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Ethische Blickwinkel zu Zwangsberatung

Im Dokument Sinn in der Unfreiwilligkeit (Seite 39-43)

Seit dem 19 Jahrhundert beschäftigt der Konflikt der Bedeutung von Freiheit im Ge-gensatz zur Anpassung die Menschheit (vgl. Ackermann, 2018, S.31). Eine Kon-frontation der beiden Begrifflichkeiten Individuum vs. Gesellschaft verschafft das klare Bild einer Kontroverse: Menschen haben in ihrem Handeln das Ziel, Freiheiten auszuleben, die Gesellschaft hingegen befiehlt, sich in Systemen einzufinden (vgl.

Kreissl, 2000, S.25). Die Entwicklung der solidarischen Beziehung zwischen pro-fessionellen Helfer*innen und Klient*innen durchlebte seit den 70er Jahren einen Bruch, welcher durch das Missverhältnis zwischen dem unterstützenden Selbstver-ständnis der sozialen Arbeit und politisch motivierten Leistungsanforderungen ent-stand. Die Basis der sozialberuflichen Profession war und ist es jedoch, die ureige-nen Interessen von Klient*inureige-nen zu vertreten und ihre Recht auf Selbstbestimmung zu respektieren, bzw. zu fördern (vgl. Kaminsky, 2015, S.2f). Angesichts jenes Ver-ständnisses wird die Aussage von Conen, dass professionelle Helfer*innen die Aus-übung von Zwang kritisch betrachten, erklärbar. Sie erläutert weiter, dass jene vor allem in Deutschland aufgrund der Historie Hemmungen haben, Macht durch De-terminierungen auszuüben (vgl. Conen, 2020, S. 71, zit. n. Conen, 1993). Schwabe, Evers und Vust legen als Beispiel den inneren Konflikt von Sozialpädagog*innen dar, welche eine Diskussion um die Ausübung von Zwangsmaßnahmen oftmals nicht zulassen, da die Emotion mitschwingt, den eigenen Berufsstand zu verraten und dem eigentlichen Auftrag nicht nachzukommen. Zwang und Kontrolle sollte der Polizei überlassen werden, so die vielverbreitete Haltung (vgl. Schwabe, Evers &

38 Vust, 2008, S.16). Eine Begründung eben jener inneren Konflikte wird einmal mehr verständlich, wenn philosophische Grundhaltungen zur Freiheit in Erinnerung geru-fen werden. Lebenswerke der bedeutendsten Philosophen handeln von einer Klä-rung des Begriffes, und mit eben solcher Intensität wurde daran gearbeitet, Emp-fehlungen eines ethisch-adäquaten Umgangs mit der Freiheit der*s Einzelnen in der Gesellschaft abzugeben. Mill plädiert für die Gewährung absoluter Freiheit unter der Prämisse, dass kein anderer als man selbst Schaden trage von den Risiken gelebter Freiheit (vgl. Mill, 2011, S.78f). Rousseau hingegen vertrat den recht konträren Standpunkt, dass der allgemeine Wille der Mehrheit über den Willen von Einzelper-sonen gestellt werden darf, bis hin zur Ausübung von Zwangsmaßnahmen zur Durchsetzung von Abstimmungen (vgl. Rousseau, 1758, S. 51). Doch so wie auch Mill und Rousseau uneinig sind über die Freigabe von Autonomie an Einzelperso-nen, so herausfordernd ist bis heute jenes Spannungsverhältnis für Beratende. So-gar im Bereich der Erwachsenenpädagogischen Beratung, welche ein Maximum an Freiwilligkeit für das Beratungssetting voraussetzt, sind professionelle Helfer*innen immer wieder gefordert, zwischen den Anforderungen der Auftraggeber (bspw.

AMS) und den eigenen Werten im Hinblick auf die Durchführung regulativer Macht zu balancieren. Pätzold und Ulm befinden es als Aufgabe der Berater*innen, bereits zugestandene Freiheiten zu verteidigen, sowie Gestaltungsspielräume bei Gele-genheit auszuweiten (vgl. Pätzold & Ulm, 2015, S.194).

Im Sinne eines ethischen Zugangs zu Bildungsberatung wurden in Deutschland vom Nationalen Forum Beratung in Bildung, Beruf und Beschäftigung (nfb), Quali-tätsstandards ausgearbeitet im Hinblick auf den Umgang mit Zwangskontexten. Die Standards appellieren an die Beratungsperson, sowohl die Motivation von unfreiwil-ligen Klient*innen bestmöglich zu fördern, jedoch transparent zu sein bezüglich dro-hender Sanktionen durch Verweigerung des Auftrags. Die Beratungsorganisation selbst hat zur Aufgabe, die Rechte der Klient*innen verständlich zu vermitteln, größtmögliche Handlungsspielräume anzubieten, sowie über alternative freiwillige Angebote zu informieren. Politische Entscheidungsträger*innen sind gefordert, die Auftragslage und Rollen von Beratenden zu klären, um Spannungsverhältnissen zwischen Hilfe und Kontrolle entgegenzuwirken, sowie alternative Angebote aufzu-stellen, welche auf freiwilliger Basis konsumiert werden können (vgl. nfb, 2014, S.15).

39 Suschek kritisiert, dass es vor allem am Wandel vom unterstützenden Sozialstaat hin zu einer neoliberalen Form der Führung liegt, dass ethische Standards, wie der Stellenwert der Menschenwürde und die Bedeutung der Herstellung von Chancen-gleichheit, schwinden. Der aktivierende Sozialstaat unterstelle Einzelpersonen Ei-genverantwortung an misslungenen Lebenssituationen, wie existentielle Notlagen (vgl. Suschek, 2013, S.68). Ein Beispiel für die Einschätzung des Staates zu Moti-ven von unzureichend erbrachter Leistung in Gegenüberstellung mit der Erfor-schung von tatsächlichen Hintergründen zu Leistungsverweigerung bietet eine qua-litativ angelegte Studie der Sozialwissenschafterin Anne Ames im Großraum Ba-den-Württemberg. Im deutschen Sozialgesetzbuch (SGB) II begründet der § 31 Pflichten von Bürger*innen, die eigene Existenz zu sichern und erläutert, durch wel-che (unterlassenen) Handlungen das Recht auf Grundsiwel-cherung durch den Staat für bestimmte Zeit gekürzt wird oder wegfällt. Solche Pflichtverletzungen wären bei-spielsweise Terminversäumnisse, die Verweigerung einer Bildungs- oder Arbeits-maßnahme oder die Ablehnung eines Stellenangebots, welches vom Gesetzgeber als zumutbar eingestuft wird (vgl. §31 Abs.1 SGB). Begründet werden jene Sankti-onen damit, dass das Absolvieren der gesetzlichen Auflagen von hilfsbedürftigen Personen deren finanzielle Autonomie stärkt, beziehungsweise die Verweigerung dazu führt, dass Menschen in ihrer Hilflosigkeit und wirtschaftlichen Abhängigkeit verharren. Weiter besteht die Annahme, dass eine durchgeführte Sanktion dazu führt, dass in Zukunft Angebote zur Selbstermächtigung häufiger angenommen wer-den (vgl. Ames, 2009, S. 12). Anhand von 30 problemzentrierten Interviews mit sanktionierten Personen nach § 31 wurde analysiert, welche Begründungen zur Ab-lehnung von Trainings- oder Stellenangeboten führten und ob erfolgte Sanktionen die Bereitschaft zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt in Zukunft erhöhten. In den Ergebnissen zeigte sich, dass vielfach nicht die Bereitschaft fehlen würde, aktiv an einer Verbesserung des Einkommens mitzuarbeiten, sondern vor allem fordernde Lebensumstände und psychische Erkrankungen, sowie negative Erfahrungen mit aktivierenden Maßnahmen dazu führten, dass Menschen widerständig agierten.

Herausgearbeitet wurde, dass vor allem durch mangelnde Ressourcen (Zeit und Kompetenz von Mitarbeiter*innen) die prekären Lebensumstände der Betroffenen keine Beachtung gefunden hätten im Lösungsfindungsprozess (vgl. Ames, 2009, S.142; S.171). Sanktionen führten auch in Folge nur in wenigen Fällen dazu, dass

40 Klient*innen künftigen Anforderungen des Gesetzgebers nachkamen. Wenn doch, so waren diese jedoch nicht von Hoffnung auf eine tatsächliche Chance auf Einglie-derung in den ersten Arbeitsmarkt geprägt, sondern von entmutigter Unterordnung (vgl. Ames, 2009, S.172). Das Ergebnis jener Untersuchung zeigt auf, dass die Be-rücksichtigung individueller Lebensumstände, persönlicher Ressourcen und Defi-zite zum Empowerment von Klient*innen von hoher Bedeutung ist. Die Unterstellung der Arbeitsunwilligkeit oder der bewussten Ausbeutung des Sozialstaates durch Ar-beitslose in der so genannten „sozialen Hängematte“ wird hier nicht bestätigt. Es kann herausgefiltert werden, dass negative Erfahrungen mit Maßnahmen zu Resig-nationen bei Personen führen können, jedoch ebenso, dass intensive Beratung von qualifiziertem Beratungspersonal dazu beitragen kann, passgenau(er)e Lösungen zu finden, um ethische Standards größtmöglich einzuhalten.

Im Jahr 2001 wurden in Deutschland anhand einer Fallstudie zur Zwangsbehand-lung von Menschen, welche an Schizophrenie erkrankten, Haltungen der verschie-denen Professionen, welche ins Behandlungssetting einbezogen sind, untersucht.

Insgesamt nahmen 520 Personen aus den Bereichen der Psychiatrie, Psychologie, der Sozialen Arbeit, der Pflege, sowie Angehörige von Schizophreniepatient*innen an der Studie teil. Den Studienteilnehmer*innen wurden 3 Fallbeispiele vorgestellt, welche weder juristisch noch aus psychiatrischer Sicht klare Vorgehensweisen in-dizierten. Fallbeispiel 1 handelte von einer Person mit paranoiden Angststörungen, welche sich dadurch von der Außenwelt isolierte. Fallbeispiel 2 berichtete von einer Patientin mit Rezidiv (wiederkehrende Psychosen), von welcher eine dezente Fremdgefährdung für die eigene Mutter ausging. Sowohl beim ersten als auch beim zweiten dargestellten Fall wurde ersichtlich, dass sich Sozialarbeiter*innen in ihrer Haltung zu Zwangskontexten von den restlichen Berufsgruppen, sowie den Laien unterschieden, indem sie sich weitaus weniger für determinierende Maßnahmen durch Zwangseinweisungen oder Zwangsmedikation aussprachen.

Der dritte Fall beschrieb einen Patienten, welcher durch wiederkehrende Rückfälle in die Schizophrenie stark beeinträchtigt war in der adäquaten Selbstversorgung.

Hierbei wurde jedoch keine Fremdgefährdung eingeschätzt. Zusätzlich wurden in jenem Fall auch noch verändernde Umstände (Herzerkrankung oder Wohnungsver-lust) abgefragt und ob diese zu einer Befürwortung von Zwangsbehandlungen

füh-41 ren würden (vgl. Steinert et al., 2001, S.700ff). In jenem Fall variierten die Haltun-gen der Berufsgruppen besonders stark. Auch hier war, wie in Abbildung 1 zu sehen ist, die Gruppe der Sozialarbeiter*innen diejenigen, die die meiste Zurückhaltung zeigten zur Zwangseinweisung oder Zwangsmedikation (vgl. Steinert et al., 2001, S.704).

Antwortverhalten nach Berufszugehörigkeit, Kasuistik 3

Abbildung 1: Antwortverhalten nach Berufszugehörigkeit

Quelle: In Anlehnung an Steinert et al., 2001, S.704.

Steinert et al. erklären sich diese Abweichungen aufgrund einer möglichen diffe-renzierten Ethikbildung der verschiedenen Berufsgruppen. Sozialarbeiter*innen hätten überdies intensivere Erfahrungshorizonte mit Patient*innen, sowie eine alt-herkömmlich-kritische Haltung psychiatrischen Behandlungen gegenüber (vgl.

Steinert et al., 2001, S.706).

Im Dokument Sinn in der Unfreiwilligkeit (Seite 39-43)