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Der Begriff der Masora

Im Dokument Kay Joe Petzold Masora und Exegese (Seite 108-111)

Der Begriff der Masora (ה ָרוֹס ָמ) bezeichnet im weitesten Sinne die Summe der zu einem Kodex gehörigen Informationen jenseits des Konsonantentexts (Grapheme, Ketiv-Qere-Anweisungen, Akzent- und Vokal-Zeichen, Versteiler, liturgische Marker, Listen, Mise en page), die den hebräischen MT in seiner materialen Gestalt als Artefakt (Kodex = Miṣḥaf) wirksam bestimmen.305 Der Ursprung des Begriffs ‚Masora‘ (ה ָרוֹס ָמ) ist nicht endgültig geklärt. Der Begriff stammt entweder von der aramäischen Form ת ֶרוֹס ָמ ‚Tra-dition‘ der Grundform ר ַס ָמ oder ist über das hebräische ר ַס ָא (arab. َر َسَأ ʾasara, akkad.

asâru) ‚binden‘ über die Nominalbildung ת ֶרֹס ֲא ַמ entstanden und bezieht sich ursprüng-lich auf die tradierte Defektiv- und Plene-Schreibung und Aussprache des hebräischen Textes.306 Die Form ת ֶרוֹס ָמ erscheint in der rabbinischen Literatur als ס׳׳שהתרוסמ für die ‚Tradition‚ der sechs Ordnungen der Mischna. Im masoretischen Text erscheint die Form ת ֶרוֹס ָמ als ‚Tradition‘ in Hes 20,37: תי ִֽר ְבּ ַהת ֶר ֹ֥ס ָמ ְבּם֖ ֶכ ְת ֶאי ִ֥תא ֵב ֵה ְו „und ich bringe euch in die Tradition des Bundes“, und die Targume und Theodotion bestätigen diese Bedeu-tung. Die modernen Übersetzungen folgen hier jedoch der LXX und lesen anstelle ת ֶר ֹ֥ס ָמ ְבּ die Form ר ָפ ְס ִמ ְבּ „Zählung“.307 Raschi kommentiert die Form ת ֶרֹס ָמ ְבּ in Hes 20,37 mit: םכליתרסמש׳ירבב „an den Bund, den ich euch tradierte“ und versucht über יתרסמש eine Klammer zwischen ת ֶרוֹס ָמ als ‚Tradition‘ und ת ֶרֹס ֲא ַמ als ‚Bindung‘ herzustellen.308 Den entscheidenden Hinweis für den arithmetischen Aspekt der Masora gab die LXX, die ἐν ἀριθμῷ für ר ָפ ְס ִמ ְבּ „in Zählung“ las. Die MT-Form תי ִֽר ְבּ ַהת ֶר ֹ֥ס ָמ ְבּ wäre demnach 305 Als Literatur wurden diesem Überblick insbesondere zugrunde gelegt: Dotan 2007; Golinets 2013; Ginsburg 1895; Ehrentreu 1925; Kahle 1913; Kahle 1927; Kahle 1930; Khan 2012; Lipschütz 1935;

McCarthy 1981; Kelley 1998; Yeivin 2003.

306 Jastrow 1903.

307 Der Apparat der BHS korrigiert die Form ת ֶר ֹ֥ס ָמ ְבּ nach LXX (𝔊 ἐν ἀριθμῷ) in ר ָפ ְס ִמ ְבּ und schlägt

„abzählen“ vor (vgl. Luth84 und ELB).

308 Vgl. für die verschiedenen Formen ת ֶרוֹסּ ָמ gegen ת ֶרוֹס ָמ u. a. Jastrow 1903, 805; dagegen Bacher 1899; für ת ֶרוֹס ָמ vgl. Even-Shoshan 2010, 1027.

Open Access. © 2019 Kay Joe Petzold, published by De Gruyter. This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 License.

https://doi.org/10.1515/9783110627121-003

III.1 Der Begriff der Masora  95

durch eine Dittographie (תי ִר ְבּ ַה) aus dem nachfolgenden י ִתוֹר ָבוּ „und ich sondere aus“

entstanden.309 Diese Verbindung von תרוסמ zu רפסמ findet sich auch in der rabbini-schen Literatur, so liest bQid 30a: תויתואהלכםירפוסויהשםירפוסםינושארוארקנךכיפל הרותבש „die Alten wurden Soferim genannt, weil sie die Buchstaben der Torah zählten“.

Auch bHag 15b verknüpft die Bedeutung der Form רפוס mit der Form ר ֵפֹס (Partizip von ר ַפ ָס) und fragt: הרותבשתויתואלכםירפוסויהשרפוסהיא „Wo ist der, der zählen kann?

denn sie (die Rabbinen) zählten doch alle Buchstaben der Torah“.310 Die ersten Masore-ten zählMasore-ten tatsächlich die Wörter und Buchstaben in den biblischen Büchern und notierten die Summe am Ende eines Buches. So liest die Masora von B 19a am Ende des Pentateuch: הששוםישמחו תואמהנומשו ףלאםיעבשוהעשתהרותלשתוביתהםוכס „die Summe der Wörter in der Torah ist 79.856“, und: ףלאתואמעבראהרותלשתויתואהםוכס השמחוםיעבראותואמעשתו „die Summe der Buchstaben in der Torah ist 400.945“. Beide Summen entsprechen natürlich nicht den tatsächlichen Werten, sondern sind traditio-nelle Angaben, die einer bestimmten tiberiensischen Schule und dem Werk Diqduqe ha-Te‘amim (םימעטהיקדקדרפס), des Masoreten Aron Ben Moshe Ben Ascher zuge-schrieben wird.311

309 Vgl. dagegen Barthélmy 1992, 156, der die MT-Form תירבה תרסמב für eine Alliteration der ur-sprünglichen Lesart hält.

310 Die Gemara referiert auf eine esoterische Auslegung zu Jes 33,18 und das Expertenwissen der Berater Sauls und Davids, Doeg und Ahitophel, die ihre Herren verrieten und dennoch alles zählten.

Raschi erläutert die Fähigkeit des Buchstabenzählens in der Torah in seinem Kommentar zu bQid 30a mit dem überlieferten Wissen um die Defektiv- und Pleneschreibungen im masoretischen Text.

311 Die Anzahl von 79.856 Wörtern für den Pentateuch in der Masora ist das Resultat der Addition traditioneller Summen und nicht tatsächlichen Zählens, vgl. Geden 1928; So ermittelte Weil in seiner Edition der Masora von B 19a für die BHS 79.981 Wörter für den Pentateuch, obwohl die Masora finalis in B 19a (und so auch in BHS) den traditionellen Wert von 79.856 Wörtern ausweist, vgl. zur genauen Anzahl der Verse, Wörter und Konsonanten in B 19a Weil 1978. Deutlich komplexer gestaltet sich die Situation bei der Anzahl der Konsonanten (תויתוא). Hier ist die in der Masora von B 19a mitgeteilte Anzahl von 400.945 Zeichen schlichtweg falsch, bezeugt jedoch die Tradition der tiberiensischen Ma-soreten. Weil hat für B 19a die tatsächliche Summe von 304.844 Konsonanten ermittelt und liegt damit in der Nähe der Werte von Ginsburg mit 304.807, Minḥat Shay mit 304.805 und M. Cohen (Haketer) mit 304.801 für andere Handschriften. Die jüdische Tradition kennt einige Varianten dieser Summe:

Minḥat Shay bestimmt in der Ausgabe Mantua 1744 die Anzahl der Buchstaben, die den Pentateuch etablieren, mit 304.805 )ןמיס השמחו תואמ ת׳תו םיפלא ׳דש הרות רפס לש תויתוא ןיכמ(, wohingegen das der Ben-Ascher-Tradition zugeschriebene Werk Diqduqe ha-Teamim )םימעטה יקדקד רפס( die Anzahl der Buchstaben mit 400.945 und Derenbourg (Manuel du Lecteur) mit 400.900 angibt. Elijahu Levita gibt in der dritten Vorrede seines Masoret ha-Masoret )תרוסמה תרוסמ רפס( die Zahl der Konsonanten mit 600.045 an. Die Tradition der 600.000 Buchstaben der Torah aus Zohar Chadash zum Hohelied ist in kabbalistischen Kreisen um Nathan Nate Spira )אריפש ע ֶטָנ ןתנ(, Rabbiner von Krakau (17. Jh.) in seinem Werk תוקומע הלגמ als Akronym für Israel )הרותל תויתוא אובר םישש שי = ׄל ׄא ׄר ׄש ׄי( ausgedeutet worden (vgl. Joseph del Medigo: הרותה ףוס אוהש ׄל ׄא ׄר ׄש ׄי ת׳׳רכ הרותל תויתוא אובר ׳ס שי ורמאו). Die An-zahl der Konsonanten des Pentateuch ist auch durch die unterschiedlichen Plene- und Defektiv-Schreibungen variabel. So haben die modernen Textausgaben Artscroll, Breuer, Koren, Haketer, Dotan und BHS alle eine unterschiedliche Anzahl von Buchstaben, bewegen sich jedoch im Bereich von 304.800+X Konsonanten. Vgl. zu den historischen Zählungen u.a. Blau 1896, 343–359.

Demnach konnten die Masoreten die Mitte der Bücher bestimmen und legten das Wav im Lemma ן

ו

חג in Vers Lev 11,42 (ןוֹ ֜ח ָגּעל ַעךְ ֵ֨לוֹה ֩לֹכּ) als Mitte des Pentateuch und das Ayn in ר

ע

ימ in Vers Ps 80,14 (ר ַע֑ ָיּ ִמרי֣ ִז ֲח) als Mitte der Schrift fest. Beide Buchstaben werden in den aschkenasischen Bibelhandschriften traditionell vergrößert dargestellt. An einer weiteren prominenten Stelle bezeugt der Talmud die Form ת ֶרוֹס ָמ in einer bereits meta-textuellen Bedeutung. In der Debatte zu Neh 8,8: םי ֖ ִהלֹ ֱא ָה ת ֥ ַרוֹת ְבּר ֶפ֛ ֵסּ ַבוּ ֥א ְר ְקִיּֽֽ ַו א ֽ ָר ְק ִמּ ַבּוּני ֖ ִבָיּ ַול ֶכ ֶ֔שׂםוֹ ֣שׂ ְושׁ ֑ ָרֹפ ְמ „Und sie lasen aus dem Buch, aus der Torah, verdeutli-chend vor, und gaben den Sinn an, und sie verstanden die Lesung“, heißt es in bMeg 3a:

תרותרפסבוארקיוארקמבוניביולכשםושושרופמםיהלאהתרותרפסבוארקיוביתכדיאמבר םימעטיקסיפ ולאארקמבוניביוןיקוספה ולאלכש םושוםוגרת הזשרופמארקמהזםיהלאה תרוסמהולאהלירמאו „was heißt: und sie lasen aus dem Buch, aus der Torah, verdeutli-chend vor, und gaben den Sinn an, und sie verstanden die Lesung? – und sie lasen aus dem Buch, aus der Torah, das ist der Bibeltext ארקמ, verdeutlichend,312 das ist der Targum םוגרת, und gaben den Sinn an, das sind die Abschnitte ןיקוספ, und sie verstan-den die Lesung, das sind die Trennungen der Akzente םימעטיקסיפ, andere sagen, es verweist auf die Masoret ת ֶרוֹס ָמ“. Hier verbindet die Gemara die Masora mit der Punk-tation und den Te‘amim und weist ihr damit die Funktion des Trägers meta-textueller Elemente und Grapheme in den Kodizes zu, die nach talmudischer Auffassung auto-ritativ halachisch relevante Lesarten eindeutig festlegt, sodass Lev 12,5 םִי ַע ֻב ְשׁ „zwei Wochen“ und nicht םי ִע ְב ִשׁ „siebzig“ zu lesen ist, oder dass in Ex 23,19 וֹמּ ִא ב ֵל ֲח ַבּ „in der Milch seiner Mutter“ und nicht ב ֶל ֵחבּ „im Fett“ zu lesen ist. Einige syntaktisch schwie-rige Fälle, die bereits in talmudischer Zeit Kopfzerbrechen bereitet hatten, wurden durch die masoretische Akzentuierung für den MT festgelegt: So entschied der Versteiler Athnaḥtâ unter ק֑ ֵל ָמ ֲע ַבּ in Ex 17,9, dass Josua gegen Amalek ausziehen sollte, Mose aber erst am folgenden Tag (ר ָ֗ח ָמ) seinen Platz auf dem Hügel einnehmen würde.313 Mit dieser komplexen Gemengelage wurden den masoretischen Phänome-nen eine bedeutende exegetische Autorität zugewiesen und die Masora zu dem kons-tituierenden Element des masoretischen Textes erhoben. Dies führte jedoch nicht zur Stabilisierung des hebräischen Bibeltextes, weder in den Handschriften noch in den Druckausgaben,314 sondern vielmehr zur Ausbildung und Autorisierung regional ver-schiedener Lesetraditionen und masoretischer Schulen.

312 Vgl. שׁ ָרֹפ ְמ (von שׁ ַר ָפ unterscheiden, erklären) das auch in Esra 4,18 als ‚Targum‘ zu interpretieren ist; vgl. Brown-Driver-Briggs 1997.

313 Raschi war sich dieses Problems bewusst und kommentierte das semantisch schwierige und syn-taktisch unglücklich platzierte ר ָ֗ח ָמ ‚morgen‘ folgendermaßen: בצנ יכנא המחלמה תעב רחמ „zum Zeit-punkt der Schlacht werde ich dastehen!“. Vgl. zur älteren talmudischen Tradition die Gemara in bJoma 52b zu den fünf ungeklärten Verbindungen )ערכה ןהל ןיא הרותב תוארקמ שמח( im Pentateuch:

םי ִ֔ד ָקּ ֻשׁ ְמ in Ex 25,34; ר ָ֗ח ָמ in Ex 17,9; ת ֵ֔א ְשׂ in Gen 4,7; רוּ ֤ראָ in Gen 49,7; und ֩ם ָק ְו in Deut 31,16.

314 Bis zum heutigen Tage gibt es in den Druckausgaben der hebräischen Bibel Abweichungen in der Akzentuierung, Vokalisierung und im Konsonantenbestand: a) Snaith, Dotan, BHS lesen Deut 23,2 die Form א ָכּ ַד (App. der BHS ad loc: mlt Mss Edd ⅏ℭ הכד), wohingegen Letteris und Koren ad loc. ה ָכּ ַד lesen; b) Snaith, Dotan, BHS lesen 1Sam 30,30 die Form ן ָשׁ ָעערוֹב ְבּ (App. BHS: mlt Mss כב(ו)ר cf 𝔗Mss),

Im Dokument Kay Joe Petzold Masora und Exegese (Seite 108-111)