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Ethik und Acquis Communautaire I. Ordnungsethik und Acquis Communautaire

Lauterkeitsrecht oder rein wirtschaftliche Betrachtungsweise?

C. Ethik und Acquis Communautaire I. Ordnungsethik und Acquis Communautaire

Durchmustert man den acquis communautaire, so findet man eine Fülle von Anhalts­

punkten dafür, dass grundlegende moralische Überzeugungen im europäischen Recht bereits zu Rechtswerten erhoben, also einer Rechts­ oder Ordnungsethik überantwortet wurden . Das gilt vor allem im Bereich der Antidiskriminierungsge­

setzgebung .28 Jedenfalls wenn man argumentiert, dass ein allgemeines Gleichbe­

26 Grundlegend zu diesem Kalkül Gary S. Becker, The Economic Approach to Human Behavior, 1976, dt . Fassung: Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens, Tübingen 1993 .

27 Vgl . hierzu Nr . 1 und Nr . 3 des Anhangs zu § 3 Abs . 3 UWG (bzw . Nr . 1 und Nr . 3 des Anhangs II der RL 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken), näher Fezer/Peifer, Anh . zu § 3 Abs . 3 UWG Rn . 1­4 und 1­5 .

28 Zuförderst zu nennen sind die allgemeinen Diskriminierungsverbote im Primärrecht, also Art . 12, 13 EG, ferner Art . 20, 21, 23, 26 des Vorschlags einer EG­Grundrechtscharta, ABl . EG C 364/1, sowie im Sekundärrecht: Art . 3e Abs . 1 lit . c) ii) RL 2007/65/EG über audiovisuelle Mediendienste, ABl . EG L 332/27; ferner die überwiegend Diskriminierungen nach der Staats-angehörigkeit verbietenden Vorschriften der DienstleistungsRL 2006/123/EG, ABl . EG L 376/36, z .B . Art . 9 Abs . 1 lit . a, 10 Abs . 2 lit . a, Art . 14 Nr . 1, Art . 15 Abs . 2, Abs . 3 lit . a; Art . 16 Abs . 1 lit . a; Art . 19 lit . b; Art . 20; Art . 24 Abs . 2; Art . 31 Abs . 4 . Geschlechtsbezogene Diskri-minierungen verbieten diverse Vorschriften, so die Neufassung der Gleichbehandlungs­RL 2006/54/EG, ABl . EG L 204/23 sowie die RL 2004/113/EG zur Verwirklichung des gleichen Zugangs zu Gütern und Dienstleistungen (ABl . EG L 373/37) . Eine weitere Gruppe von Vor­

schriften beabsichtigt einen besonderen Nachteilsausgleich . Die VO (EG) 1107/2006 über die Rechte von behinderten und ihrer Mobilität eingeschränkten Flugreisenden stellt Verhaltens­

grundsätze für die Behandlung dieser Passagiergruppe auf, ABl . EG L 204/1 . In die gleiche Richtung zielen die Diskriminierungsverbote für ältere, behinderte und besonders bedürftige Personen in Art . 6 Abs . 1, Art . 7 der UniversaldienstRL 2002/22/EG, ABl . EG L 108/51, in Art . 8 Abs . 2 lit . a, Abs . 4 lit . e der TK­RahmenRL 2002/21/EG, ABl . EG L 108/33 sowie die besondere urheberrechtliche Schrankenbestimmung in Art . 5 Abs . 3 lit . b) der Info­Soc­RL 2001/29/EG, ABl . EG L 167/10 . Rassisch oder ethnisch motivierte Diskriminierungen verbie­

ten Art . 2, Art . 3 Abs . 1 lit . h der AntidiskriminierungsRL 2000/43/EG, ABl . EG L 180/22 und

handlungsgebot zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts gehört,29 kommt es auf die Umsetzung in der Grundrechts­Charta nicht einmal mehr an . Den gleichen Befund wird man für den Schutz der Menschenwürde30 und den Minderjährigen­ und Jugendschutz31 wagen dürfen . Der vereinzelt, vor allem in den verbraucherschutz­ und datenschutzrelevanten Materien zu findende Hinweis auf den Schutz der Privatsphäre,32 besitzt im europäischen Recht (noch) keine Anknüp­

fung an die Menschenwürde, wohl aber eine eigenständige Ausformulierung . Ob die zahlreichen Erwähnungen des Umweltschutzes einem ethischen Bewusstsein entspringen, ist zweifelhaft, zumal der Umweltschutz wie auch die Gleichstellung von Männern und Frauen zu den Vertragszielen der Gemeinschaft gehört (Art . 2 EG) .

Art . 2 S . 2 der E­Commerce­RL 2000/31/EG . Erweitert wird das Verbot auf politisch, religiös oder weltanschaulich motivierte Diskriminierungen in Art . 5 Abs . 1 der PostdiensteRL 97/67EG, ABl . EG L 15/14 . In engem Zusammenhang hierzu stehen die Inhaltsverbote nach der RL über audiovisuelle Mediendienste, vgl . Art . 3e Abs . 1 c) ii und die Datenselektionsverbote nach Art . 8 Abs . 1 der Datenschutz­RL 95/46/EG, ABl . EG L 281/31 .

29 Nach gefestigter Rechtsprechung des EuGH gehören die Grundrechte „zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen …, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat“ . Maßstab hierfür sind die „gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten sowie … Hinweise …, die die völkerrechtlichen Verträge über den Schutz der Menschenrechte geben, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind . Hierbei kommt der Euro­

päischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten besondere Bedeu­

tung zu“, so EuGH Slg . 2004 I 9609, Rn . 33 – Omega Spielhallen- und Automatenaufstellungs GmbH mit Verweisung auf EuGH Slg . 1991 I 2925, Rn . 41 – ERT; EuGH Slg . 2001 I 1611, Rn . 37 – Connolly/Kommission; EuGH Slg . 2002 I 9011, Rn . 25 – Roquette Frères; EuGH Slg . 2003 I 5659, Rn . 71 – Schmidberger .

30 Zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen der Gemeinschaft zählt diesen Schutz EuGH Slg . 2004 I 9609, Rn . 34 – Omega Spielhallen- und Automatenaufstellungs GmbH . Die Grundrechts­

Charta nimmt die Menschenwürde in Art . 1 in Bezug . Im Sekundärrecht sind vor allem die In­

haltsgebote für audiovisuelle Mediendienste in Art . 3e Abs . 1 lit . c (i) der RL 2007/65/EG, ABl . EG L 332/27 sowie die Patentierungsverbote der RL 98/44/EG über biotechnologische Erfin­

dungen, ABl . EG L 213/13 von Bedeutung . Zu dem „blinden Fleck“ des Patentrechts vor Erlass der Richtlinie Peifer, in: FS Reimar Koenig, 2003, S . 435 ff .

31 Im Primärrecht wird der Aspekt nicht genannt . Im Sekundärrecht befassen sich die medienbe­

zogenen Richtlinien, insbesondere die Sende­ und Werbeverbote der AVMD­RL 2007/65/EG mit dem Gesichtspunkt in Art . 3e Abs . 1 lit . e und f, ferner Abs . 3; Abs . 4; Art . 3 g Abs . 2 Satz 2;

Art . 3h sowie Kapitel V . Ferner sehen die auf die Wirksamkeit von Handelsgeschäften bezoge­

nen Rechtsakte, wie die allgemeine FernabsatzRL 97/7/EG, ABl . EG L 144/19 in Art . 4 Abs . 2 Hs . 2 und die Finanzdienstleistungs­FernabsatzRL 2002/65/EG, ABl . EG L 271/16 i .d .F . der RL 2007/64/EG in Art . 3 Abs . 2 2 . HS . einen besonderen Schutz nicht geschäftsfähiger Personen vor .

32 Art . 1 Abs . 1, Art . 13 Abs . 2 der Datenschutz­RL 95/46/EG, ABl . EG L 281/31; Art . 1 Abs . 1, Art . 13 Abs . 2 der RL 2002/58/EG über den elektronischen Kommunikationsdatenschutz, ABl . EG L 201/37; Art . 10 der Finanzdienstleistungsfernabsatz­RL 2002/65/EG, ABl . EG L 271/16;

Art . 10 der FernabsatzRL 97/7/EG, ABl . EG L . 144/19 und Art . 7 E­Commerce­RL 2000/31/

EG, ABl . EG L 178/1 .

II. Handlungsethik und Acquis Communautaire 1. Allgemeine Öffnungsklausel

Öffnungsklauseln für ethische Verhaltensmaßstäbe, die nicht zu Rechtswer­

ten geworden sind, finden sich selten im primären und im sekundären Gemein­

schaftsrecht . Das ist nicht verwunderlich, gilt doch auf Kompetenzebene das aus Art . 5 Abs . 1 EG entnommene Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung .33 Dar­

aus folgt naturgemäß, dass die Gemeinschaft keine Kompetenz zur Kultur­ und Geschmacksbildung besitzt . Wenn sie sich mit diesen Fragen regulativ beschäf­

tigt, dann lediglich, um klarzustellen, in welcher Weise Mitgliedstaaten die vom Gemeinschaftsrecht gewährten Freiheiten unter Hinweis auf ethische Verhaltens­

standards beschneiden dürfen .

Der Schutz ethischer Werte, die nicht zugleich Rechtswerte sind, erfordert gleichwohl ein Einfallstor in der Rechtsordnung . Im Lauterkeitsrecht gibt es ein solches Einfallstor auf der Ebene des Völkerrechts dadurch, dass Art . 10bis Abs . 2 PVÜ Wettbewerbshandlungen als unlauter ansieht, die den „anständigen Gepflo­

genheiten in Gewerbe oder Handel“ zuwiderlaufen . Diese Formulierung ist modell­

haft für die nationalen wettbewerbsrechtlichen Generalklauseln, die von „anstän­

digen Gepflogenheiten“, der „beruflichen Korrektheit“, der „beruflichen Sorgfalt“

oder „den guten Sitten“ sprechen .34

Auch das europäische Richtlinienrecht nimmt die Formulierung der PVÜ in modifizierter Form auf, wenn es von der „beruflichen Sorgfalt“ spricht .35 Was genau dies ist, wird aber sowohl im Völker­ als auch im Europarecht der Ausfor­

mulierung durch den nationalen Gesetzgeber und die nationalen Gerichte über­

lassen . Insbesondere lässt Erwägungsgrund Nr . 7 der Richtlinie 2005/29/EG den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, „die gesetzlichen Anforderungen in Fragen der guten Sitten und des Anstands“ selbst zu regeln . Der Erwägungsgrund stellt aus­

drücklich klar, dass solche Praktiken per se verboten werden dürfen, selbst wenn sie „die Wahlfreiheit des Verbrauchers nicht beeinträchtigen“ . Ausdrücklich als Beispiel genannt wird das gezielte Ansprechen von Passanten auf der Straße .36 Allerdings sollen bei Anwendung einer solchen Generalklausel im harmonisierten Bereich „die Umstände des Einzelfalles umfassend gewürdigt werden“ . Das spricht dafür, dass der im europäischen Recht anerkannte Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Grenze zu beachten ist .

33 EuGH Slg . 2000 I 2247, Rn . 83 – Deutschland/Europäisches Parlament und Rat; Callies/

Ruffert, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, 3 . Aufl . 2007, Art . 5 EGV Rn . 8; aus­

führlicher Kraußer, Das Prinzip begrenzter Ermächtigung im Gemeinschaftsrecht als Struk­

turprinzip des EWG­Vertrages, 1991, S . 16 ff .

34 Vgl . hierzu das rechtsvergleichende Gutachten von Schricker/Henning-Bodewig, WRP 2001, 1367 (1379 f) .

35 Art . 5 Abs . 2 lit . a RL 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken .

36 Vgl . BGH GRUR 2005, 443 – Ansprechen in der Öffentlichkeit II; BGH GRUR 2004, 699 – Ansprechen in der Öffentlichkeit I .

Immerhin zeigt Erwägungsgrund Nr . 7 der UGP­Richtlinie, dass die Ausübung von Marktfreiheiten aus Gründen „der guten Sitten und des Anstands“ beschränkt werden kann . Einbruchstor für diese Erwägungen ist wiederum die lauterkeitsrecht­

liche Generalklausel und deren Rückendeckung durch Art . 5 Abs . 2 lit . a der Richt­

linie . Die inhaltliche Ausdifferenzierung obliegt vollständig den Mitgliedstaaten . 2. Ethische und religiöse Bedenken

Ein zweiter Ansatzpunkt findet sich im sekundären Gemeinschaftsrecht mit Blick auf religiöse Umstände . Wenn die VO (EG) 1829/2003 den freien Verkehr mit gene­

tisch veränderten Lebens­ und Futtermitteln einschränkt, so geschieht dies auch zur Wahrung „ethischer und religiöser Bedenken“, denn nach Art . 13 Abs . 2 lit . b muss eine besondere Kennzeichnung dieser Lebensmittel erfolgen, wenn „ein Lebensmit­

tel Anlass zu ethischen oder religiösen Bedenken geben könnte“ (vgl . auch Art . 17 Abs . 3 lit . g und Art . 25 Abs . 2 lit . d) . Bei der Ausgestaltung der Schrankenbestim­

mungen in der Informationsgesellschaft dürfen „religiöse Veranstaltungen“ nach Art . 5 Abs . 3 lit . g privilegiert werden . Schließlich erlaubt die Markenrechtsricht­

linie 2008/95/EG37 in Art . 3 Abs . 2 lit . b den Mitgliedsstaaten, bestimmte religiöse Symbole von der Eintragung als Marke auszuschließen . Man kann mithin folgern, dass das europäische Recht im Bereich der Religion Einschränkungen der wirt­

schaftlichen Betätigung durchaus offen gegenübersteht .

D. Ethik im deutschen Wettbewerbsrecht