• Keine Ergebnisse gefunden

Die erste MQG-Ausgabe des Felix Pratensis (Venedig 1517)

Im Dokument Kay Joe Petzold Masora und Exegese (Seite 79-82)

II.2  Die Drucke des 16. Jahrhunderts

II.2.1  Die erste MQG-Ausgabe des Felix Pratensis (Venedig 1517)

Bereits die erste Druckausgabe der hebräischen Bibel aus der Offizin Bombergs, die sogenannte ‚Pratensis-Ausgabe‘, setzte nicht nur neue Maßstäbe im Bereich des heb-räischen Bibeldrucks und der kritischen Edition der Texte, sondern leitete einen Paradig menwechsel im Buchdruck ein. Der Druck der hebräischen Vollbibel ]ך׳׳נת[ mit rabbinischen Kommentaren (Miqraot Gedolot) wurde dem exklusiven Zugriff jüdi-sche Drucker entrissen und ging in die Hände christlicher Unternehmer (Bomberg) und jüdischer Konvertiten (Felipe de Prato) über. Die erste Bomberg-Ausgabe, die im 181 Die Familie van Bombergen aus Antwerpen war seit 1484 neben See- und Fernhandel für Gewür-ze und Edelsteine über Portugal auch an Unternehmungen in Italien beteiligt. Cornelius van Bomber-gen, der Vater von Daniel, unterhielt bereits 1884 eine Agentur in Venedig. Daniel Bomberg (1483–

1553?) besuchte die Universität Louvain, hatte hebräisch-Unterricht bei Guglielmo Raimondo de Moncada (=Flavius Mithridates), einem jüdischen Konvertiten aus Italien, und kam als Grossist für hebräische Drucke nach Venedig; vgl. Shear & Hacker 2011.

182 Leonardo Loredan (gest. 1521) war der 75. Doge der Republik Venedig. Eine Familienangehörige, Donata, war die Ehefrau Marco Polos. Leonardo Loredans Amtszeit markiert die Überschreitung des Zeniths der Macht der Republik Venedig. Die Niederlage in der Schlacht von Agnadello (1509) gegen die Liga von Cambrai und die Blockade der Alpen für venezianische Güter machten ihn abhängig von guten Beziehungen zu Handelsagenturen wie der van Bombergens aus Antwerpen.

183 Vgl. zur Unternehmung van Bombergens aus Antwerpen u. a. Amram 1909, 146–224, 351–352; Ber-liner 1905, 295–305; Freimann 1906, 32–36, 79–88.

184 Im 15. Jh. wurden kabbalistische Lehren für Christen und Humanisten gleichermaßen attraktiv.

Kenntnisse der hebräischen Sprache und Besitz hebräischer Bücher gehörte zur Grundausstattung des Gelehrten. Giovanni Pico della Mirandola gilt als Vertreter der christlichen Kabbala. Nahezu jeder Kirchenfürst oder Humanist hatte einen jüdischen Lehrer des hebräischen: Flavius Mithridates (עלפ סטדירתימ סויב) unterrichtete Pico della Mirandola und Rudolph Agricola; Eliah del Medigo (עלד והילא וגידמ) unterrichtete Pico della Mirandola und Kardinal Domenico Grimani; Jacob ben Jechiel Loans (Leibarzt Kaiser Maximilians I.) unterrichtete Johannes Reuchlin; Moses Möllin unterrichtete Johan-nes Böschenstein; und Felipe de Prato unterrichtete u. a. Egigio de Viterbo und Daniel Bomberg.

Jahr 1517 (ח׳׳ער) in Venedig erschien, war im Wesentlichen eine Edition des Konverti-ten Felipe de Prato, und erschien als ‚jüdische‘ und als ‚christliche‘ Ausgabe in zwei unterschiedlichen Editionen.185 Der ausführliche hebräische Titel der Pratensis-Aus-gabe erläutert zugleich den universellen Anspruch dieser Bibel-AusPratensis-Aus-gabe.186 Die Ausgabe bot ihren Lesern neben dem besten damals zu erreichenden hebräischen Bibeltext jeweils einen Targum und eine Vielzahl klassischer (Raschi, Qimḥi) und mo-derner (Abraham Farisol) rabbinischer Kommentare. Der Druck war vierteilig ange-legt, jede Teilausgabe hatte ein eigenes Epigraph mit Titel und Druckdatum. Der Pen-tateuch besteht aus 133 Blättern und ist dreiteilig gestaltet: Die obere Seitenhälfte teilen sich der masoretische Text und das Targum Onqelos, darunter (über die gesamte Seitenbreite) der neu edierte Raschi-Kommentar.187 Neben der Kennzeichnung der Pa-rashiot durch abgesetzte Initial-Worte sind im Pentateuch erstmals hebräische Kapi-tel-Nummern eingeführt! Der Bibeltext weist wichtige masoretische Annotationen (notae clausulae) auf, wie die Ketiv-Qere, variae lectiones,188 die puncta extraordina-ria (תודוקנ), litterae majusculae, suspensae, und das Nun hafucha ׆. Das ‚Meerlied‘

und ‚Ha‘azinu‘ sind optisch abgehoben und zweispaltig gedruckt.189 Die anderen Teil-ausgaben weichen nur geringfügig vom Layout des Pentateuch ab, haben jedoch

185 Felix Pratensis (1460–1559), Augustiner-Eremit aus Prato (Florenz), konvertierte 1506, wurde Lehrer von Kardinal Egigio de Viterbo und Editor bei Daniel Bomberg. Im Jahr 1520 verlässt Pratensis die Offizin Bombergs und wird Botschafter für Ordensgeneral G. Venetus bei Papst Hadrian VI. in Rom (an seiner Stelle wird Jacob ben Ḥayyim eingestellt), 1528 Prokurator seines Ordens, 1559 stirbt de Prato fast 100-jährig in Rom. Vgl. zu Felipe de Prato: Paul Kahle 1947, 32–36.

186 Der Titel lautet: עורחא םיאיבנו םינושאר םיאיבנ .י׳׳שר שוריפ םעו סולקנוא םוגרת םע שמוח :םירשעו עברא םע ילשמ .ק׳׳דר שוריפ םעו ףסוי יבר םוגרת םע םילהת .יחמק דוד בר שוריפ םעו לאיזוע ןב ןתנוי םוגרת םע םינ תולגמ שמח .לוצירפ םהרבא יברו ן׳׳במרה שוריפ םעו ףסוי יבר םוגרת םע בויא .יקנו בק שוריפ םעו ףסוי יבר םוגרת םימיה ירבדו .ינועמשו י׳׳שר שוריפ םע ארזע .םשרג ןב יול יבר שוריפ םע לאינד .י׳׳שר שוריפ םעו ףסוי ׳ר םוגרת םע ינועמשו י׳׳שר שוריפ םע „Die Vierundzwanzig Bücher: Chumasch mit Targum Onqelos und Raschi-Kom-mentar; die vorderen und hinteren Propheten mit Targum Jonatan ben Uzziel und Qimḥi-KomRaschi-Kom-mentar;

Psalmen mit Targum R. Joseph (Joseph ben Ḥiyya) und Qimḥi-Kommentar; Sprüche mit Targum R. Jo-seph und dem Kommentar von R. Eliezer ben Jacob (יקנו בק); Hiob mit Targum Rav JoJo-seph und den Kommentaren von Nachmanides und R. Abraham Farisol; Megilloth mit Targum R. Joseph und Raschi-Kommentar; Daniel mit Gersonides; Ezra und Chroniken mit Raschi und (Yalkut) Shimoni.“

187 Der Text des Raschi-Kommentars zum Pentateuch in der Pratensis-Ausgabe zeigt Spuren von abweichenden Lesarten und Sondergut einiger iberischer Inkunabel-Drucken wie Lissabon 1491 (vgl.

Dtn 33,23 unten)! Das bedeutet, dass die heute nur in wenigen erhaltenen Drucken auffindbaren ibe-rischen Lesarten bereits zu Beginn des 16. Jh. ihren Weg nach Venedig gefunden hatten.

188 Die Pratensis-Ausgabe ist nicht die erste Ausgabe mit Ketiv/Qere (׳ק), aber sie bietet zudem Les-arten-Varianten anderer Handschriftentraditionen (variae lectiones), die nicht immer eindeutig gegen Ketiv/Qere abgegrenzt sind, oft unkommentiert in der Marginalie erschienen, aber an vielen Stellen erstmals durch die Abkürzung א׳׳ס (in anderen Mss) einführt sind.

189 Die Druckseiten bieten darüber hinaus in den Marginalien Hinweise für nicht-jüdische Benutzer wie יעיבר ׳יכלמ רפס םיזעולה םיליחתמ ןאכ „hier beginnt für die Fremdsprachigen das vierte Buch der Kö-nige“, vgl. z.b. den Beginn von 2 Kön 1,1 auf fol. 99r des 2. Teilbandes.

II.2 Die Drucke des 16. Jahrhunderts  67

jeweils eigene Titel, Paratexte,190 und Epitaphe.191 Am Ende des 4. Teilbandes findet sich ein Epitaph Daniel Bombergs, in welchem er seine persönliche Motivation für diese Druck-Ausgabe metaphorisch erläutert.192 Darunter der lateinische Abdruck eines päpstlichen Privilegs mit zehnjähriger Schutzfrist.193 Historiographisch bedeut-sam und wenig beachtet ist der Appendix mit traditionell jüdischen Inhalten am Ende des vierten Teilbandes. Bomberg und Pratensis bieten hier das Targum Jerushalmi zum Pentateuch, wie es bereits in sephardischen Drucken teilweise abgedruckt wurde, nun vollständig und nach Wochenabschnitten getrennt, dazu das Targum Sheni zu Megillat Esther, eine Tabelle mit dem vollständigen Verzeichnis der Haph-tarot nach aschkenasischem und sephardischem Brauch mit ihrem genauen Platz in der Ausgabe, den Text der 13 Glaubensartikel des Maimonides (םירקיעהרשעשלשולא םבמרהרבחש תידוהיההנומאה)194 und die 613 Gebote und Verbote (השעתוצמןה ולא הרותהןמהשעתאלתוצמו) gemäß der Reihenfolge im Pentateuch. Zum Schluss eine Fassung des dem Aron Ben Ascher zugeschriebenen masoretischen Kompendiums Sefer Diqduqei ha-Teamim (םימעטהיקדקדרפס), die Grammatik der Akzente, die jedoch eine verkürzte Textfassung desselben nebst einer Sammlung diverser Okhla-Listen

190 Die Teilbände beginnen jeweils mit Paratexten: der Pentateuch mit einer Widmung de Pratos an Papst Leo X., die Propheten und die Hagiographen jeweils mit der Einleitung zum Kommentar Qimḥis.

191 Der Pentateuch hat keine Datierung, die Propheten datieren nach dem 16. Amtsjahr des Dogen Leonardo Loredano (1517), wie z. B. die vorderen Propheten: סוכודל ו׳׳י תנשב האיזיניוב ןויעה בר םע ספדנ האירדנאלפ שיא יגרבמוב לאינד ידי לע ונד ירול ודרנואיל „gedruckt mit großer Sorgfalt in Venedig im 16. Jahr des Dogen Leonardo Loredano durch die Hand Daniel Bombergs, des Flandern“; die Hagiographen datieren parallel: ונדירול ודרנואיל סוכודל ו׳׳י תנשבו ק׳׳פל ח׳׳ער תנשב האיזיניוב ןויעה בר םע ספדנ „im Jahr 278 der kurzen Zählung (=1517) und im 16. Jahr des Dogen Leonardo Loredano...“. Nur das Epitaph Bom-bergs am Ende des 4. Teilbandes datiert exakt auf den 27. Kislew des Jahres 278 = 11. Dezember 1517:

וילסכ שדחל ז׳׳כ םויב ק׳׳פל ח׳׳ער תנשב.

192 Hier spricht אשיריונאמ יגריבמוב לאינרק ןב לאינד רמא „Daniel, Sohn des Cornelius Bomberg aus Antwerpen“ in einem hebräischen! Epitaph über sehr persönliche Einsichten: von seiner Jugendlich-keit und zunächst mangelnden Bildung: תומילשהמ ללושמ הנובתה הפר לכשה ריעצ יכנאו; dass er Studi-um und Weisheit wählte: יתוחא יתרמא המכחה תאו יל חאל יתרחב ןויעה תא; und dass er kluge und teure Künstler zum Drucken habe: הסיפדהל םירקיו םימכח םינמוא ילצא; für die 24 Bücher der Torah, Propheten und Hagiographen: העבראו םירשע םיבותכו םיאיבנו הרות; begleitet durch die Targume und gesonderte Kommentare: םהל םידרפנ םישוריפו םתובשומבו םתומוקמב םהינימל םלכל םוגרתה םע תכל יביטמ המה „nach ihren Familien und Nationen...“ (Gen 10,5): םהייוגל םתוחפשמל. Bomberg verknüpft hier das dreiteilige Schriftenkonzept (MT-Targum-Parshanut), das er in den aschkenasischen Bibelhandschriften vorfand (vgl. Hs Leipzig B.H. fol.1), theologisch neu mit der Ausdehnung Japhets in Gen 10,5 und beansprucht deshalb die Herstellungs- und Deutungshoheit über die hebräische Bibel samt den Targumen und den rabbinischen Kommentaren für das humanistisch gebildete Christentum.

193 Vgl. fol. 211r: Ad decennium A.M.D.XV imprimat; vel imprimendos curet; Leo. X. Pont. Max. sub excommunicationis; et in terris Sanctae. Roma.) Das 10-jährige Schutzprivileg für die Pratensis-Aus-gabe lief im Jahr 1525 aus und erlaubte Bomberg den Druck der dann von Jakob Ben Chajim edierten 2. MQG-Ausgabe, der sog. Biblia Rabbinica (vgl. unten).

194 Die 13 Glaubensartikel sind in einer Textfassung abgedruckt, die sich erheblich vom klassischen Text des Kommentar des Maimonides zu Mishnah Sanh 10 unterscheidet, jedoch identisch 1569 von Gilbert Génébrard in Paris gedruckt wurde und so auch in einigen Siddurim (Krakow 1596) auftaucht.

und masoretischer Einzelphänomene (Ḥilufim Ben-Ascher und Ben-Naftali (אתגולפ ארפיסד), Buchstaben- und Lesarten Verzeichnisse) sowie Inhaltsangaben zu den Pro-phetenbüchern zusammenfasst. Dieser letzte genuin jüdische Teil der Pratensis-Aus-gabe aus Targumen, Mitzwot und masoretischem Sondergut, der den Humanisten zunächst esoterisch anmuten musste, versuchte offensichtlich eine Tür hin zu jüdi-schen Käuferschichten zu öffnen – was nicht mehr gelang!195

Im Dokument Kay Joe Petzold Masora und Exegese (Seite 79-82)