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Sinn in der Unfreiwilligkeit

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Academic year: 2022

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Matr.Nr. 00603176

Sinn in der Unfreiwilligkeit

- zum Sinnempfinden psychosozialer Berater*innen in Zwangskontexten

Masterarbeit

zur Erlangung des akademischen Grades eines Master of Sience (MSc)

im Rahmen des Universitätslehrganges Psychosoziale Beratung (Masterupgrade)

Wissenschaftliche Begutachterin: Univ.-Dozin. DDrin. Barbara Friehs Karl-Franzens-Universität Graz

und UNI for LIFE

Graz, Juli 2021

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Mein besonderer Dank für die Unterstützung zum erfolgreichen Abschluss vorliegen- der Arbeit gilt:

Fr. DDr.in Friehs für die Ermöglichung, mein persönliches Interessensgebiet näher zu erforschen, sowie die stete Beantwortung meiner Fragestellungen zum Forschungs-

prozess.

Meinem Lebenspartner Canice für seine unermüdlichen humorvollen Motivations- sprüche, der Vernetzung mit Expert*innen in Zwangskontexten, der Erprobung mei-

nes Interviewleitfadens und dem Korrekturlesen der Arbeit.

Meiner Familie, welche sich aufrichtig mit mir über meine persönliche Weiterentwick- lung freut.

Meinen Freund*innen, welche sich für neue Erkenntnisse interessierten, sich mit mir über Fortschritte freuten, mich daran erinnerten, dass Pausen für effektives Voran- kommen unerlässlich sind und diese Pausen mit ausgleichenden Aktivitäten füllten.

Der Kolleg*innenschaft meines Partners für Vernetzungen zu Interviewpartner*innen, meinen Interviewpartner*innen für ihre Expertise und Zeit, welche besonders im Tä-

tigkeitsfeld psychosozialer Zwangskontexte ein kostbares Gut ist.

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Vorliegende Arbeit wurde im Zuge des Masterlehrgangs für psychosoziale Bera- tung verfasst und beinhaltet als zentrale Thematik das Sinnempfinden von psycho- sozialen Berater*innen in Zwangskontexten. Hier werden zwei Gegenstände mitei- nander verknüpft, welche in ihrem Zusammenspiel in der deutschsprachigen For- schung noch wenig Aufmerksamkeit erhielten. Zum einen stellt die psychosoziale Beratung in Zwangskontexten aufgrund von Widerständen bei Klient*innen eine Herausforderung im Arbeitsalltag für Berater*innen dar, zum anderen ist eine Messbarkeit von erfolgreichen Beratungsabschlüssen in der Forschung nur be- dingt möglich, da Kontrollgruppen fehlen. Jene Bedingungen erschweren die Erfül- lung mancher Faktoren der aktuellen Sinnforschung, welche im Theorieteil vorlie- gender Arbeit ausführlich dargestellt wird. Zielsetzung der Auseinandersetzung mit der Thematik ist zu ergründen, welche Sinnfaktoren vorwiegend auf psychosoziale Berater*innen in Zwangskontexten positiv wirken, um Erschöpfungszuständen und somit Fluktuation entgegenzuwirken. Dazu wurden zehn Expert*innen in ver-

schiedensten determinierten Beratungsbereichen zu ihren Haltungen befragt und das Datenmaterial anhand der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring ausge- wertet. Es ergab sich ein klarer Fokus auf die Bedeutsamkeit einer stabilen und unterstützenden Teamstruktur, sowie eine hohe persönliche Übereinstimmung in Bezug auf die vorgegebenen Zielsetzungen zuweisender Stellen in den Beratun- gen. Kritik wurde vor allem geäußert an zeitlich einschränkenden Rahmenbedin- gungen und in Folge unzureichender Möglichkeiten des Beziehungsaufbaus und adäquater Beratungsbetreuung. Das Ergebnis kann für politische Entscheidungs- träger*innen, Leitungspersonal und Fachpersonen selbst als Orientierungshilfe dienen, welche stabilisierenden Faktoren in jenem fordernden Kontext wesentlich sind und wo Strukturen erhalten bleiben sollen, bzw. einer Veränderung bedürfen.

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Abstract

The present work was written during the master’s course for psychosocial counsel- ing and contains as a central topic the sense of meaning of psychosocial counselors in coercive contexts. Here, two topics are linked to one another which, in their inter- play, have received little attention in German-language research. On the one hand, psychosocial counseling in coercive contexts poses a challenge in everyday work for counselors due to resistance from clients, on the other hand, it is only possible to measure successful counseling results in research to a limited extent, as there are no control groups. These conditions make it difficult to meet certain factors in current research on meaning, which is presented in detail in the theoretical part of this work. The aim of dealing with the topic is to find out which meaningful factors mainly have a positive effect on psychosocial counselors in coercive contexts in order to counteract states of exhaustion and thus fluctuation. To this end, ten ex- perts were asked about their attitudes in a wide variety of dedicated consulting areas and the data was evaluated using the qualitative content analysis according to Mayr- ing. There was a clear focus on the importance of a stable and supportive team structure, as well as a high level of personal agreement with regard to the given objectives of the assigning bodies in the deliberations. Criticism was mainly ex- pressed of the time-limiting framework conditions and as a result of insufficient op- portunities to build relationships and adequate counseling. The result can serve as an orientation aid for political decision-makers, management staff and specialists themselves, which stabilizing factors are essential in that demanding context and where structures should be maintained or require change.

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Inhalt

Abbildungsverzeichnis ... 6

1 Einleitung ... 8

2 Zwang vs. Freiheit ... 11

2.1 Begriffsdefinitionen von Zwang und Freiheit ... 11

2.1.1 Handlungsfreiheit vs. Willensfreiheit ... 12

2.2 Historisch-gesellschaftliche Entwicklungen von Freiheit ... 13

2.3 Aporie von Freiheit und Zwang in der Politik ... 14

2.4 Philosophische Haltungen zum Stellenwert der Freiheit ... 15

2.4.1 politische Handlungsfreiheit ... 15

2.4.2 psychologische Willensfreiheit ... 16

2.5 Diskurse zur Lage der politischen Freiheit in der Gegenwart ... 19

3 Psychosoziale Beratung ... 21

3.1 Definition... 21

3.2 Identitätspfeiler der Beratung... 22

3.3 Abgrenzungen zu fachnahen Disziplinen ... 24

4 Psychosoziale Beratung im Zwangskontext ... 25

4.1 Beratungsfelder im Zwangskontext ... 26

4.1.1 Bewährungshilfe ... 27

4.1.2 Erziehungshilfe ... 27

4.1.3 Suchtbehandlung und Suchtprävention ... 28

4.1.4 Bildung und Arbeitsmarkt ... 28

4.2 Ausdifferenzierung des Zwangsberatungsbegriffs ... 30

4.3 Bedeutung der Freiwilligkeit ... 31

4.4 Klient*innentypologie ... 32

4.5 Wirkung von Zwang ... 33

4.6 Herausforderungen von Zwang ... 35

4.7 Ethische Blickwinkel zu Zwangsberatung ... 37

4.8 Chancen im Zwangskontext ... 41

4.9 Diskurse zu Zwangsberatungen ... 43

5 Meaningful Work ... 45

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5.1 Der Sinn und die Sinnerfüllung ... 45

5.2 Sinn in der Arbeit ... 47

5.2.1 Das Job Characteristics Model ... 48

5.2.2 Sinnfaktoren im Beruf... 49

5.2.3 Sinnkrisen und Sinnverlust ... 54

5.2.4 Exkurs: Zum Verhältnis von Gehalt und Sinn in der Arbeit ... 56

5.2.5 Sinn und Zufriedenheit ... 57

5.3 Sinnquellen psychosozialer Berufsgruppen ... 58

6 Forschungsdesign ... 59

6.1 Forschungsziele und Forschungsfrage ... 60

6.2 Qualitative vs. Quantitative Forschung ... 61

6.2.1 Quantitative Forschungsmethode ... 62

6.2.2 Qualitative Forschungsmethode ... 62

6.3 Durchführung der Erhebung ... 64

6.3.1 Auswahl der Stichprobe ... 64

6.3.2 Das leitfadengestützte Expert*inneninterview ... 65

6.3.3 Der Interviewleitfaden ... 67

6.4 Transkription und Transkriptionsregeln ... 69

6.5 Auswertung mit qualitativer Inhaltsanalyse ... 70

6.5.1 Qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring ... 70

6.5.2 Kategorienzuteilung anhand MAXQDA ... 71

6.5.3 Inhaltliche Strukturierung ... 72

7 Darstellung der Ergebnisse ... 74

7.1 Beraterische Ausgangssituation ... 74

7.1.1 Zuweisende Stellen ... 74

7.1.2 Kontext der Zuweisung ... 75

7.1.3 Haltungen von Klient*innen ... 76

7.2 Orientierung ... 78

7.2.1 Vorgegebene Ziele ... 78

7.2.2 Ziele von Klient*innen ... 79

7.2.3 Umgang mit divergierenden Zielen ... 80

7.2.4 Zielkohärenz ... 81

(7)

7.3 Kohärenz ... 82

7.3.1 Einschätzung der Notwendigkeit von Zwang ... 83

7.3.2 Einschätzung der Rahmenbedingungen ... 84

7.3.3 Herausforderungen und Ambivalenzen ... 88

7.3.4 Gesetzliche Veränderungswünsche für Klient*innen ... 90

7.4 Zugehörigkeitsgefühl ... 92

7.4.1 Umgangsformen im Kollegium ... 93

7.4.2 Bedeutsamkeit von Austausch ... 93

7.4.3 Kooperation mit zuweisenden Stellen ... 95

7.5 Bedeutsamkeit ... 97

7.5.1 Definition positiver Beratungsabschlüsse... 97

7.5.2 Subjektive Wahrnehmung der Zielerreichung ... 99

7.5.3 Wirksamkeitsempfinden persönlicher Interventionen ... 101

8 Diskussion und Interpretation der Ergebnisse ... 107

9 Fazit und Ausblick ... 113

Literaturverzeichnis ... 117

Anhang ... 131

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Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Antwortverhalten nach Berufszugehörigkeit ... 41 Abbildung 2: Job Characteristics Model ... 48 Abbildung 3: Codesystem ... 73

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Qualitative vs. quantitative Forschungsmethode ... 63 Tabelle 2: Interviewcodes ... 67 Tabelle 3: Kodierleitfaden ... 72

(9)

Abkürzungsverzeichnis

Abs. Absatz

AMS Arbeitsmarktservice

BGE Bedingungsloses Grundeinkommen

bspw. beispielsweise

bzw. beziehungsweise

ca. circa

KB Kompetenz+Beratung

(institutionenübergreifendes Beratungsformat)

o.D. ohne Datum

SGB Sozialgesetzbuch

u.a. und andere

vs. versus

v.a. vor allem

(10)

8

1 Einleitung

In Stellenanzeigen für psychosoziale Tätigkeitsbereiche findet sich als motivieren- der Faktor oftmals die Aussage „Ihr Job macht Sinn“ wieder. Wenn jedoch jene Sinnhaftigkeit im Sozialbereich so eindeutig vorhanden ist, wie werden die hohen Zahlen an Erschöpfungszuständen erklärt, da eine sinnvolle Tätigkeit laut Fachlite- ratur gleichzeitig Burnout- präventiv wirkt (vgl. Längle & Künz, 2016, S.36)?

Ein Blick auf die Realität des sozialen Arbeitsbereichs macht deutlich: ein Großteil der Klient*innen befindet sich nicht aufgrund einer selbstinitiierten Kontaktaufnahme in Betreuung oder Beratung (vgl. Kähler & Zobrist, 2017, S.19). Jene Ausgangslage wird als Zwangskontext bezeichnet und gilt als besonders herausfordernd aufgrund des Doppelmandats zwischen Hilfe und Kontrolle. Die Soziologin Tatjana Schnell erforschte wesentliche Faktoren für Sinnempfinden und gelangte anhand ihrer For- schung zu dem Schluss, dass die Bedeutsamkeit des eigenen Handelns für Andere den höchsten Wert an subjektivem Sinnempfinden ausmacht (vgl. Schnell, 2016, S.157). Da jedoch die Wirksamkeit von Zwangskontexten in wissenschaftlichen Stu- dien nur unzureichend erforscht werden kann und auch hier Untersuchungen zei- gen, dass ca. die Hälfte der Beratungsbetreuungen von Fachpersonal als erfolglos eingestuft werden, drängt sich die Frage nach dem tatsächlichen Sinnerleben psy- chosozialer Berater*innen in Zwangskontexten unweigerlich auf (vgl. Schwabe et al., 2008, S.16; vgl. Kähler, 2005, S.123f).

Vorliegende Arbeit soll nun den Gegenstand der psychosozialen Beratung in Zwangskontexten mit der Sinnfrage verknüpfen, was allumfassend bis dato in der deutschsprachigen Forschung noch wenig Aufmerksamkeit erhielt; auch wenn Un- tersuchungen zu einzelnen Sinnfaktoren einen ganzheitlichen Blick auf die Thema- tik ermöglichen und im Theorieteil aufgesplittet erörtert werden. Die konkrete Fra- gestellung, welche geklärt werden soll, lautet:

Welche Faktoren der aktuellen Sinnforschung kommen beim berufs- bezogenen Sinnempfinden psychosozialer Berater*innen in Zwangs-

kontexten zu tragen?

(11)

9 Weiterer Fokus der Arbeit ist, neben dem Erfragen der Bedeutsamkeit und Wirkung von psychosozialen Zwangsberatungsformaten, eine Plattform zu bieten, um per- sönliche Bewertungen von Zwang und Freiheit darzulegen. Ziel hierbei ist die Frage nach Wertekonflikten zu klären, da psychosoziales Fachpersonal vielfach den An- spruch hat, rein unterstützend und gefällig zu agieren und die Ausübung von Zwang auch unangenehme Forderungen an Klient*innen impliziert (vgl. Conen, 2020, S.23).

Meine Motivation, mich mit jener Thematik zu befassen liegt in meinem persönlichen Arbeitsumfeld, welches die Betreuung Jugendlicher im Zwangskontext ist. Das Er- leben hoher Fluktuation und zweifelnder Aussagen mancher Kolleg*innen, sowie innere Ambivalenzen zur Wirksamkeit von Interventionen ließ das Interesse an ei- ner näheren Auseinandersetzung zu Faktoren der Sinnhaftigkeit in determinierten Kontexten wachsen.

Die Arbeit teilt sich in einen theoretischen und einen empirischen Teil auf. Der the- oretische Part beginnt mit einer historisch-philosophischen Auseinandersetzung mit der Komplexität des Zwangs- und Freiheitsbegriffs und soll einen Einblick in unge- klärte Fragen ermöglichen. Es wird darauf eingegangen, welche Dimensionen der Begrifflichkeiten bis heute einer steten Diskussion ausgesetzt sind. Zusätzlich soll eine Basis für fachliche Meinungsbildung zur Legitimation oder Kritik von Zwangs- kontexten geboten werden.

Es erfolgt eine Abgrenzung der psychosozialen Beratung zu fachnahen Disziplinen und eine kritische Auseinandersetzung mit ethischen Blickwinkeln und fachinternen Diskussionen zur Thematik der Zwangsberatung. Näher eingegangen wird auf de- terminierende Beratungsbereiche, welche in vorliegender Arbeit empirisch unter- sucht werden. Darauf folgt eine Auseinandersetzung mit Aspekten der aktuellen Sinnforschung in Arbeitskontexten.

Im nächsten Teil wird das Forschungsdesign zur Erhebung von Datenmaterial auf Basis der qualitativen Sozialforschung nach Mayring vorgestellt. Anhand von zehn Expert*inneninterviews in Zwangskontexten der Erziehungsberatung, der Bewäh- rungshilfe und Insass*innenberatung, in Maßnahmen des AMS, als auch in der Suchtberatung wurden Sinnfaktoren der Arbeitstätigkeit abgefragt und mithilfe der

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10 qualitativen Inhaltsanalyse und dem Programm MAXQDA kategorisiert und ausge- wertet.

Anschließend werden die Ergebnisse diskutiert und anhand bereits ausgearbeiteter, sowie ergänzender Theorieinhalte interpretiert. Ebenso erfolgt im Diskussionsteil eine kritische Auseinandersetzung mit dem Forschungsprozess. Im letzten Kapitel wird die Bedeutung der Ergebnisse für die Berufsgruppe der psychosozialen Bera- ter*innen aufgezeigt und auf weitere notwendige Forschungsaspekte im Hinblick auf die Thematik der Sinnerfüllung in unfreiwilligen Beratungskontexten hingewiesen.

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11

2 Zwang vs. Freiheit

Jenes Kapitel soll wesentliche Begriffe vorliegender Masterthesis erörtern, um eine einheitliche Auffassung von Bezeichnungen zu ermöglichen, als auch die histori- schen Zugänge und Entwicklungen von Freiheit und Zwang fachübergreifend zu beleuchten.

2.1 Begriffsdefinitionen von Zwang und Freiheit

„… [Zwang] zeichnet … sich … v.a. dadurch aus, dass die betroffene Person oder Gruppe keine eigenständige Alternative zu dem erzwungenen Verhalten ausbilden kann“ (Brockhaus, o.D.). Im Duden der deutschen Rechtschreibung wird Zwang bestimmt als „Einwirkung von außen auf jemanden unter Anwendung oder Andro- hung von Gewalt“ (Dudenredaktion, o.D.). Gewalt schließlich definiert sich über die „Macht, Befugnis, das Recht und die Mittel, über jemanden, etwas zu bestim- men, zu herrschen“ (Dudenredaktion, o.D.). Ein weiterer Hinweis listet Möglichkei- ten von Institutionen auf, welche Gewalt anwenden, beispielsweise der Staat, die Judikative, Obsorgeberechtigte oder Spirituelle Einrichtungen (vgl. Dudenredak- tion, o.D.). Einem Menschen Zwang auszusetzen, bedeutet, ihm seine Freiheit zu nehmen, schreibt Isaiah Berlin (vgl. Berlin, 1969, S.159).

Um somit ein Verständnis des Zwangsbegriffes zu entwickeln, wird der Freiheitsbe- griff, als sein Antonym, folgend näher ausgeführt. Der Theologe Gottfried Seebass schickt in seinem Artikel „Der Wert der Freiheit“, in welchem er Begriffsdefinitionen von Freiheit gegenüberstellt und bewertet, voraus, dass der Begriff der Freiheit in- flationär im Sinne politisch-ökonomischer Zwecke verwendet wurde und die Bedeu- tung vielfache Interpretationsspielräume lasse, je nach Interessens- und Fachgebiet der Begriffsnutzer*innen und Rezipient*innen (vgl. Seebass, 1996, S.759). Um sich dem Kern des Begriffs anzunähern, erläutert er den Aufbau des Ökonomen Fried- rich von Hayek zur Thematik: von der Handlungs- zur Hindernisfreiheit. Der Termi- nus der „Handlungsfreiheit“, welcher in seinem Verständnis bereits in die Antike Griechenlands zurückgeht, besagt, dass der Mensch Handlungen nach eigenem Willen ausführen kann. Da jene Begrifflichkeit und Erläuterung jedoch laut Seebass noch nicht ausreichen, um den Grundbegriff zu definieren, wird durch die so ge- nannte „Hindernisfreiheit“ deutlich, dass ausgesparte Barrieren notwendig seien,

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12 um Mensch, Tier oder der Natur Freiheit zu gewährleisten. Beispiele dafür wären die Möglichkeit der freien Bewegung ohne Fesseln, Zäune, oder Staudämme (vgl.

Seebass, 1996, S.761f). Der Politphilosoph Isaiah Berlin handelte Ende der 60er Jahre mit ähnlichem Gedankengut. Terminologisch unterteilt er in seinem Vortrag

„Two concepts of liberty“ den Freiheitsbegriff in negative und positive Freiheit. Ne- gative Freiheit bezieht sich auf die Freiheit, ohne Hindernisse zu handeln. Die posi- tive Freiheit hingegen beinhaltet die tatsächlichen Möglichkeiten des Menschen, in Aktion zu treten. Laut Berlin haftet dem Terminus der positiven Freiheit die Frage an, wer oder was der Ursprung sei, über Handlungen von Menschen zu bestimmen.

Im Gegenzug gehört die Frage, wie weit der Bereich der Gestaltungsspielräume von Menschen gesteckt sein muss, um diesen Raum nutzen zu können, zur negativen Freiheit (vgl. Berlin, 1969, S.159f). Auch der Philosoph John Stuart Mill befasst sich in seinem Essay „Über die Freiheit“ bewusst mit der Freiheit von Einzelpersonen.

Er sieht diese dadurch gegeben, wenn Möglichkeiten des Individuums nicht durch determinierende Taten von Mitmenschen eingeschränkt werden. Dies jedoch unter der Prämisse, dass Risiken und negative Konsequenzen der Freiheitshandlung ein- zig die ausübende Person trägt (vgl. Mill, 2011, S.78f).

2.1.1 Handlungsfreiheit vs. Willensfreiheit

In den vorangegangen Versuchen, eine Definition des vielschichtigen Freiheitsbe- griffes herzustellen, handelt es sich um die so genannte Handlungsfreiheit, welche vorwiegend Inhalt der vorliegenden Arbeit ist und im politischen Diskurs über die Determination von außen geführt wird.

Dennoch ist von wesentlicher Bedeutung, die Begrifflichkeit der Willensfreiheit von der Handlungsfreiheit abzugrenzen und deren Geltung zu erläutern, da die Argu- mentation gegen Zwangskontexte unter anderem Personen einen Mangel an tat- sächlicher Willensfreiheit zuschreibt (vgl. Rousseau, 1758, S.51; Recki, 2009, S.12).

Seebass subsumiert jene Willensfreiheit als Teil der Hindernisfreiheit. Sie kann nur gegeben sein, wenn der Mensch frei von Hindernissen ist, welche seinem Wollen nicht im Wege stehen. Als Beispiel nennt Seebass den Menschen, welcher unter

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13 Gewaltandrohung unfrei wird. Auf jene Ebene werden auch Krankheiten wie Sub- stanzabhängigkeiten oder psychische Zwänge als Hindernisse zur Ausübung von Willensfreiheit genannt (vgl. Seebass, 1996, S.762).

Ein tatsächlich freier Wille kann aufgezeigt werden, indem ein Mensch rational und durch miteinbeziehen der eigenen Beweggründe über Entscheidungsmöglichkeiten sinniert und letztendlich die Wahl auf eine vernunftgeleitete Option fällt. Jede erfolg- reiche Handlung beruht auf einem Zusammenspiel von Willens- und Handlungsfrei- heit (vgl. Recki, 2009, S.12).

2.2 Historisch-gesellschaftliche Entwicklungen von Freiheit

Das alte Griechenland ist als erste weltpolitische Bewegung dafür bekannt, eine revolutionäre Form der Freiheit durch die Polis erschaffen zu haben. Gesetze lösten Personenherrschaften ab. Die Römer bildeten durch das Recht auf Eigentum den Grundgedanken der Freiheit des Individuums weiter. Rückschläge der Ideologie wurden im Mittelalter durch Religion, beispielsweise der brutalen Vorgehensweise der Inquisition, erlitten, ohne die fortschreitende Entwicklung von Freiheit jedoch aufzuhalten. Mit Beginn der Renaissance im 15. Jahrhundert lebte das Gedanken- gut Roms und des antiken Griechenlands wieder auf. Das Loslösen des Menschen von der Masse, Bildung, sowie die Freiheit des Gedankenguts gewannen wieder an Bedeutung (vgl. Ackermann, 2018, S. 27 ff).

In Zeiten der Aufklärung trat schließlich das rationale Denken zum Wohle des tech- nischen Fortschrittes in den Vordergrund. Jegliche Haltungen, welche der Entwick- lung im Wege standen, sollten ausgespart werden. Denker der Romantik kritisierten jene Betrachtungsweise durch die Verbreitung des Gedankenguts zur unantastba- ren Würde des Individuums (vgl. Ackermann, 2018, S.31). So deutet Hegel in den Grundlinien der Philosophie des Rechts auf den für ihn in hohem Maße zentralen Grundsatz, hin, dass der Mensch bedeutsam sei aufgrund seines Menschseins an sich. Keine Staats- oder Religionsangehörigkeit ist in seiner Ausführung Argumen- tation, um Menschen in verschiedene Wertigkeitsebenen einzuteilen (vgl. Hegel, 1979, S.360). Er bezeichnete die Französische Revolution als die Grundlage des

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14 Freiheitsgedankens im Einzelnen und als Möglichkeit, einen von der Vernunft gelei- teten Staat zu errichten (vgl. Vieweg, 2012, S.30).

Die Zeit der Moderne brachte unterschiedlichste Bewegungen hervor, welche die Entwicklung der Freiheit vorantrieben, durch die Etablierung von Demokratien. Auch wenn zwischenzeitlich Diktatoren über Länder herrschten, so konnten diese Länder sich durch widerständische Bündnisse ihre Freiheitsrechte zurückeroberten. Bei- spiele dafür wären die Arbeiter*innenbewegung als Antwort auf den aufstrebenden Kapitalismus, die Frauenbewegung auf patriarchalische Strukturen oder die politi- schen Widerstandsbewegungen zu Zeiten des Nationalsozialismus (vgl. Acker- mann, 2018, S.32).

2.3

Aporie von Freiheit und Zwang in der Politik

Aporie bedeutet, die „Unmöglichkeit, eine philosophische Frage zu lösen, da Wider- sprüche vorhanden sind, die in der Sache selbst oder in den zu ihrer Klärung ge- brauchten Begriffen liegen“ (Dudenredaktion o.D.). Im Aristotelismus wird voraus- gesetzt, dass Bürger*innen sich in Freiheit zu bestehenden Gesetzen bekennen und diese Gesetze aufgrund der für sich selbst erkannten Sinnhaftigkeit befolgen. Den- noch beinhaltet die aristotelische Haltung die Notwendigkeit von Zwang, um politi- sche Grundhaltungen auszubilden. Diese Unstimmigkeit kann laut Rüdiger dazu führen, dass von der Politik die Gewaltausübung beispielsweise der Ökonomie überlassen wird. Im alten Griechenland wäre ein Beispiel dafür die Trennung der Polis von den Zwangsverhältnissen der Herrschaft und Knechtschaft. Jener Wider- spruch wurde bis heute nicht aufgelöst, sondern zeigt sich in der bestehenden poli- tischen Unabhängigkeit der Eliten über die wirtschaftlichen Zwänge der Arbeiter*in- nenklassen (vgl. Rüdiger, 2018, S.35fff).

Der Begriff der Freiheit wird in liberalen Politkreisen definiert als Wahlmöglichkeit.

Welche Rahmenbedingungen jedoch gegeben sind, um eine Wahl zu treffen, ist unwesentlich. Ein Beispiel dafür wäre die Gegebenheit, den Bürger*innen eines Staates die Freiheit zuzugestehen, Eigentum zu erwerben. Wie die finanziellen Mit- tel für jene Anschaffungen bereitgestellt werden können, ist Privatsache und wird

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15 von liberaler Politik nicht geregelt. Hegel kritisierte jene Haltung, begründet durch den Mangel an Mitbestimmungsrecht über die Rahmenbedingungen als vermeintli- che Freiheit (vgl. Rüdiger, 2018, S. 55f). Jene vermeintliche Freiheit kann verglei- chen werden mit den heutigen Grundvoraussetzungen, welcher Minderheiten oder minderprivilegierte Gruppierungen ausgesetzt sind, indem beispielsweise die Qua- lität der Schulbildung bestimmt wird durch die finanziellen Mittel der Erziehungsbe- rechtigten und somit bereits der Start in das Leben die Weichen legt für weitere Bildungschancen.

Freud schreibt in seiner Abhandlung „Das Unbehagen in der Kultur“ darüber, dass es so scheint, als würde die Herausbildung von Kultur und Gemeinschaft der Menschheit die Ausübung von individuellen Wünschen, und somit das Glückserle- ben kosten. Er nennt beispielsweise den Sexualtrieb, welcher durch gesellschaftli- che Normen einen beschränkenden Handlungsrahmen erhält. Obgleich Freud meint, dass sowohl liberale als auch konservative Persönlichkeiten von ihm gerne eine Antwort hätten auf die Lösungsfrage des Konfliktes zwischen Gemeinwohl, Kulturentwicklung und Individualität, so will und kann er diese nicht geben. (vgl.

Freud, 1923. 48f, Freud, 1930, Kap.8).

2.4 Philosophische Haltungen zum Stellenwert der Freiheit

Folgende Diskussion soll einen kurzen Einblick geben in bedeutsame Aspekte der Meinungsbildung zum komplexen Freiheitsbegriff.

2.4.1 politische Handlungsfreiheit

Mill beschreibt in seinem bekannten Werk „Über die Freiheit“, den Wert der Indivi- dualität des Menschen als sein höchstes Gut. Er kritisiert gesellschaftliche Maßnah- men zur Vereinheitlichung menschlichen Handelns, da jene das persönliche Glück, als auch die Entwicklung der Menschheit behindern würden. Die offensichtliche Fehlbarkeit des Menschen ist laut ihm keine Rechtfertigung für Zurechtweisungen durch den Staat, denn deckungsgleiche Lebensführungen und Haltungen der Men- schen sind nicht wünschenswert, beziehungsweise nur dann akzeptabel, wenn

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16 diese bereits durch angesammeltes Wissen ihre Meinung überprüft und für gut be- funden haben. Er begründet seine Priorisierung des unantastbaren Werts der Per- sönlichkeit des Menschen darin, dass nach seiner Annahme niemand widerspre- chen würde, dass die eigene Haltung in Entscheidungsfindungen einen erheblichen Beitrag leisten soll (vgl. Mill, 1860, S.78ff).

Rousseau hingegen sieht den Willen der Mehrheit eines Systems als unanfechtbare Richtline für Handlungen, welche die Freiheit von Einzelpersonen einschränken darf und erläutert, dass der Gehorsam gegenüber jenem Willen mit Zwang durch die Mehrheit zur Unterordnung durchgesetzt werden darf. Letztendlich geht er in seiner Argumentation so weit, dass ein Mensch, welcher sich nicht dem Allgemeinwillen beugen möchte, unfrei sei und somit zur Freiheit gezwungen werden soll (vgl.

Rousseau, 1758, S. 51).

Alexis de Tocqueville setzte sich Ende des 20 Jahrhunderts mit der Entwicklung des Freiheitsverständnis durch neue Gegebenheiten der Wohlfahrtsstaatlichkeit und dem Voranschreiten der Industrialisierung auseinander. Er regte an, den Anpas- sungsdruck, welcher durch Bürokratisierung und gesellschaftlich etablierende Insti- tutionen entstehe, nicht außer Acht zu lassen, da dieser die innere Haltung der Men- schen negativ verändern würde (vgl. Bluhm, 2018, S. 70). Die Gewährung von Frei- heit solle weiterhin nicht einzig an ihren Vorteilen zu messen sein, sondern um des Freiheitsgedankens selbst willen ermöglicht werden, um Vielfalt in der Gesellschaft und Souveränität des/r Einzelnen auch weiterhin zu wahren (vgl. Bluhm, 2018, S.75).

2.4.2 psychologische Willensfreiheit

Arthur Schopenhauer kommt in seinen Überlegungen über die Willensfreiheit zu der Überzeugung, dass ein wahrhaft freier Wille Utopie sei.

Dem empirischen Begriff der Freiheit zufolge heißt es: „Frei bin ich, wenn ich thun kann, was ich will“: und durch das „was ich will“ ist da schon die Freiheit entschieden. Jetzt aber, da wir nach der Freiheit des Wollens selbst fragen, würde demgemäß diese Frage sich so stellen: „Kannst du auch wollen, was du willst!“ (Schopenhauer, 1839, S.42)

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17 Er erläutert seine Erkenntnis anhand eines Beispiels, in welchem einem Mann nach getaner Arbeit viele Optionen freistünden. Er könne sich entscheiden, in ein Lokal zu gehen, einen ausgedehnten Spaziergang zu machen oder die Stadt zu verlassen und nicht mehr zurückzukommen. Doch statt all jene Optionen auszuführen, be- schließt der Mann, sich auf den Heimweg zu seiner Frau zu machen. Schopenhauer vergleicht jenen Mann mit dem Wasser, welches unter verschiedenen Umständen die Möglichkeiten hat zu verdunsten, einen Hang hinunterzulaufen oder zu Eis zu werden. Er veranschaulicht, dass das Wasser nicht frei sei zu wählen, da äußere Einflüsse bestimmen würden, welche Form das Wasser annimmt. Mit dem Mann und dessen Entscheidungen verhalte es sich ähnlich (vgl. Schopenhauer, 1839, S.77). Jener Vergleich ist für Birgit Recki, Philosophieprofessorin an der Universität Hamburg, dahingehend unbrauchbar, da der Mensch im Gegensatz zum Wasser die Möglichkeit hat, eigene Motive zu bedenken. Wasser hingegen ist der Form, welche es annimmt, ausgesetzt durch die Umstände der Naturgegebenheiten, in welchen es sich befindet und hat keine Beziehung zu seinen Beweggründen (vgl.

Recki, 2009, S.34).

Benjamin Libet führte im Jahr 1985 die bekannten Experimente zur Willensfreiheit durch, welche die Spannungen der Hirnregionen, die für Entscheidungen zuständig sind, maßen, während Personen eine Handbewegung zu einem selbst gewählten Zeitpunkt durchführten (vgl. Libet, 2005, S.167). Ergebnis der Untersuchung war, dass die Versuchspersonen selbst angaben, eine Entscheidung zu einem Zeitpunkt getroffen zu haben, welcher jedoch meist 350 bis 400 Millisekunden hinter dem Mo- ment lag, der im Hirn angezeigt wurde (vgl. Libet, 2005, S.173). Die Schlussfolge- rung für Libet lautete jedoch nicht, dass der Mensch unfrei sei in seinen Handlun- gen, sondern dass lediglich die Einleitung einer Entscheidung nicht gelenkt sei vom Willen. Durch seine Befragungen der Versuchspersonen konnte er in Erfahrung bringen, dass es einige Male vorkam, dass ein Drang zu einer Handbewegung be- wusst von ihnen unterdrückt wurde. Trotzdem jene Angaben dahingehend nicht re- präsentativ messbar waren, dass ein Bereitschaftspotential nicht in einer Handlung mündete, nahm Libet an, dass das Bewusstsein letztendlich kontrolliere, ob die Handlung tatsächlich vollzogen wird (vgl. Libet, 2005, S.181ff).

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18 Singer kritisiert die Begrifflichkeit einer möglichen freien Entscheidung damit, dass unzählige unbewusste Vorgänge mit einbezogen werden in einen Entscheidungs- prozess. Von frühkindlichen Erfahrungen, bis hin zu bereits durchlebten Situationen, welcher wir uns zwar zu erinnern vermögen, diese Erinnerungen jedoch nicht allzeit abgerufen werden (vgl. Singer, 2009, S.252f).

Habermas schließlich nimmt die Experimente Libets zum Anlass, um aufzuschlüs- seln, dass bei tatsächlich bedeutenden Abwägungsprozessen, mehr Komponenten zusammenspielen als die bloße Handbewegung, welche keine Konsequenzen für den/die Ausführende/n hat. Im realen Leben beinhalten Entscheidungsprozesse den Fokus auf ein Ziel mit dem Hinblick auf Ressourcen, Optionen und erwartbare Widerstände (vgl. Habermas, 2004, S.873).

Der deutsche Philosoph Dieter Wandschneider kommt bei seiner Auseinanderset- zung zwischen der Autonomie der Willensfreiheit und der Determination externer und interner Faktoren zu dem Ergebnis, dass diese nicht im Widerspruch stehen.

Sobald der Mensch sich bewusst ist, dass er geprägt wird von Anforderungen sei- nes Umfeldes, hat er die Möglichkeit, diese zu reflektieren und auch eigene Ent- scheidungen neu zu überdenken (vgl. Wandschneider, 2010, S.104). Weiter vertritt er die Ansicht, dass Vernunftprinzipien erst internalisiert werden müssen, damit diese zu einem Leitfaden von Handlungen werden, welche Menschen befähigen, aufrichtig und autonom über den eigenen Lebensweg zu bestimmen (vgl. Wand- schneider, 2010, S.106).

Jener Diskurs zeigt auf, dass frühgeschichtliche Haltungen bestehen, welche dem Menschen einen fundamentalen Mangel an Entscheidungsfreiheit diagnostizieren.

Aktuellere Debatten zur Willensfreiheit schreiben jedoch Personen sehr wohl die Fähigkeit zu, vernunftgeleitet, wenn auch nicht völlig determinationsfrei zu agieren.

Für vorliegende Masterarbeit diente jener Exkurs rein der Abgrenzung von Hand- lungsfreiheit zur Willensfreiheit. Die Diskussion um die Willensfreiheit und somit die Frage, ob Bestrafungen gerechtfertigt sind, sollten Menschen determiniert sein in ihrem Wollen, hat jedoch wenig Bedeutung für beraterische Zwangskontexte, da

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19 Beratungssituationen zielgerichtet sind und keinen Sanktionscharakter im Sinne ei- ner Bestrafung als Selbstzweck besitzen.

2.5 Diskurse zur Lage der politischen Freiheit in der Gegenwart

Die ostmitteleuropäische Bevölkerung erkämpfte sich, wie viele andere Staaten Eu- ropas bereits davor, in den 90er Jahren ihr Recht auf eine freie Marktwirtschaft. Von der damals aufgelebten Euphorie durch die Errungenschaft der Demokratie inklu- sive Kapitalismus sei jedoch heute keine Rede mehr. Die Krise der Wirtschaft hat, laut der Freiheitsforscherin und Soziologin Ulrike Ackermann, auch den Freiheits- begriff wieder in Bedrängnis gebracht, da Betriebe, Geldinstitute und Länder in Kri- senzeiten wenig Verantwortung übernehmen für Verschuldungen und sich dadurch abhängig machen (vgl. Ackermann, 2018, S.27).

Ackermann ist der Überzeugung, dass es an den Bürger*innen eines Landes liegt, sich deren Möglichkeit für ein selbstbestimmtes Leben zurückzuerobern, indem Tabuthemen und politische Mainstreamüberzeugungen kritisch betrachtet werden und vor allem Gebrauch gemacht wird von den Chancen, die eine freie Gesellschaft bietet, um das persönliche Leben individuell zu gestalten. Sie begründet ihre An- sicht, dass die vielumkämpfte Freiheit in der westlichen Welt gefährdet sei dahinge- hend, dass das Verständnis der Menschen geschwunden ist, die Bedeutung der unmittelbaren Wechselbeziehung zwischen ökonomischer, rechtsstaatlicher und persönlicher Freiheit zu erfassen. Die Angriffe auf den Kapitalismus und Forderun- gen nach alternativen Regelungen des Marktes sieht sie aus dem Grund kritisch (vgl. Ackermann, 2018, S.32f).

Der amerikanische Philosoph John Rawls wurde in seinen Versuchen, ein Modell von Fairness, welches zum maximalen Freiheitserleben des Einzelnen und der Ge- sellschaft führen soll, dahingehend kritisiert, dass er sich weder zu kapitalistischen noch zu sozialistischen Wirtschafts- und Staatsformen äußert. Dennoch kann der alternative Weg, welchen er vorschlägt, aufzeigen, dass er beide Formen für un- brauchbar befindet (Lüthy, 2016, S.61).

Er spricht sich dafür aus, dass Staaten zwei Grundsätzen folgen. Der erste lautet, dass allen Personen das höchste Maß an Freiheit zustehen soll, welches geboten werden kann. Der zweite Grundsatz soll darlegen, wie soziale und ökonomische

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20 Differenzen beschaffen sein müssen, um ein Maximum an Gerechtigkeit zu erzeu- gen. Dieser besagt, dass den Benachteiligten einer Gesellschaft durch ungleiche Verteilung der größtmögliche Gewinn zukommen muss und jene Positionen sollen für alle Menschen gleichermaßen zugänglich sein (vgl. Rawls, 1975, S.336). Be- gründet ist die Haltung Rawls zu ungleicher Verteilung dahingehend, dass Men- schen sich einig darüber sind, dass Anreize vonnöten sind, um Entwicklung zu er- möglichen (vgl. Lüthy, 2016, S.59).

Einen weiteren Denkanstoß zur Thematik bringt Reese-Schäfer, welcher anmerkt, dass heute sowohl die Mengen an Daten von Einzelpersonen im Internet, welche die Digitalisierung bringt, als auch Fingerabdrücke, sowie die voranschreitende Gentechnik die demokratische Freiheit in Bedrängnis bringt. Er beschreibt Entschei- dungen, die wir treffen, als minimale Beiträge zu einem komplexen Gefüge an poli- tischen und weltökonomischen Vorschreibungen (vgl. Reese-Schäfer, 2017, S.3).

Obgleich wir in Mitteleuropa in Demokratien leben, bedeutet dies nicht automatisch, dass diese Demokratien auch die Freiheiten der Individuen zuvorderst anstreben.

Um so viel Freiheit wie möglich zu sichern, sind auch in einer Demokratie ver- schiedenste Institutionen von Bedeutung, welche unabhängig voneinander agieren.

Genannt sei hier die Sicherung der Unabhängigkeit von Medien zur Legislative, die Souveränität der Judikative, des freien Marktes und des Bildungssystems, sowie die Einschränkung der Macht von determinierenden Religionsgruppen. Zur Erhaltung und zur Weiterentwicklung von Freiheit ist es unablässig, dass Institutionen ihre Strukturen stets überarbeiten, da durch die Spontanität des Zusammenspiels von individuellen Willensprozessen, die Sicherung der Freiheit unkalkulierbar wird (vgl.

Reese-Schäfer, 2017, S.8f). Eine jener Debatten wäre derzeit beispielsweise die um das bedingungslose Grundeinkommen (BGE). Befürworter*innen sprechen da- von, dass dieses den Menschen in einer zunehmend digitalisierten Welt wieder ein Stück Selbstbestimmtheit zurückgeben kann durch die Sicherheit, welches es bie- tet. Das BGE soll Freiheit bringen, sich kreativ und den eigenen Maßstäben ent- sprechend zu entwickeln, sowie missliche Arbeitsbedingungen, wie beispielsweise temporäre Arbeitsverträge, welche nicht durch ein Arbeits- oder Anstellungsverhält- nis rechtlich abgesichert sind, humanitärer anzuordnen (vgl. Schloen, 2020, S.VII).

Der Soziologe Dirk Baecker schließlich positioniert sich sehr klar als Befürworter von Zwang und auch der Ausübung von Gewalt, da jene Mittel für ihn unumgänglich

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21 sind für das Sicherheitsgefühl der Bürger*innen eines Landes. Er gibt zu bedenken, dass es die Aufgabe des Staates sei, normabweichendem Verhalten mit Transpa- renz und Entschlossenheit zu begegnen, da seines Erachtens Menschen ansonsten weder ihrer Steuerpflicht nachkommen, noch gesetzeskonform agieren würden. Die Androhung und Praxis von Gewalt diene somit dem Wohle aller und würde ein Le- ben in Freiheit erst ermöglichen, wobei auch er zu bedenken gibt, dass der tatsäch- liche Gewaltakt einzig jene Funktion haben soll, die Androhung von Gewalt glaub- haft zu machen (vgl. Baecker, 2008, S.385).

Bedeutung für vorliegende Masterarbeit hat der soeben dargelegte und aktuelle Dis- kurs zu Zwang und Freiheit in Politik und Ökonomie vorwiegend auf den Bereich der Bildung und des Arbeitsmarktes. In der Kinder- und Jugendhilfe, zu illegalem Substanzkonsum oder im Strafvollzug kann darauf geschlossen werden, dass die aktuellen mitteleuropäischen Machtstrukturen in der Symptombekämpfung soweit akzeptiert sind, dass keine soziophilosophischen Auseinandersetzungen dazu statt- finden. Innerhalb der Fachbereiche werden diese sehr wohl diskutiert, was in der spezifischen Auseinandersetzung dazu dargelegt wird. Weiter kann angedacht wer- den, dass Modelle zum maximalen Freiheitserleben des Menschen, wie Rawls The- orie der Gerechtigkeit, dazu beitragen könnten, dass Zwangskontexte, welche durch ungleiche Ressourcenverteilung entstehen, entgegengewirkt werden. Hier finden aktuelle politische Diskussionen statt, welche systemkritisch eine Verände- rung bestehender Grundstrukturen andenken, wenn an Auseinandersetzungen zwi- schen linken und rechten Fraktionen gedacht wird.

3 Psychosoziale Beratung

3.1 Definition

Unter psychosozialer Beratung wird eine Unterstützungsleistung verstanden, wel- che individuelle Problemlagen in den Fokus stellt, die sich durch die Anforderungen der Lebensbewältigung in komplexen und zum Teil unkalkulierbaren Situationen er- geben (vgl. Schubert et al., 2018 S.24). Begründet ist die Notwendigkeit von psy- chosozialer Beratung in der sich gegenwärtig rasch verändernden ökonomischen

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22 Gesellschaft, welche umfassende Anforderungen von Handlungsspektren an ihre Mitglieder entwickelt (vgl. Schubert, 2014, S.158). Die Begrifflichkeit der psychoso- zialen Beratung deutet bereits auf die Bedeutung der sozialen Umstände hin, in welchem sich Individuen in Bedrängnis befinden. Aufgrund dessen fokussiert sich die psychosoziale Beratung auf die Aktivierung von sozialen Fähigkeiten und Mitteln zur Problembewältigung (vgl. Bamler, Werner & Nestmann, 2013, S.81).

3.2 Identitätspfeiler der Beratung

Frank Nestmann, Autor zahlreicher Beiträge zur psychosozialen Beratung, arbeitete 4 Identitätspfeiler aus, welche in ihrer Gesamtheit Beratung ausmachen:

• Informationsbalance und Entscheidungsmanagement

• Präventionsförderung

• Bewältigungshilfe

• Entwicklungsförderung und Lebenslaufbegleitung (Nestmann, 2019, S.10)

Informationsbalance

Psychosoziale Beratung bedeutet zwar nicht, dass Menschen in Prozessen einem reinen einseitigen Informationsfluss ausgesetzt sind, jedoch wächst durch die Flut an verfügbaren Informationen auch die Unsicherheit mit der Handhabe und der Be- wertung dieser. Berater*innen selektieren gemeinsam mit Ratsuchenden den Über- fluss an Informationen in brauchbares und hilfreiches Material, sowie untaugliche bis irreführende Beiträge (vgl. Bamler et al., 2013, S.82).

Präventionsförderung

Die Beratung hat zur Aufgabe, mögliche aufkommende Krisen zu antizipieren und aufzuzeigen. Unbewältigte Krisensituationen führen oftmals zu psychischen Krank- heitsbildern, welchen vorgebeugt werden kann. Beispiele für Beratungen in denen präventiv gearbeitet wird ist die Schwangerschaftskonfliktberatung, sowie Situatio-

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23 nen der Lebensumstellung wie Heirat, aufkommende altersbedingte Pflege von Fa- milienmitgliedern oder Pflegebedarf von Kindern mit Erkrankungen (vgl. Schubert et al., 2019, S.29f).

Bewältigungshilfe

Krisensituationen, in welchen sich Ratsuchende befinden werden im Sinne der Be- wältigungshilfe dahingehend bearbeitet, dass Ressourcen aufgezeigt und aktiviert werden, welche dabei unterstützen, belastende Zeiten durchzustehen. Gleichzeitig dient die Bewältigungshilfe jedoch auch im Sinne der Tertiärprävention einem Pro- zess hin zur Annahme von neuen Lebenssituationen, um persönliche Einstellungen und somit das Wohlbefinden zu steigern (vgl. Bamler et al., 2013, S.84).

Entwicklungsförderung

Psychosoziale Beratung bedeutet nicht, den Blick einzig auf Probleme von Perso- nen zu richten. Das Erleben von Krisen zeigt Menschen auch tieferliegende Bedürf- nisse auf. Dies kann bei einer positiv verlaufenden Zusammenarbeit dazu führen, dass Menschen sich wiederfinden in veränderten Lebenswelten, mit zusätzlich ge- steigerter Zufriedenheit. Vor allem durch den Aufbau eines positiven Selbstbildes wird zum Ziel gesetzt, Menschen zu befähigen, in Zukunft hilfreicher zu planen, zu entscheiden und ein erhöhtes Repertoire an Handlungsoptionen abzurufen (vgl.

Schubert et al., 2019, S.31f).

Grundhaltungen, welche die psychosoziale Beratung weiterhin ausmachen sind

• die Neutralität des*der Berater*in, welche sowohl auf die/den Klientin/en be- zogen ist, als auch auf dessen Input,

• der Fokus auf Ressourcen der Ratsuchenden durch sichtbar machen und stärken dieser

• und die Lösungsorientierung dahingehend, dass bereits gemeisterte Kri- sen und damit verbundene Strategien bewusst gemacht und auf die Bearbei- tung aktueller Notsituationen umgemünzt werden (vgl. Thiele, 2013, S.189).

(26)

24

3.3 Abgrenzungen zu fachnahen Disziplinen

Aufgrund reichlicher inhaltlicher Überschneidungen wird der Beratungsbegriff oft- mals mit weiteren psychosozialen Unterstützungsleistungen gleichgesetzt.

Im Feld der Beratung vertreten verschiedenste Disziplinen genauso unterschiedli- che Erläuterungen über deren jeweilige Ansätze und Inhalte. Dies steht einer klaren Definition und Differenzierung von Formaten wie Mediation, Coaching, Supervision, oder Therapie entgegen. Dennoch ist eine gewisse Klarheit zum Angebot bedeu- tend, um bei Ratsuchenden durch Vorabinformationen das Hindernis falscher Er- wartungen auszuschließen (vgl. Reyer, 2016, S.463f).

Reichel sieht die psychosoziale Beratung als Oberbegriff für beraterische Tätigkei- ten in diversen Professionen von Helfer*innen. Jene Tätigkeiten sind nach seiner Auffassung sowohl die Psychotherapie als auch Familienberatung, Lebensberatung oder Coaching und Organisationsentwicklung u. a. (vgl. Reichel, 2016, S.23).

Um eine Übersicht über einige verschiedene Formate zu erhalten, werden diese in Folge reduziert dargestellt.

Psychotherapie

Eine bewährte Definition von Psychotherapie ist die des österreichischen Psycho- analytikers Hans Strotzka, der jene Therapieform beschreibt als ein Zusammenspiel zwischen Therapeut*in und Klient*in, die zum Ziel hat, Leidenszustände und norm- abweichende Verhaltensweisen, welche sowohl von dem*der Klient*in, dem*der Therapeut*in, als auch von nahestehenden Bezugspersonen als solche wahrge- nommen werden, zu behandeln und Verhaltensmuster zu verändern (vgl. Strotzka, 1984, S.1; Wirsching & Fritzke, 2020, S.34).

Coaching

Coaching ist eine Unterstützungsmaßnahme, welche vorwiegend im beruflichen Kontext sowohl bei Führungskräften als auch MitarbeiterInnen eingesetzt wird. Bei- spiele für Problemstellungen, welche Coaching behandelt wäre Überforderung durch interne oder externe Ansprüche, Verlust des Fokus im Arbeitsprozess oder zwischenmenschliche Kommunikationsschwierigkeiten im Unternehmen (vgl. Pohl,

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25 2010, S.19). Coaching wird in dem Sinne auch als progressive Maßnahme der Per- sonalentwicklung gesehen, welche durch eine positiv besetzte Fehlerkultur die Fä- higkeiten von Arbeitnehmer*innen weiterbildet (vgl. Pohl, 2010, S. 21).

Supervision

In der Supervision steht im Vordergrund die Reflexion der professionellen Position von arbeitenden Personen (vgl. Reyer, 2016, S.468). Der Prozess der Aufgabenbe- wältigung des*der Auftraggeber*in in Kombination mit zwischenmenschlichen Her- ausforderungen ist Hauptaugenmerk der Supervision (vgl. Schibli & Supersaxo, 2009, S.35).

Zusammenfassend nach vorhergehenden Definitionen ist die Beratung von der Therapie dahingehend abgegrenzt, dass in der Therapie vorwiegend langfristige Leidenszustände behandelt werden, wohingegen die Beratung sich mit explizit auf- tretenden Herausforderungen in Lebenssituationen oder zur Entscheidungsfindung befasst. Supervision und Coaching wird vor allem im Arbeitskontext eingesetzt, die Beratung hat jedoch den Anspruch, eine Bandbreite an Problemlagen, vor allem auch im privaten, zwischenmenschlichen Bereich abzudecken (vgl. Reyer, 2016, S.468).

4 Psychosoziale Beratung im Zwangskontext

Folgendes Kapitel befasst sich sowohl mit den Beratungsfeldern in Zwangskontex- ten, welche durch Expert*inneninterviews im empirischen Teil von Bedeutung sind, als auch mit Aspekten von Wirkung, Herausforderungen und Chancen im Zwangs- kontext. Der Fokus auf Klient*innen und ethischen Blickwinkeln im Arbeitsfeld erklärt sich zum einen aus der Tatsache, dass wenig wissenschaftliche Literatur zu Sinn- findung im Zwangskontext von Berater*innen existieren, als auch aus den aktuellen Forschungen zu Sinnempfinden im Berufsfeld, welches die Aspekte der Wirksam- keit im Berufsfeld, als auch ethische Blickwinkel durch Wertekohärenz einschließen.

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26

4.1 Beratungsfelder im Zwangskontext

Unter der Begrifflichkeit „soziale Kontrolle“ werden all jene Sanktionen und Bemü- hungen von Staat, Institutionen und privaten (Familien)verbänden verstanden, wel- che zielgerichtet Verhaltensweisen, die im Gros der Gesellschaft als unerwünscht gelten, entgegenwirken (vgl. Reinke & Schierz, 2006, S.300f). Eine Form der sozi- alen Kontrolle wäre Zwang, welcher die Freiheit des Individuums zu eigenen Ent- scheidungen und Handlungen begrenzt (vgl. Urban-Stahl, 2009, S.80). Zwangs- maßnahmen, welche vom österreichischen Staat in Auftrag gegeben werden, sind durch Gesetze und richterliche Beschlüsse gedeckt. Die Bereiche, in welchen mit- unter Zwangskontexte zur Lösungsfindung geschaffen werden, sind die Kinder- und Jugendhilfe mit Bezug auf das gesamte Familiensystem, psychiatrische Fälle, Schuldnerberatung, die gerichtliche Erwachsenenvertretung, die Geriatrie oder die Bewährungshilfe (vgl. Conen, 2020, S.155f; Kovar, 2007, S.15).

Menschen können jedoch auch in privaten Konstellationen Zwang ausgesetzt wer- den. Ein Beispiel wäre das Insistieren des engen sozialen Umfeldes, soziale Hilfe- leistungen in Anspruch zu nehmen (vgl. Lindenberg & Lutz, 2014, S.403).

Die soziale Arbeit und die Sozialpädagogik sind laut Nestmann Bereiche, welche eng mit der psychosozialen Beratung verbunden sind. Die psychosoziale Beratung ist sowohl in der Sozialpädagogik als auch in der sozialen Arbeit jenes Format, wel- ches die zentrale Rolle bei Interventionen einnimmt (vgl. Nestmann, 2019, S.25).

Somit wird deutlich, mit welcher Begründung Beiträge und Literatur aus der sozialen Arbeit, welche im Zwangskontext beraten, in vorliegende Masterarbeit eingebettet werden.

Beratende in unmissverständlich determinierten Kontexten besitzen die Macht, Kli- ent*innen durch bspw. Strafgebühren sanktionieren, oder diese durch offizielle So- zial- und Finanzleistungen zu belohnen. Eine differenzierte und weniger offensicht- liche Form des Zwangskontextes wäre die so genannte Informationsmacht. Sie ist gegeben, wenn der Zugang zu staatlichen Leistungen voraussetzt, in Besitz von Informationen zu gelangen. Dieses Wissen kann beispielsweise bei Migrant*innen fehlen, welche die österreichische Rechtslage nicht kennen (vgl. Pätzold & Ulm, 2015, S. 178f).

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27 Jene Masterarbeit befasst sich vorwiegend mit Zwangskontexten, welche durch richterliche Beschlüsse oder Auflagen zur Existenzsicherung, wie beispielsweise Zuweisungen des AMS, gegeben sind. Näher eingegangen wird in Folge auf jene Bereiche, zu welchen Expert*inneninterviews geführt werden.

4.1.1 Bewährungshilfe

Bewährungshilfe kann für Insass*innen oder Haftentlassene durch die Justiz an- hand einer richterlichen Weisung zugeteilt werden (vgl. die österreichische Justiz, o.D.). Auch auf freiwilliger Basis ist eine Beantragung möglich, jedoch wird diese Form der Unterstützung in der Justiz im deutschsprachigen Raum von weniger als zehn Prozent der Straftäter*innen selbst initiiert (vgl. Kähler & Zobrist, 2017, S.19).

Das Format der Bewährungshilfe umfasst sowohl sozialarbeiterisch-aktive Unter- stützung bei der Wohnplatzsuche und beim Bewerbungsprozess für ein geregeltes Einkommen, als auch beraterische Tätigkeiten zu eben genannten Belangen und der Erarbeitung von Strategien zur Rückfallsprävention der straffälligen Biographie.

In allen Bundesländern Österreichs ist der Verein Neustart Träger zur Umsetzung von Bewährungshilfe (vgl. die österreichische Justiz, o.D.).

4.1.2 Erziehungshilfe

Wenn Erziehungsbeauftragte ihrer Obsorgepflicht nicht im rechtlichen Rahmen an- gemessen nachkommen, wird von Seiten der Justiz Beratung als Mittel zur Kompe- tenzerweiterung angeordnet (vgl. Schubert et al, 2018, S.209).

Die österreichische Justiz hat für jenen Bedarf nach § 107 Abs. 3 Z 1 AußStrG de- finiert, dass Erziehungsberatungen, Mediationen, oder Gewaltpräventionspro- gramme dann verpflichtend besucht werden müssen, wenn familiäre Krisen und Konflikte in einem Maß ausgetragen werden, dass die Belastung für betroffene Kin- der als unzumutbar eingestuft wird. Auch wenn Eltern als erziehungsunfähig auffal- len, oder aus anderen Gründen notwendige Maßnahmen zur gesunden Entwicklung von Kindern nicht umgesetzt werden, wird Erziehungsberatung initiiert (vgl. Bundes- kanzleramt, Sektion Familie und Jugend, 2018, S.3; § 107 Abs. 3 Z 1 AußStrG).

Durch dieses Pflichtsetting zur Erziehungshilfe wird der Beratungskontext im Hin- blick auf eine Zusammenarbeit oftmals erschwert (vgl. Schubert et al, 2018, S.209).

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28 Da die subjektiven Anforderungen der Klient*innen an Fairness in Verfahrensbelan- gen oftmals nicht erfüllt sind, ist eine belastungsintensive Arbeitssituation gegeben, die ausgeglichen werden soll durch resiliente Erziehungsberater*innen, welche jene Belastungen auch stets reflektieren (vgl. Bundeskanzleramt, Sektion Familie und Jugend, 2018, S.11).

4.1.3 Suchtbehandlung und Suchtprävention

Bei Konsum von illegalen Suchtmitteln kann laut § 11 Abs.1 des Suchtmittelgeset- zes unter anderem eine Beratung angewiesen werden. Bestätigungen über abge- handelte Beratungseinheiten werden mitunter von der Bezirksverwaltungsbehörde von betroffenen Personen zur Überprüfung eingefordert (vgl. §11 Abs. 1 SMG; § 11 Abs. 2 SMG; §12 Abs. 3 SMG). Seit 2016 wurde in Österreich eine zusätzliche Mög- lichkeit zum Umgang mit dem Verdacht auf Suchtmittelgebrauch bei Schüler*innen für das zuständige Lehrpersonal eingeführt. Laut § 13 sind Lehrer*innen verpflichtet, jene Vermutungen an den*die Leiter*in der Schule weiterzugeben. Diese*r ordnet eine schulärztliche Untersuchung des*der Schüler*in an. Bei Verhärtung des Ver- dachts auf Konsum illegaler Suchtmittel durch die Untersuchung erfolgen ein Ge- spräch, sowie das Hinzuziehen von Erziehungspersonen der Betroffenen. Sollten entweder die schulärztliche Untersuchung oder weitere Maßnahmen, wie die Inan- spruchnahme einer gesundheitsbezogenen Intervention durch die Schule, eine Therapie oder Beratung von Betroffenen und/oder Erziehungsberechtigten verwei- gert werden, ist der*die Direktor*in verpflichtet, eine Meldung an die Bezirksverwal- tungsbehörde als Gesundheitsbehörde zu übermitteln. Im Sinne einer Haltung, wel- che Schüler*innen unterstützen statt sanktionieren soll, unterliegt das Lehrpersonal und die Direktion einer Verschwiegenheitspflicht und ist nicht befugt, bei der Polizei eine Anzeige zu tätigen (vgl. BMBWF, 2018, S.8; §13 Abs. 1 SMG).

4.1.4 Bildung und Arbeitsmarkt

Das Arbeitsmarktservice (AMS) in Österreich weist arbeitslosen Personen oftmals Beratungen zu, welche dahingehend determiniert sind, diese in Anspruch zu neh-

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29 men, da Leistungen wie Bezugsgelder oder erwünschte Ausbildungen bei mangeln- der Teilnahme gekürzt oder gestrichen werden können (vgl. Fellinger-Fritz, 2015, S.1). Im österreichischen Gesetzbuch behandelt der § 32 des Arbeitsmarktservice- gesetzes die Verpflichtung des AMS, bei Bedarf eine individuelle Unterstützungs- maßnahme, wie beispielsweise Beratung (auch bei Vertragsträgern des AMS) an- zubieten zur Beschäftigungs- und Existenzsicherung (vgl. §32 Abs. 1 AMSG, §32, Abs. 2 AMSG). Wenn das Angebot jedoch nicht angenommen wird, oder Bera- tungseinheiten durch Verschulden des/der Klient*in nicht stattfinden, so kann dies nach § 10 Abs. 3 des Arbeitslosenversicherungsgesetzes mit einer Einstellung des Arbeitslosengeldes sanktioniert werden (vgl. §10 Abs. 3 AlVG).

Zusätzlich zur Vorschreibung der Beratung an sich werden räumlich-zeitliche Rah- menbedingungen bestimmt, welche wenig Spielraum für Alternativsettings zulas- sen. Auch die Organisation, sowie der*die zuständige Berater*in kann üblicherweise nicht auf Wunsch der Klient*innen gewechselt werden. Diese Vorgaben gelten je- doch auch für Beratende und deren Arbeitgeber*innen (vgl. Glöckler, 2010, S.264).

Käpplinger und Klein verwenden den Begriff der regulativen Beratung, welche aus- geübt wird anhand klarer Vorgaben, die zum Bezug einer Leistung, wie beispiels- weise Weiterbildungsgeld, führen. In jenen Fällen stehen dahinter politische Inte- ressen, das Bildungsziel auf optimalem Weg zu erreichen. Jene so genannten

„Scheckberatungen“ sind vielfach Voraussetzungen für den Erhalt von Weiterbil- dungszuschüssen (vgl. Käpplinger & Klein, 2013, S.341).

Auffallend ist, dass die meisten Träger*innen, welche sowohl von der Justiz, vom Bundesministerium, oder vom AMS beauftragt werden, als Kooperationspartner*in- nen zur Durchführung von Zuweisungen zu fungieren, in Broschüren und auf deren Websites wenige bis keine Informationen preisgeben über jene Verfahren. Im Ge- genzug wird jedoch das Prinzip der Freiwilligkeit häufig als Qualitätskriterium auf den jeweiligen Homepages hervorgehoben.

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4.2 Ausdifferenzierung des Zwangsberatungsbegriffs

Da in den verschiedenen Kontexten und zugewiesenen Beratungsstellen auch dif- ferenzierte Grade von Zwang und Freiwilligkeit vorherrschen, ist eine Begriffsbe- stimmung der verschiedenen Formate notwendig, um eine Selbstverständlichkeit der Begriffe anzubahnen für die Darstellung der empirischen Aufbereitung zur The- matik.

Zwangsberatung oder Pflichtklient*innenschaft

ist die Form der Beratung, welche ankündigt, bei Nichteinhaltung der Auflage zu sanktionieren (vgl. Rohner, 2013, S.142). Jene optionalen Konsequenzen müssen zwar nicht zwingendermaßen offen kommuniziert worden sein, je- doch ist in diesem Kontext vielfach auch keine Ergebnisoffenheit gewährleis- tet, was laut Pätzold und Ulm dem Allgemeinverständnis von Beratung wenig gerecht wird. Derartig enge Rahmenbedingungen finden sich beispielsweise in der Bewährungshilfe wieder (vgl. Pätzold & Ulm, 2015, S.189; S.191).

Beratung unter Binnenfreiwilligkeit

Ist gekennzeichnet vom Zwang zur Inanspruchnahme einer Beratung, jedoch besteht Gestaltungsspielraum des/der Berater*in und des/der Klient*in be- züglich der Inhalte und des Settings (vgl. Pätzold, 2004, S. 106). Ein Beispiel dafür wäre, die Entscheidung eines*einer Klient*in zu akzeptieren, während der Beratung auf Themen zu fokussieren, welche nicht Anlass der Bera- tungsauflage waren, oder sogar dauerhaft zu schweigen (vgl. Pätzold & Ulm, 2015, S.190).

Regulative Beratung

Beschreibt die verpflichtende Teilnahme an einer Beratung in Zuge eines frei gewählten Angebots. Die bereits erwähnten „Scheckberatungen“ wären ein Beispiel für jene regulative Beratung (vgl. Käpplinger & Klein, 2013, S.341).

Unter dem Begriff der verpflichtenden Freiwilligkeit, der sich inhaltlich mit der regulativen Beratung deckt, werden auch Settings verstanden, welche Teil-

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31 nehmer*innen einer Weiterbildung zu Beratungen verpflichtet, die im Regel- fall freiwillig sind. Ebenso ist die Gegebenheit von verpflichtenden Zielset- zungen möglich, welche evaluiert werden. Eine Voraussetzung für die ver- pflichtende Freiwilligkeit ist jedoch, dass das Verlassen der Beratungs- und Angebotssituation jederzeit ohne rechtliche oder existenzbedrohende Kon- sequenzen möglich ist (vgl. Pätzold & Ulm, 2015, S.190f).

4.3 Bedeutung der Freiwilligkeit

Zahlreiche Literaturhinweise vermitteln den Eindruck, dass das Prinzip der Freiwil- ligkeit in der Beratung ein wesentliches ist und Beratung sogar definiert (vgl. Engel, Nestmann & Sickendieck, 2008, S.100). Kranz kommt in seiner intensiven Ausei- nandersetzung mit der Terminologie „Beratung“ zu dem Schluss, dass die allgemein ausgelegte Bedeutung des Begriffs nicht nur Zwangsfreiheit voraussetzt, sondern auch die Option auf Kündigung des Beratungsverhältnisses jederzeit gegeben sein muss (vgl. Kranz, 2009, S. 357). In der Realität finden sich jedoch in psychosozial- beraterischen Tätigkeiten unzählige Situationen, in welcher eben jenes Freiwillig- keitsprinzip keinen Anteil hat. Ob ein unfreiwilliger Kontext noch in die Kategorie der Beratung fallen sollte, wird in Expert*innenkreisen gegensätzlich beantwortet (vgl.

Suschek, 2013, S.61).

Beim österreichischen Beratungsformat Kompetenz+Beratung (KB) beispielsweise spielt die Freiwilligkeit der Kund*innen eine zentrale Rolle, um eine Übereinkunft zur Zusammenarbeit zwischen Berater*in und Kund*in zu treffen (vgl. Brandstetter &

Kellner, 2014, S.36). Jenes Beratungsformat wurde 2011 standardisiert, ist institu- tionenübergreifend konzipiert und konzentriert sich darauf, bildungsbenachteiligte Kund*innen zu ermächtigen, innere Orientierungsprozesse im Hinblick auf die be- rufliche Weiterentwicklung zu optimieren (vgl. Brandstetter & Kellner, 2014, S.5f).

Im Bericht, welcher die Ergebnisse und Erfahrungen von Berater*innen im Zeitraum von 2 Jahren (bis 2014) bei 1500 Teilnehmer*innen der KB schildert, wird hervor- gehoben, dass die Anforderung an das Prinzip der Freiwilligkeit nicht in allen Fällen gewährleistet war. Berichtet wird, dass jene Kund*innen (vor allem Schüler*innen) zusätzliche Informationen und vertrauensstiftende Interventionen benötigten, um letztlich positive Resultate zu erlangen (vgl. Brandstetter & Kellner, 2014, S.35;

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32 105f). In der erwachsenenpädagogischen Beratung wird Freiwilligkeit im Sinne des Anspruchs, Autonomie an mündige Gesellschaftsmitglieder zuzugestehen, als Prä- misse gehandhabt, jedoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass eben jene Frei- willigkeit manchmal auch hier nur bedingt besteht. Somit ist das Schaffen eines ma- ximal freien Settings, wie beispielsweise Varianten der Binnenfreiwilligkeit, die Her- ausforderung, welcher sich Beratende stellen sollen (vgl. Pätzold & Ulm, 2015, S.192).

4.4 Klient*innentypologie

Zobrist und Kähler gehen davon aus, dass es nicht ausreicht, den Freiwilligkeitsbe- griff pauschal zu verwenden für Klient*innen, welche nicht durch politische Kräfte einem Zwangskontext ausgesetzt sind, bzw. die Effektivität der Interventionen aus- schließlich daran zu messen. Sie verwenden zur Erläuterung ihrer These das Modell des amerikanischen Psychotherapeuten Steve de Shazer, welcher Klient*innen ein- teilt in Besucher*innen, Klagende und Kund*innen (vgl. Kähler & Zobrist, 2017, S.

19f). Der/die Besucher*in stellt einen Typus dar, welcher sich vorwiegend ausweist durch die Schwierigkeit, im Beratungsprozess eine klare Problemstellung zu erör- tern oder eine Zielformulierung daraus abzuleiten. Jene Personen suchen professi- onelle Helfer*innen nicht proaktiv auf, da sie von Familienmitgliedern oder staatlich beauftragten Institutionen beordert wurden. Der/die Klagende sucht Berater*innen auf, um im Sinne einer Dienstleistung eine Lösung für ein Problem serviert zu be- kommen. Er/Sie hat dem/der Besucher*in voraus, dass eine Problemeinsicht gege- ben ist, jedoch liegt es nicht in der Vorstellungskraft des/der Klagenden, selbst einen wirkungsvollen Beitrag leisten zu können zur Beseitigung einer Not oder eines Kon- flikts, auch wenn er verbalisiert, an einer Lösung mitarbeiten zu wollen und Aufga- benstellungen ausführt. Es ist die Aufgabe, des/der Berater*in, Hilfesuchende zu begleiten auf dem Weg, sich zu so genannten Kund*innen zu entwickeln. Jene Kund*innen zeichnen sich aus durch die klare Haltung, Verantwortung zu überneh- men und Initiative an einem Lösungsprozess zu ergreifen. Die Einteilung soll dazu dienen, die Haltungen der Hilfesuchenden, sowie den Beziehungskontext zwischen ihnen und des/der Berater*in zu beschreiben. De Shazer verweist ebenso darauf,

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33 dass die Zuordnungen keine allgemein gültigen Persönlichkeitsmerkmale von Kli- ent*innen darstellen, wie beispielsweise Motivation oder die Bereitwilligkeit zur Klä- rung eines Problems, sondern nur für das jeweilige Sitzungssetting von Bedeutung ist (vgl. de Shazer. 2002, S.103ff; Kähler & Zobrist, 2017, S.19f).

4.5 Wirkung von Zwang

Kähler führte im Jahr 2004 eine Befragung bei 99 Fachkräften, welche in Zwangs- kontexten tätig waren, durch. Die Erkundungsstudie ergab, dass diese in nahezu 50 Prozent ihrer Fälle positive und anhaltende Effekte trotz des fremdinitiierten Unter- stützungsangebotes wahrnahmen (vgl. Kähler, 2005, S.123f). Kähler und Zobrist kritisieren jedoch, dass empirisch die Effektivität von Zwang noch relativ wenig er- forscht ist, da qualitativ hochwertige Studien mit randomisierten Kontrollgruppen in Zwangskontexten sich außerordentlich schwer umsetzen lassen und auch Kählers Befragung für eine fundierte Aussage nicht genügend repräsentativ ist. Dennoch ergaben ihre Forschungen und Gegenüberstellungen von Studien in der Kinder- und Jugendhilfe, der Suchthilfe oder der psychiatrischen Behandlung, dass auch Zwangskontexte zu Verbesserungen von Missständen beitragen können, oder po- sitive Effekte zumindest nicht vollständig verhindern (vgl. Kähler & Zobrist, 2017, S.35ff). Auch Schwabe, Evers und Vust befassten sich mit der Frage nach Wirk- samkeit von Zwang und kamen ebenso zu dem Schluss, dass es letztendlich keine klare Antwort darauf gibt, ob Zwang in Unterstützungsprozessen notwendig und hilf- reich ist, oder im Gegenzug das Ausgangsproblem verschlimmert. Es gäbe Fälle, bei denen determinierende Rahmenbedingungen einen Entwicklungsprozess be- günstigen, wohin gehend ähnliche Ausgangssituationen durch Zwangsinterventio- nen zur Ablehnung und der Flucht vor Hilfeleistung führen können (vgl. Schwabe et al., 2008, S.16).

Ein Bericht von Neustart, verfasst im Jahr 2018, bereitet die Rückfallquote von Straf- täter*innen innerhalb eines Zeitraums von 2,5 bis 3,5 Jahren nach Beendigung von Maßnahmen, wie dem außergerichtlichen Tatausgleich, gemeinnütziger Leistungen oder der Bewährungshilfe auf (vgl. Hofinger & Peschak, 2018, S.4). Es wurden im Hinblick auf die Bewährungshilfe die Strafregisterauszüge von 1163 Personen, wel- che im Jahr 2013 einen Maßnahmenabschluss hatten, ausgewertet. Ein geringerer

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34 Anteil als ein Fünftel der Klient*innen wurde durch Abbruch oder Verweigerung der Bewährungshilfe, bzw. den Bewährungsvereinbarungen, oder dem erneuten Bege- hen einer Straftat negativ abgeschlossen. Ein Anteil von 6,4 % war aufgrund von anonymen Aufenthaltsorten nicht erreichbar und kann somit ebenso zu den negativ abgeschlossenen Fällen gezählt werden. Über zwei Drittel der Klient*innen wurden positiv abgeschlossen, was bedeutet, dass die Weisungsfrist endete oder aufgeho- ben wurde (vgl. Hofinger & Peschak, 2018, S.36).

Bei einer Erhebung zur Motivation von Klient*innen in auferlegten Beratungen zu Weiterbildungsunterstützungen (sowohl Firmen als auch Einzelpersonen) in Nord- rhein-Westfalen mit 370 Teilnehmer*innen im Jahr 2006, konnte erfasst werden, dass über 90% der Unternehmen und Privatpersonen bereits vor Beanspruchung der Beratung sehr klare Zielvorstellungen zur gewünschten Ausbildung und zur an- gestrebten Profession hatte (vgl. Muth, 2008, S. 40). Bei der Befragung durch Käpplinger und Klein zum selben Schema in Brandenburg gaben dennoch 40% der Befragten an, nicht auf die Beratung verzichten zu wollen. Die restlichen 60% nah- men die Beratung als Möglichkeit wahr, sich intensiver über die Bedingungen der Förderung, sowie über weitere Bildungsangebote zu informieren, auch wenn kein dezidierter Wunsch nach einer Beratung vorhanden war (vgl. Käpplinger & Klein, 2013, S.341). Vierzehn Jahre später zeigt ein Kurzbericht über die Rolle der Bera- tung zu Bildungsschecks in Nordrhein-Westfalen ein ähnliches Bild, jedoch mit noch deutlicheren Zahlen. Von 433 im Februar und März 2020 befragten Nutzer*innen des Bildungsschecks gaben 98,4% an, bereits vor der obligatorischen Beratung ih- ren gewünschten Weiterbildungskurs gekannt und jenen Wunsch auch nicht verän- dert zu haben. 63,6% gaben an, dass die Beratung ihnen nicht genutzt hätte, son- dern lediglich Mittel zum Zweck für den Erhalt des Bildungsschecks war (vgl. Eiche- ner, 2021, S.4). Anzumerken ist zu jenen Befragungsergebnissen, dass diese ein- seitig von den Nutzer*innen der Beratung und des Bildungsschecks erfasst wurden und um Ergebnisse von professionellen Berater*innen eine Perspektive erweitert werden könnten für treffsichere Aussagen zum Nutzen der Bildungsscheckberatung (vgl. Eichener, 2021, S.8).

Retz setzte sich in ihrer Dissertation im Jahr 2015 mit den Wirkungsfaktoren eines Kurses für hochstrittige Trennungseltern auseinander. In der Evaluation gaben ei- nige der Teilnehmenden an, dass sie trotz anfänglicher Skepsis und der Zuweisung

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35 durch das Gericht von dem Kurs profitiert hätten. Die kritische Haltung zum Zwangs- kontext selbst blieb jedoch auch nach Absolvierung des Kurses bei manchen El- ternteilen aufrecht (vgl. Retz, 2015, S.194).

All jene Untersuchungen geben kein klares Bild darüber, ob und inwieweit nachhal- tige Effekte in determinierten Kontexten entstehen können, sondern behandeln den unmittelbaren subjektiven Nutzen für Klient*innen, bzw. im Fall der Bewährungshilfe für die Justiz. Dass Zwangskontexte jedoch zwingenderweise negative Effekte hät- ten, Kooperationen unmöglich machen, oder wirkungslos blieben, konnte ebenso nicht erwiesen werden. Auch wenn im Bereich der Bewährungshilfe Studien mit Kontrollgruppen ohne Zwang nicht möglich sind, so kann dennoch festgestellt wer- den, dass die fremdinitiierte Zusammenarbeit zumindest im Sinne der Auftragge- ber*innen oftmals zufriedenstellend abgeschlossen werden kann.

4.6 Herausforderungen von Zwang

Empirische Erkenntnisse brachten Aspekte hervor, welche einen negativen Effekt auf das psychosoziale Beratungsangebot im Zwangskontext ausüben. Diese sind sowohl der Fokus auf Sanktionen, als auch die reine Konzentration auf die Bezie- hungsarbeit zwischen Berater*in und Klient*in. Weitere Hindernisse stellen Zielfor- mulierungen, die einzig durch Sozialarbeiter*innen ausgearbeitet wurden, sowie ein Mangel an Offenheit gegenüber der Zweckmäßigkeit von Interventionen oder das Wegrationalisieren der Bedeutung des sozialen Umfelds von Betroffenen (vgl. Käh- ler & Zobrist, 2017, S.40). Bei der Ausübung von Zwang in der sozialen Arbeit be- steht die Herausforderung in der Berücksichtigung der Tatsache, dass eben diese Form der Kontrolle ein Misstrauensverhältnis schafft, welches einer stabilen Bezie- hung zwischen den beteiligten Parteien im Wege steht und eine nachhaltige Ent- wicklung von Klient*innen somit sogar verhindern kann. Manche Menschen, die ohne Eigeninitiative an Interventionen teilnehmen müssen, fühlen sich nicht aner- kannt und erleben Sinnlosigkeit in dem Druck, unter welchem Sie zur Beteiligung an Prozessen genötigt werden. Diese Diskrepanz zwischen der Realität und den eigenen Ansprüchen an die Lebensplanung können dazu führen, dass vermehrt wi-

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