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Eine qualitativ-heuristische Wissenschaftsperspektive

Im Hinblick auf die Problematisierungen in Kap. 1.2.2 dienen die nachfolgenden Ausführungen dazu, einen Lösungsvorschlag darzustellen, um den Anforderungen an die Wissenschaftlichkeit bei der Auseinandersetzung mit dem Betrachtungsge-genstand dieser Arbeit gerecht zu werden. Dabei werden zunächst pragmatisch-normative Anforderungen für wissenschaftliche Auseinandersetzungen dargestellt, die von Rößl (1994) in seiner Auseinandersetzung mit komplexen Erkenntnisobjekten entwickelt worden sind und von denen sich diese Arbeit leiten lässt. Im Anschluss daran wird daraus der forschungspraktische Umsetzungsvorschlag konkretisiert.

2.1.1 Pragmatisch-normative Anforderungen für wissenschaftliche Auseinandersetzungen

Rößl (1994, S. 34) formuliert aus dem Kriterium der Umsetzbarkeit, aus der Akzep-tanz der realen Komplexität und der subjektiven Wirklichkeitskonstruktion sowie aus Grundzügen des Wissenschaftsideals eines kritischen Rationalismus pragmatisch-normative Anforderungen für wissenschaftliche Auseinandersetzungen:

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intersubjektive Transparenz

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Überprüfung der Aussagen durch die Scientific Community trotz nur subjektiver

Implikationen

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pragmatisch nützliche Aussagen

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heuristische Kraft für die Weiterentwicklung des Aussagengebäudes

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Verantwortlichkeit für die Wirklichkeitskonstruktion sowie ein

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Ideen- und Methodenpluralismus

Die nachfolgend kurz erläuterten Anforderungen lassen sich am ehesten in die Multi-paradigmenperspektive im Hinblick auf die Inkommensurabilitätsdiskussion18 (vgl.

dazu Scherer, 2001) einordnen. Anhänger dieser Position zwischen Dogmatismus und Relativismus sind der Auffassung, „dass der Dialog über konkurrierende Para-digmen hinweg geführt werden muss, um Fortschritte in der Wissenschaft zu erzie-len“ (Scherer, 2001, S. 21). Weiter wird die Auffassung vertreten, die Wissenschaft nicht zu beauftragen, nach der einen Wahrheit zu suchen, sondern anzuerkennen, dass die Forschung viele Wahrheiten produziert. Die Multiparadigmenperspektive soll demnach einen Beitrag dazu leisten, um aus der Vielfalt der Wahrheiten zu

18 Der Terminus „Inkommensurabilität“ geht auf den Wissenschaftshistoriker Thomas Samuel Kuhn (1962) zurück, der damit die These vertritt, dass man nicht objektiv zwischen konkurrierenden Theorien entscheiden kann, wenn diese in unterschiedlichen Paradigmen entwickelt wurden. Wis-senschaftlicher Fortschritt kann nach seinen historischen Untersuchungen nicht durch die Anwen-dung einer einheitlichen Methode rekonstruiert werden. Diese These führte zu intensiven Diskus-sionen über die generelle Möglichkeit, einheitliche Rationalitätsstandards zu begründen.

fassenderen Erklärungen sozialer Phänomene zu gelangen (Gioia & Pitre, 1990).

Intersubjektive Transparenz

Die Benutzung von Symbolsystemen – wie z. B. der Sprache -, mit der Forschungs-ergebnisse formal verschriftlicht werden, führt i. d. R. dazu, dass die Ergebnisse nicht missverständnisfrei wiedergegeben werden können. Gerade bei der Betrachtung von Erkenntnissen aus verschiedenen Disziplinen ist z. B. die unterschiedliche Verwen-dung von Symbolik und Semantik in Betracht zu ziehen. Jedoch entheben diese Pro-bleme die Wissenschaft nicht der Aufgabe, „den Versuch zu unternehmen, das eige-ne Denken (...) möglichst nachvollziehbar darzustellen“ (Rößl, 1994, S. 34). Daher besteht die Anforderung einer Begründung, was Forschende aus welcher Perspekti-ve warum und wie methodisch und theoretisch umsetzen wollen. Hierbei kommt der Geltungsanspruch der Verständlichkeit nach dem Vorschlag von Habermas (1973) zum Tragen19. Dieser stellt auch eine zwingende Voraussetzung für die nächste An-forderung dar.

Überprüfung der Aussagen durch die Scientific Community trotz nur subjektiver Im-plikationen

Mit dem grundsätzlichen Bekenntnis zum kritischen Rationalismus wird in diesem Kriterium zur weiteren Überprüfung der Aussagen an der Realität aufgerufen. Das bedeutet implizit, dass zur Modifikation der entwickelten Theorie sowie zum Einbrin-gen weiterer Operationalisierungsvorschläge aufgerufen wird (vgl. dazu auch Kap.

7.3 zum weiteren Forschungsbedarf). Rößl (1994, S. 35) merkt dazu an, dass es trotz der dargestellten Unzulänglichkeiten jedes empirischen Falsifikationsversuches ein Gebot der Vernunft ist, „Erkenntnisse – welche Qualität die erreichten empiri-schen Aussagen auch immer haben mögen – der Realität gegenüber zu stellen, so gut wir eben dazu in der Lage sind“. In diesem Zusammenhang ist die weiter oben erwähnte Multiparadigmenperspektive die Grundlage eines in dieser Form geführten wissenschaftlichen Diskurses.

Pragmatisch nützliche Aussagen

Verifikation und Falsifikation scheiden als Begründungsmethoden von Aussagen im Kontext komplexer Betrachtungsgegenstände aus den eingangs diskutierten Grün-den aus. Diese Erkenntnis ist Rößl (ibid.) zufolge jedoch nur vordergründig unbefrie-digend, da die Generierung von nützlichen Aussagen nicht notwendigerweise wahre und vollständige Bezugspunkte erfordert. Nützliche Aussagen sind dadurch charakte-risiert, dass sie die Wahrscheinlichkeit erhöhen, in einer Situation adäquat operieren zu können.

Heuristische Kraft für die Weiterentwicklung des Aussagengebäudes

Aus den weiter oben diskutierten Aspekten geht hervor, dass – gerade im Hinblick auf die Komplexität des Betrachtungsgegenstandes – eine in diesem Kontext zu

19 Habermas (1973) zufolge muss jeder, der einem anderen etwas zu verstehen geben will, dafür Sorge tragen, auch verstanden zu werden. Das impliziert weitere Geltungsansprüche an die ge-troffenen Aussagen: Wahrheit, Wahrhaftigkeit (wirklich zu meinen, was mitgeteilt wird und nicht täuschen bzw. belügen zu wollen) und Richtigkeit (Legitimität dessen, was behauptet wird).

entwickelnde Theorie nie schlüssig als wahr bezeichnet werden kann. Es gilt, dem Dilemma der subjektiven Wirklichkeitskonstruktion der Forschenden mit einem hohen Grad „objektiver“ Methoden zu begegnen – gleichzeitig wissend, dass die Auswahl objektiver Methoden und die Interaktionen bei der Verwendung objektiver Methoden wiederum stark subjektiv geprägt sind.

Die Ergebnisse eines derartigen Forschungsprozesses können daher mit dem fol-genden Zitat von Kasper (1990, S. 81) charakterisiert werden: „Statt bisher üblicher Begriffe wie Wahrheit, Adäquatheit, Korrespondenz, Wirklichkeit usf. treten hier Be-griffe wie Glaubwürdigkeit, Verlässlichkeit, Interessantheit, Plausibilität, Kompatibili-tät, (...) Orientierungsvorteil, Möglichkeit, Vielfalt, Exploration, Verantwortlichkeit und Toleranz auf“.

So können die zugrunde gelegten Perspektiven auch niemals als endgültig betrach-tet werden, sondern sind auf Weiterentwicklung im jeweils (neuen) Kontext angewie-sen; sie verlangen daher nach einer heuristischen Kraft, d. h. nach der Potenz, bis-her Konstruiertes weiterführen zu können. Rößl merkt dazu an, dass dabis-her das Bild der Wissenschaft als Turmbau, wo Bausteine auf fester Basis zusammengefügt ein prinzipiell abgeschlossenes Gebäude ergeben abgelöst wird: Zugunsten eines amor-phen Netzwerkes des Wissens, „aus dem je nach aktueller Perspektive brauchbare

‚Wahrheiten‘ konstruiert werden, wodurch Erkenntnis eine ‚Wahrheit‘, ‚eine Welt‘ her-vorbringt“ (Rößl, 1994, S. 37).

Verantwortlichkeit für die Wirklichkeitskonstruktion

Diese Anforderung resultiert aus dem Umstand, sich im hier beschriebenen For-schungsprozess nicht auf eine „objektive Realität“ berufen zu können. Verantwort-lichkeit von „WirkVerantwort-lichkeitskonstrukteuren“ (Rößl, 1994, S. 37) als Basis für die Glaubwürdigkeit in die pragmatische Nützlichkeit von Aussagen, ihrer Plausibilität sowie in ihre Orientierungskraft ist daher gefordert. Im Forschungsprozess sind Handlungsspielräume existent, deren jeweilige Inanspruchnahme von Forschenden zu begründen und zu legitimieren sind.

Ideen- und Methodenpluralismus

Wie eingangs beschrieben, ergibt sich die Notwendigkeit einer pragmatischen For-schungsperspektive, wenn man die Mehrdeutigkeiten, zirkulären Prozesse, Multikau-salitäten sowie die Unmöglichkeit der Eingrenzung des Untersuchungsbereiches ak-zeptiert. Damit ist auch die Tatsache verbunden, im Forschungsprozess die Komple-xität der Realität künstlich zu reduzieren, analysierbar und „denkmöglich“ (Rößl, 1994, S. 38) zu machen. „Erst (...) die Wahl einer selektiven Perspektive lässt analy-sierbare und beschreibbare Modelle entstehen" (ibid.). Es ist zu vermuten, dass da-bei auftretende Fehler und Willkürlichkeiten rascher erkannt werden, wenn eine For-schungsfrage mit unterschiedlichen theoretischen Ansätzen und Forschungsdesigns untersucht wird. Diese Perspektive mag zunächst eklektizistisch erscheinen; dieser Vorwurf kann jedoch relativiert werden, wenn aus dem beschriebenen Vorgehen eine in sich schlüssige Wirklichkeitskonstruktion mit integrierbaren Theoriesträngen her-vorgeht.

2.1.2 Integration qualitativer und quantitativer Untersuchungsansätze

Um den oben aufgezeigten Anforderungen nachzukommen, ist es für die Aufgaben-stellung dieser Arbeit sinnvoll, ein breites Instrumentarium qualitativer und quantitati-ver Untersuchungsansätze anzuwenden. Mit Blick auf den Anwendungsbezug ist dabei eine Gegenstandsverankerung im Untersuchungsfeld unumgänglich. Daher ist es ferner angezeigt, Dokumentenanalysen und Befragungen bei Kooperationsnetz-werken im Bereich von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit vorzunehmen, teil-nehmende Beobachtungen20 durchzuführen und ggf. vertiefendere quantitative Ana-lysen und Experteninterviews heranzuziehen, die sich nach Problemstellung syste-matisch ergänzen.

Darüber hinaus müssen die Konzeptionen und Kategorisierungen aus der Empirie mit Erklärungsansätzen und Theorien rezenter Literatur abgeglichen werden – und dort, wo nötig, kontextuell ergänzt werden. Dabei sollte jedoch nicht maßgeblich sein, ob die Befunde im Anwendungsfeld in eine bestimmte Theorie „passen“, sondern ob im Sinne einer Konstruktvalidierung eine in sich schlüssige Wirklichkeitskonstruktion erstellt werden kann (vgl. weiter oben).

Ein solches Vorgehen ist dabei i. d. R. iterativ, aufeinander bezogen und prozesshaft.

Es sollte im Hinblick auf die o. g. Anforderungen reflexiv sein, d. h., dass der For-schende sich im Prozess immer wieder kritisch mit den Konzeptionen auseinander setzt und sowohl sein methodisches Vorgehen als auch die Interpretationen fortlau-fend (und wenn möglich regelgeleitet) überprüft. Der Forschungsprozess ist dabei transparent und nachvollziehbar darzustellen. Daher wird im anschließenden Kapitel 2.2 der methodische Lösungsansatz dieser Arbeit im Hinblick auf die Vorgehenswei-se, die durchgeführten Studien und die herangezogenen Theorien explizifiziert.