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Biblia Hebraica Stuttgartensia (BHS)

Im Dokument Kay Joe Petzold Masora und Exegese (Seite 103-106)

II.4  Die modernen kritischen Ausgaben

II.4.6  Biblia Hebraica Stuttgartensia (BHS)

Die zweifellos bekannteste und als Referenz-Text wichtigste Ausgabe der hebräischen Bibel ist die Biblia Hebraica Stuttgartensia (BHS). Sie bestimmt als Handausgabe (zunächst ab 1966 als Faszikel-Ausgabe) seit 1977 das moderne Erscheinungsbild der hebräischen Bibel, ohne jedoch das zugrunde liegende Manuskript, den Codex Lenin-gradensis (Firkovich Evr. I B 19a), in seiner komplexen Materialität hinreichend zu würdigen. Die BHS steht vielmehr in der editionsphilologischen Tradition der dritten Biblia Hebraica von R. Kittel und muss historisch als deren vollendete Fassung betrachtet werden. Gemäß der Sitzungsprotokolle des Direktorats der Württembergi-schen Bibelanstalt und gemäß des Briefwechsels zwiWürttembergi-schen Paul Kahle, Emil Diehl und Karl Elliger, plante die Bibelanstalt 1954 eine vierte Ausgabe der Biblia Hebraica für die 150-Jahr Feier des Hauses 1962. Die Herausgeberschaft für die Biblia-Hebraica-Reihe wurde dazu von Albrecht Alt und Otto Eissfeldt an Karl Elliger und Wilhelm Rudolph übergeben. Paul Kahle, der Editor der Masora für die Biblia Hebraica, lebte seit der Emigration 1938 in England. Er war mit der Schule um Federico Perez-Castro eng verbunden und plante seit 1948 eine Edition der Biblia Polyglotta Matritensia. Für die neue Biblia Hebraica forderte Kahle eine diplomatische Präsentation der Masora und hatte seinen Schüler Fernando Diaz-Esteban für die Bearbeitung vorgesehen.285 Die Hebraica sollte außerdem Verbesserungen im Apparat, die Qumran-Lesarten, einen neuen hebräischen Druck-Font und den vollständigen Abdruck der Masora bieten.286 Doch schon bald wurde klar, dass der Drucktermin für 1962 angesichts der notwendigen technischen und typographischen Vorarbeiten nicht zu halten war.287 Vor diesem Hintergrund und der nicht geklärten Frage eines geeigneten Bearbeiters stand im Jahr 1959 sogar die Masora zur Disposition.288

Sassoon 1053), Drucken (Ginsburg; Heidenheim) und masoretischen Abhandlungen (Frensdorffs Okhla we-Okhla; Lonzanos Or Torah; Norzis Minḥat Shay) bezeugt werden; vgl. Breuer 2003b.

285 In einem Brief an Direktor Emil Diehl vom 7. Okt. 1958 schreibt Kahle: „regarding the state of the masora I can notify to you that Dr. Fernando Diaz-Estaban stayed with me in Oxford for a long while and we discussed and prepared the aggregation of the masora magna in detail.“

286 Bereits 1951 wurden mit der 7. verbesserten Auflage der BHK3 Verbesserungen im Apparat mit dem Abdruck der Qumran-Lesarten (dritter Apparat Jesaja und Habakuk) vorgenommen.

287 Zunächst sollte eine Monotype aus England beschafft werden, die programmgesteuert den kom-plexen Satz und Druck mit den neuen Typen leisten konnte. Bei der Bombardierung Leipzigs waren sämtliche Matrizen des BHK-Fonts (Drogulin) der Kittel-Ausgaben verloren gegangen. Außerdem ver-langten Apparat und Masora über 350 neue Typen. Die Verhandlungen mit Montotype in London führte Paul Kahle mit Director Morrison persönlich, während Karl Häußler, der Setzer der Bibelan-stalt, zusammen mit Karl Elliger das Layout der Typen für die Akzente und Sonderzeichen anfertigten.

288 Kahle drängte seinen Schüler F. Diaz-Esteban zur Edition der Hallenser Okhla we-Okhla Hand-schrift und verzögerte damit den Beginn der Arbeit an der Masora. Vor diesem Hintergrund bildete sich eine Anti-Masora-Fraktion um Eissfeldt, Diehl und Hempel. Eissfeldt stützte sich auf ein Gutach-ten von Hempel von 1958, wonach kein theologischer Bedarf für die Masora bestünde. Hempels Ein-schätzung war gewichtig, er war Kittel-Schüler und Bearbeiter des Deuteronomiums für die BHK3,

Doch die Situation änderte sich mit der Bestellung Gerard E. Weils als Bearbeiter der Masora und Manfried Dietrichs als ersten Redaktionsassistent der BHS durch Kahle.289 Im Sommer 1960 produzierten Karl Häußler und Paul Kahle einen ersten Probedruck des Genesis-Faszikels mit einer diplomatischen Präsentation der Masora und sicher-ten damit das editionsphilologische Konzept der BHS. Nach dem Tod von Paul Kahle 1964 trübte sich das Verhältnis zwischen G. Weil und der Bibelanstalt ein, und die zuweilen frostige Korrespondenz bezeugt die zunehmenden Eigenmächtigkeiten Weils bezüglich der Edition der Masora.290 Mit 15 Jahren Verspätung erschien 1977 die BHS mit einem sorgfältig edierten hebräischen Bibeltext auf Grundlage des Codex Leningradensis, einer edierten und normalisierten Masora parva in der seitlichen Marginalie, einem ersten Apparat mit Listennummern des separat gedruckten Masora-magna-Bandes und einem ausführlichen textkritischen Apparat. Die BHS ist in vielfacher Hinsicht eine konsequente und in Teilen disparate Weiterentwicklung der BHK3 von Kittel und Kahle. Der textkritische Apparat ist nicht konsistent, sondern spiegelt die Spezialinteressen der Bearbeiter wieder.291 Vor dem Hintergrund der genauen Wiedergabe der Handschrift wurden jedoch echte und vermeintliche ‚Fehler‘

nicht mehr emendiert, sondern im Apparat kommentiert und Regeln für die komplexe Setzung der Akzente und des Metheg eingeführt. Die dem Text der BHK3 künstlich hinzugefügten Methegs wurden wieder entfernt.292 Die Akzente erhielten neue (leicht

aber Hempel war belastet durch seine Aktivitäten im 3. Reich. Er leitete ab 1937 das ‚Institutum Judai-cum zur Erforschung des Judentums vom Boden der nationalsozialistischen Weltanschauung aus‘

und die Arbeitsgruppe AT am Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das kirchliche Leben, vgl. Klee 2003, 244; Weber 2000.

289 Im Sommer 1959 erschienen zwei Männer bei Kahle in Oxford: Manfried Dietrich, Semitist aus Tübingen, und Gerard Weil, Assistent bei Virolleaud an der Ras-Shamra-Text-Edition. G. Weil interes-sierte sich für die Masora tiberiensischer Handschriften und für die Forschungen Kahles. Kahle war bezüglich Weils rekonstruktivistischer Theorien zu einer einzigen in sich schlüssigen Masora skep-tisch und bestand auf einer diplomaskep-tischen Bearbeitung der Masora, und stellte Weil 1962, nachdem dieser die Section Biblique et Massoretique des CNRS in Straßburg (später in Nancy) von George Vajda übernommen hatte, als Bearbeiter für die Masora der BHS ein.

290 Obwohl sich Kahle mehrfach für eine diplomatische Edition und gegen eine Rekonstruktion einer ‚normalisierten Masora‘ ausgesprochen hatte, setzte Weil nach dem Tod von Kahle sein idiosyn-kratisches Konzept durch. Die Anerkennung für die produktive Bewältigung der schwierigen Phasen zwischen der Forschungsstellen in Nancy und Tübingen gebührt zu einem großen Teil Diether Keller-mann (Teile des Briefwechsels liegen vor).

291 Vgl. z. B. den Apparat zu Deuteronomium von J. Hempel: Nur hier werden variierende Lesarten der mittelalterlichen Mss mit den Kennicott-Nummern erwähnt. Auch die Textgliederung und der sti-chische Satz poetischer Texte oblag den Bearbeitern und ist deshalb uneinheitlich und an vielen Stel-len fortschrittlicher als in BHK3 (Vgl. z. B. das Dodekapropheton von K. Elliger). Sogar Raschi hat es an einer Stelle bei W. Baumgartner in den Apparat der BHS geschafft; vgl. den Apparat zu Lemma י ִר ְד ַה in Dan 4,33: BHS liest mit Raschi und Theodotion ת ֵרדה oder ת ֵרדח für redii ‚ich bin zurückgekehrt‘; Ra-schi liest ad loc.: יתרזח יתוכלמ דובכלו „zur Herrlichkeit meines Königtums bin ich zurückgekehrt“.

292 Vgl. zur Metheg-Setzung das Vorwort zur BHK3. So wurden ca. 200 Metheg aus Jesaja entfernt.

Die Rückkehr zur wenig systematischen Metheg-Setzung in BHS auf der Grundlage von L ist vor dem

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lesbare) Typen, wurden überarbeitet und gegenüber der BHK3 z. T. geändert.293 Die Masora der BHS ist in vielfacher Hinsicht disparat und komplex. Sie erscheint in der Handausgabe zunächst als normalisierte, d.h. nach den idiosynkratischen Regeln G.

Weils angereicherte und ergänzte Masora parva, die nicht die Masora parva der Hand-schrift L repräsentiert, sondern auf Grundlage von L und anderer (nicht dokumentier-ter Handschriften) eine vollständige und korrekte Masora parva zu rekonstruieren sucht.294 Durch den hohen Grad der Anreicherung des masoretischen Materials und des redaktionellen Abgleichens an tiberiensischen Handschriften (BM Or. 4445;

Cairo-Codex; Paris BNL Heb. 15; u. a.) und masoretischen Werken (Minḥat Shay) eignet sich die normalisierte Masora der BHS hervorragend als wissenschaftliche Ausgangs-Masora für die Rekonstruktion von komplexen masoretischen Problemen oder zur Ergänzung von beschädigten und fehlenden masoretischen Noten und Listen – nicht jedoch als Wiedergabe der Masora von L, und nur eingeschränkt für die philo-logische Untersuchung der masoretischen Tradition der Ben-Ascher-Schule.295 Seine Edition der Masora magna von L bietet Weil in einen separaten Ergänzungsband zur BHS.296 Er hat die Mp-Noten mit Indexziffern versehen (שׁילב ׄלו1ׄג), die über den Mm-Apparat entweder auf eine der 4271 Listen seiner separat gedruckten Massora Gedolah oder in seltenen Fällen auf Okhla-Listen nach der Zählung der Pariser Okhla-Rezen-sion von Frensdorff (vgl. Okhl §70 in Gen 37,3) verweisen. Bei mehrfach auftretenden und teil-identischen Mm-Listen in L fabrizierte Weil je nur eine edierte Liste (Joint).

Dies führte zu ungelösten editionsphilologischen Problemen, weil nicht identische aber sachlich auf dasselbe Lemma verweisende Mm- und Okhla-Listen zu jeweils einer einzigen idiosynkratisch edierten Mm-Liste zusammengefasst wurden. So erscheint z. B. die Okhla-Liste Paris §105 (=Okhla Halle §88) in L dreimal in nicht iden-tischer Form in 2Sam 16,18, Spr 26,2, und Esra 4,2. Diese drei masoretischen Listen

Hintergrund, dass sich die Regeln des Metheg in den Grammatiken auf die nachweislich falschen Er-kenntnisse Seligman Baers stützten, zu verstehen. Paul Kahle mahnte deshalb eine Untersuchung der Metheg-Setzung auf Grundlage der Tiberiensischen Handschriften an.

293 So wurde in Jesaja 40,13b in der Phrase ותצע שיאו die Akzent-Folge von Tifḥa-Merka: וֹ ֥ת ָצ ֲע שׁי ֖ ִא ְו (so in BHK3, Letteris, Snaith und 19 mittelalterlichen Hss, vgl. Ginsburg) auf Merka-Tifḥa: וֹ ֖ת ָצ ֲע שׁי ִ֥א ְו umgestellt, mit der Konsequenz, dass sich auch die Übersetzung ändert. (Yeivin bezweifelte diese Abfolge in L, gleichwohl lässt sie sich in vielen Handschriften nachweisen.) Der Bearbeiter der BHS folgte dem Befund in der Handschrift: (Tifḥa) unter וֹ ֖ת ָצ ֲע und rekonstruierte das Merka unter שׁי ִ֥א ְו. 294 G. Weil machte kein Geheimnis aus seinem wenig bescheidenen Anspruch bezüglich der Edition der Masora: „Das Ergebnis ist der hier vorgelegte Versuch, nach dem von Jakob ben Chajjim in der Rab-binerbibel von 1524/25, der sog. Bombergiana, unternommenen der zweite seiner Art“.

295 Die Anzahl und der Umfang der Mp-Noten in der Marginalie von BHS ist um über ein Drittel höher als in der Handschrift L. Denn die Mp-Noten sind ergänzt um Informationen, die sich entweder aus dem Kontext einer Mm-Note ergeben oder die unkommentiert aus anderen Codizes (BM Or. 4445) oder masoretischen Werken (Minḥat Shay) übernommen wurden; so wird z. B. aus der Mp-Note ׄל für Hapaxlegomenon in L in der BHS (für den Rezipienten unbemerkt) die Note שׁילב ׄלו ׄג und referiert dabei auf nicht dokumentiertes masoretisches Material in der Handschrift oder in anderen Kodizes.

296 Vgl. Weil 1971.

werden jedoch von Weil nur einmal und in stark veränderter Form als Mm-Liste §1795 wiedergegeben. So benennt Weil diese Okhla-Liste in seiner Mm-Liste §1795 אֺל ׄתכ ׄזׄי וֹל ׄרקו (Liste mit 17 Fällen אל geschrieben aber ול gelesen) nach der Bezeichnung ihres ersten Vorkommens in 2Sam 16,18, obwohl sie an den beiden anderen Stellen eine andere Listenüberschrift haben: ׄמיסו ול ׄרקו אל ׄתכ ׄי ׄה (Liste mit 15 Fällen אל geschrie-ben aber ול gelesen) und andere Simanim haben. Zudem trägt Weil in seiner edierten Mm-Liste §1795 der internen Zählung, den unterschiedlichen Lesarten der Simanim und dem Charakter der Listen als Okhla-Listen keinerlei Rechnung, sondern verän-dert die Simanim willkürlich in die von ihm antizipierten Qere-Lesarten. Da Weil diese Methode vielfach wiederholt, ist seine Massorah Gedolah mit kritischer Vorsicht zu benutzen und repräsentiert (wie schon die Masora parva) gerade nicht die Masora des Kodex Leningradensis, sondern ihre normalisierte Form.297 Die BHS bleibt als Handausgabe der hebräischen Bibel mit textkritischem Apparat und gedruckter Masora auf Grundlage einer vollständigen tiberiensischen Handschrift die einzige wissenschaftlich geeignete Ausgabe für die textkritische Forschung.298

Im Dokument Kay Joe Petzold Masora und Exegese (Seite 103-106)