳מסןושלבםישרופמון׳׳ישםיבותכתרוסמב „denn es ist in der Masora unter den Worten, die mit Sîn anstelle von Samekh geschrieben werden, eine Krankheit der versteckten Körperöffnungen.“ Raschi bezeichnet die Bedeutung des mit ורתשיו zitierten Verses 1 Sam 5,9 als םירתסהתיבתכמ „Krankheit der versteckten Körperöffnun-gen“ und begründet diesen Konnex durch eine in der Masora bezeugte Beziehung der Verbform וּ ֥ר ְת ָשִּׂיּ ַו mit dem Verb ר ַת ָס, in der Form, wie es in 2 Kön 11,2 als ורתסיו vor-kommt: ורתסיוומכורתשיו. Der tiberiensische MT von 1 Sam 5,9b, wie ihn die BHS für L wiedergibt, םי ִֽל ֹ֯פ ְעם ֖ ֶה ָלוּ ֥ר ְת ָשִּׂיּ ַו „und es platzten ihnen die Geschwüre“, kennzeichnet zwar in der Mp-Notiz םירחט ׄק, dass die Form םי ִֽל ֹ֯פ ְע als םירחט ‚Hämorrhoiden‘ zu lesen sei, nicht aber, dass die Form וּ ֥ר ְת ָשִּׂיּ ַו, auf die sich Raschi in seinem Kommentar bezieht, mit der Form ורתסיו zu assoziieren sei. Die Form ל ֶפ ֹ֫ע ist lexikographisch gut belegt und wird םילפע im Aramäischen durchgehend mit אָיּ ַרוֹח ְט und syrisch mit ܐܳܪܘ ܽܚܛ (ṭḥuro) wiedergegeben und regelmäßig als qere für ketiv םילפע substituiert.

Die Form ל ֶפֹע der Grundform ל ַפ ָע bezeichnet Schwellungen bzw. Anhöhen (Ophel).

Bereits das arabische ٌلَف َع (ʿafalun) und das akkadische uplû(m) weisen in den medi-zinischen Bereich und bezeichnen Tumore und Beulen.410

Die alten Übersetzungen kannten den Sachverhalt und referierten auf die ambi-valente Bedeutung von וּ ֥ר ְת ָשִּׂיּ ַו. Die LXX verbrämt die Krankheit der Aschdoditer mit der Übersetzung: καὶ ἐπάταξεν αὐτοὺς εἰς τὰς ἕδρας αὐτῶν „und er schlug sie an ihrem Gesäß“, macht aber deutlich, dass es sich um eine Krankheit im Anal-Bereich handelt.

Symmachus und Aquila übersetzen: καὶ ἐπάταξεν αὐτοὺς εἰς τὰ κρυπτὰ „er schlug sie an ihrer verborgenen (Stelle)“ bzw. καὶ περιϵλύθησαν αὐτῶν αί ἕδραι „und er löste ihnen die Gesäße“ und setzten die Kenntnis des Targum voraus, der den MT mit וֹקלוּ

אָי ַרוֹחט ִבןוֹה ְל „und er schlug sie mit Hämorrhoiden“ übersetzt. Auch die Vulgata über-setzt recht drastisch mit: et conputrescebant prominentes extales eorum „und sie faulten an ihren heraustretenden Innereien“.411 Während BHS die Form וּ ֥ר ְת ָשִיּ ַו gänzlich unbeachtet lässt, bezeugt MQG-Haketer mit Ms Aleppo ad loc. eine masoretische Note

ׄל (Hapaxlegomenon), die auf die besondere Form hinweist. Auch Cairo liest die Form וּ ֥ר ְת ָשִיּ ַו ad loc. mit der kommentierenden Mp-Note: ׳ש ׄתכו ׄל (Hapaxlegomenon und mit

409 Die Vorlage dieser drastischen Schilderung bezieht Raschi aus dem Midrasch ‚Shocher Tov‘

(=Midrash Tehillim), den er zuweilen zitiert, vgl. z. B. Dtn. 33,7: םילהת תדגאב בותכ ןכ. 410 Vgl. Jastrow 1903; von Soden 1972; Brown-Driver-Briggs 1997.

411 Das entspricht der medizinischen Beschreibung des hämorrhoidalen Symptomenkomplexes zum dauerhaften Vorfall des Hämorrhoidalgewebes, dem Analprolaps; vgl. u. a. Pschyrembel 2002.

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Sîn geschrieben) und bietet damit einen Hinweis auf den von Raschi zitierten Konnex zwischen ורתשיו und ורתסיו. Der Raschi-Kommentar behauptet nun, dass gemäß der Masora die Form ורתשיו ein mit Sîn geschriebenes Derivat der lexikalischen Form ר ַת ָס sei, und deshalb die Bedeutung ‚versteckt‘ bzw. ‚verborgen‘ stets mit zu übersetzen sei. Die Form ר ַת ָס, die arabisch als َرَت َس (satara) verstecken, verhüllen und aramäisch sowohl als ר ַת ָס I. verstecken, verbergen, als auch als ר ַת ָס II. zerstören, niederreißen, belegt ist, bietet jene beiden ambivalenten Grundbedeutungen, die sowohl in der Übersetzung des Targum als auch in der Verbindung zur Masora vorausgesetzt werden. Die heutigen Übersetzungen zeigen keine Spur von diesen Zusammenhän-gen. So übersetzen Buber und Luther84 einheitlich: „Beulen barsten an ihnen auf“

bzw. „sodass an ihnen Beulen ausbrachen“. Luther wusste es jedoch noch besser und beweist in seiner Übersetzung von 1534 „und verderbete sie an heimlichen orten“, dass er zumindest Kenntnis von den jüdischen Kommentatoren zur Stelle hatte.412 Zuletzt hat Zunz die Stelle mit „und es setzten sich an ihre heimlichen Stellen Feuchtbeulen“

übersetzt, und damit seine Kenntnis der durch Raschi angezeigten Doppelbedeutung ורתסיוומכורתשיו bezeugt. Zunz hatte jedoch noch Bibeltexte zur Hand, die ihn nicht nur über die Masora: ירקםירחט zu םי ִֽלֹפ ְע informierten (z. B. Letteris), sondern auch über die Mp zu וּ ֥ר ְת ָשִּׂיּ ַו, wie es die Michaelis-Ausgabe von 1720 mit umfangreichen Information tut. Michaelis bietet nicht nur die korrekte Lesart וּ ֥ר ְת ָשִּׂיּ ַו, das Targum םירחט und seine Bedeutung ‚Hämorrhoiden‘, sondern auch die Mp-Note ירקםירחט mit Erklärung „ורתשיו per Sîn“ mit Verweis auf die Masora der Ausgabe Bomberg Venedig 1525 und verweist in der Fußnote auf die Lesart Amos 9,3 וּ ֜ר ְת ָ֨סִּי „sich verber-gen“. Die Bomberg-Ausgabe von 1525 hatte die Form וּר ְ֯ת ָשִּׂיּ ַו mit einer ausführlichen Mp-Note versehen, die auf masoretisches Material zurückgeht, dass Raschi für seinen Kommentar offensichtlich voraussetzte: ך׳׳מס ׳ירקו ן׳׳יש ביתכ ןילמ ח׳׳יורתשיו wonach

„ורתשיו eins von 18 Worten mit Sîn geschrieben aber mit Samekh zu lesen“ sei. Auch Ginsburg bietet in seinem Propheten-Band (1911) noch zusätzliche Informationen zu וּר ְ֯ת ָשִּׂיּ ַו an und listet diejenigen Handschriften, welche die Form וּר ְ֯ת ָשִּׂיּ ַו anstelle von Sîn mit Schin schreiben. Nur die modernen Ausgaben wie BHK3, BHS und Dotan, die sich allein auf L stützen, bieten in ihren Apparaten keinerlei Information mehr zur Form וּר ְ֯ת ָשִּׂיּ ַו (in Sam 5,9), denn die Schwäche dieser Editionen besteht gerade im Verlust des masoretischen Materials aus den aschkenasischen Handschriften und frühen Drucken.413

412 Luthers hebräische Bibeln, die Ausgaben Brescia 1494 und Bomberg 4° Venedig 1525, zeigten ihm diese Information jedenfalls nicht an. Brescia und Bomberg lesen die Form וּ ְר ְת ֵשִיּ ַו.

413 Vgl. die Prolegomena zur ersten Ausgabe der Biblia Hebraica, Kittel 1905, 3–7.

Im Dokument Kay Joe Petzold Masora und Exegese (Seite 183-186)