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2.3 Das cholinerge System und Epilepsie

2.3.1 Die Rolle des cholinergen Systems in der Anfallssymptomatik

2.3.1.1 Acetylcholin in Tiermodellen der Epilepsie

ACh spielt anscheinend in vielen Tiermodellen der Epilepsie neben anderen erregenden Transmittern wie Glutamat und Aspartat eine wichtige Rolle im Hinblick auf einerseits Ent-stehung und andererseits Aufrechterhaltung von Anfällen, wie beispielsweise dem SE (Wasterlain et al., 1993). Bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde eine Wech-selwirkung zwischen gestörtem Metabolismus des ACh und dem Auftreten von Anfällen vermutet. Bei Untersuchungen mit Katzen und Kaninchen wurde gezeigt, dass die intrazereb-rale Applikation von ACh zu einer erhöhten elektrischen Aktivität im Gehirn führt, die dem

bzw. in Abhängigkeit von der Konzentration auch tatsächlich Anfälle produzieren kann (Sjöstrand, 1937; Miller et al., 1940; Brenner & Merritt, 1942; Chatfield & Dempsey, 1942;

Forster, 1945). Direkte Messmethoden zeigten zudem eine erhöhte Konzentration von ACh in der zerebrospinalen Flüssigkeit (CSF) nach Applikation konvulsiver Substanzen bei unnarko-tisierten Katzen (Elliott et al., 1950) bzw. im CSF von epileptischen Patienten, die an hoch frequent auftretendem Anfallsgeschehen litten (Tower & McEachern, 1949). Weitere in Tiermodellen durchgeführte Forschungsarbeiten mit cholinergen Agonisten und Cholinestera-sehemmern über systemische (Lundy & Shaw, 1983; Turski et al., 1983a, 1984) bzw. zerebra-le Applikationswege (Cohen et al., 1981; Olney et al., 1983; Turski et al., 1983b, 1983c) pos-tulierten einen soliden Zusammenhang zwischen cholinerger Aktivierung und dem SE, was schließlich in der Entwicklung des Pilocarpin-Modells bzw. Li-Pilocarpin-Modells der Nager als bis heute genutzte Epilepsiemodelle mündete (Turski et al., 1983a, 1984; Jope et al., 1986).

Der Zusammenhang zwischen dem muskarinergen Agonisten Pilocarpin und dem Auftreten von Anfällen bzw. dem SE wurde zunächst auf indirekte Weise über die Wirkung muskari-nerger Antagonisten wie Atropin und Scopolamin im Pilocarpin-Modell überprüft. Während diese Substanzen prämedikativ durch reine Agonist-Antagonist-Interaktionen den SE erst nicht entstehen ließen (Turski et al., 1983c, 1984; Buterbaugh et al., 1986; Jope et al., 1986;

Clifford et al., 1987; Morrisett et al., 1987; George & Kulkarni, 1996; Smolders et al., 1997), zeigten sie bei bereits induziertem Anfallsgeschehen jedoch meistens keine Wirkung mehr, was auf eine Art cholinergen Kontrollverlust über den SE durch Rekrutierung weiterer exzita-torischer Transmittersysteme zurückzuführen ist (Buterbaugh et al., 1986; Jope et al., 1986;

Clifford et al., 1987; Morrisett et al., 1987; George & Kulkarni, 1996). Malanski et al. (1994) zeigten durch Arbeiten mit rezeptorspezifischen muskarinergen Antagonisten, dass das Auf-treten von Anfällen bzw. eines SE durch Pilocarpin vor allem über seinen Agonismus am muskarinergen exzitatorisch wirkenden M1-Rezeptor vermittelt wird, was zusätzlich durch Studien an M1-Knockout-Mäusen von Hamilton et al. (1997) bekräftigt wurde. Studien mit direkten Messmethoden zeigten zudem, dass die Applikation von Pilocarpin bei mit Li vorbe-handelten Ratten eine signifikante Freisetzung von ACh im Hippokampus bewirkte (Jope et al., 1987; Hillert et al., 2014). Ob diese Ausschüttung auf der direkten Wirkung eines choli-nergen Agonisten am M1-Rezeptor (Ogane et al., 1990) oder sekundär auf den provozierten Anfällen beruhte, ist jedoch nicht genau bekannt (Hillert et al., 2014). Durch die Messung der extrazellulären ACh-Konzentration während der Initiierung und des medikamentösen

Abbruchs des SE konnten Hillert et al. (2014) feststellen, dass der ACh-Spiegel im Hippo-kampus nur über die Dauer des SE erhöht war. In welchem Maße die Aufrechterhaltung der Anfälle tatsächlich vom ACh-Spiegel abhing, ist jedoch nicht geklärt. Es gibt jüngere Anzei-chen dafür, dass im Rahmen des pharmakologisAnzei-chen Abbruchs eines SE das Hinzufügen eines muskarinergen Antagonisten wie Scopolamin zu GABA-potenzierenden Substanzen wie Phe-nobarbital und Diazepam den SE im Sinne eines kombinatorischen Ansatzes effektiver unter-brechen kann als die bloße Kombination aus beiden letzteren Substanzen (Brandt et al., 2015).

Man geht prinzipiell jedoch davon aus, dass kurz nach Anfallsbeginn weitere exzitatorische Neurotransmitterkreisläufe wie das glutamaterge System aktiviert werden, die die anfallser-haltende (Haupt-)Rolle übernehmen (Solberg & Belkin, 1997). Dass Neurotransmittersysteme auch im Anfallsgeschehen stark miteinander interagieren, zeigen Veränderungen bei ver-schiedenen Rezeptortypen nach einem durch Pilocarpin induzierten SE, die sich vor allem in Reduktion von GABAergen und Kumulation sowie Aktivierung glutamaterger Rezeptoren äußern (Raza et al., 2001; Freitas et al., 2004). Weiterhin wurde das Li-Pilocarpin-Modell in der Studie von Hillert et al. (2014) dem Kainat-Modell der Ratte gegenübergestellt, bei dem die Aktivierung glutamaterger Rezeptoren durch Kainsäure zu Anfällen und sekundär eben-falls zu einer Erhöhung der extrazellulären ACh-Konzentration führte.

In diesem Zusammenhang ist äußerst wichtig zu erwähnen, dass einige Studien existieren, die der in den letzten Abschnitten beschriebenen prokonvulsiven Wirkung des ACh eine vielmehr antikonvulsive Wirkung entgegenstellen. Shin et al. (2007) haben beispielsweise durch wie-derholte Aktivierung des nikotinergen a7-Rezeptors durch Nikotin Anfälle bei Ratten, die durch Kainsäure induziert wurden, verhindern können. Eine ebenso prämedikativ antikonvul-sive Wirkung sprechen Feuerbach et al. (2009) dem nikotinergen a7-Rezeptor-Agonisten JN403 zu. Hinsichtlich dieser kontroversen Aspekte ist festzustellen, dass das Zusammenspiel von muskarinergen und nikotinergen Rezeptoren in der Beeinflussung der zellulären Exzitabi-lität noch nicht ganz verstanden ist (s. Kapitel 2.2.5) und Dysregulationen in den oszillatori-schen Eigenschaften des cholinergen Systems im Hippokampus zu Anfällen führen können (Yakel, 2012).

2.3.1.2 Acetylcholinesterase

Ein wichtiges humanmedizinisch relevantes Bindeglied zwischen cholinergem System und epileptischen Anfällen bilden Pestizide und chemische Kampfstoffe aus der Gruppe der

Phosphorsäureester, zu denen u.a. Sarin, Soman und Tabun gehören (McDonough & Shih, 1997). Diese Substanzen hemmen sowohl peripher als auch zentral das Enzym AChE, das für den raschen Abbau des ACh im synaptischen Spalt zuständig ist (Taylor & Brown, 1999).

Durch seine Blockierung akkumuliert extrazelluläres ACh, das schließlich durch verstärkte Aktivierung zentraler muskarinerger Rezeptoren rasch zu einem SE und durch Exzitotoxizität zum neuronalen Zelltod führt und in der Gesamtheit seiner verstärkten peripheren und zentra-len Effekte häufig tödlich endet (Solberg & Belkin, 1997; McDonough & Shih, 1997). Ähn-lich wie bei den Tiermodellen mit cholinergen Agonisten wird angenommen, dass das zentra-le muskarinerge Signal einerseits selbst zu epizentra-leptiformer Aktivität führt, andererseits aber weitere exzitatorische Neurotransmitterkreisläufe wie das glutamaterge System mit der Folge weiterer Anfallsgenerierung aktiviert. Es kommt zu einer Verrückung der beteiligten Neuro-transmitter, die sich progressiv in der Etablierung einer nicht-cholinergen Anfallsphase äußert und dazu führt, dass Anfälle refraktär und pharmakologisch schwieriger kontrollierbar wer-den. Ähnlich wie in Post-SE-Modellen konnte gezeigt werden, dass ein durch Soman indu-zierter SE ebenso nach einer Latenzzeit zu spontanen Anfällen bei der Ratte führen kann (de Araujo Furtado et al., 2010). Die aktuelle Relevanz solcher chemischen Kampfstoffe im Rahmen des seit 2011 anhaltenden Bürgerkriegs in Syrien ist nicht von der Hand zu weisen (Brooks et al., 2018).

Widersprüchliches zeigt sich in Studien zu AChE-Hemmern wie z.B. Huperzin A, Donepezil, Pyridostigmin und Physostigmin, die paradoxerweise prophylaktisch antikonvulsiv bei Into-xikationen mit Nervengiften wirken (Aas, 2003; Haug et al., 2007; Wang et al., 2011; Gersner et al., 2015; Bialer et al., 2017). Zum einen lässt sich dies möglicherweise mit einer sekundä-ren GABAergen Aktivierung erkläsekundä-ren (Gersner et al., 2015; Bialer et al., 2017). Zum andesekundä-ren sind sie aufgrund ihrer reversiblen Bindung mit der AChE im Unterschied zu irreversibel hemmenden Substanzen wie Soman weitaus weniger toxisch und denaturieren die AChE nicht (Gordon et al., 1978; Dirnhuber et al., 1979; Lallement et al., 2002).