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2.3 Das cholinerge System und Epilepsie

2.3.4 Anticholinerge Substanzen: Atropin und Scopolamin

Scopolamin, auch Hyoscin genannt, gehört wie auch Atropin zu den Tropan-Alkaloiden, die in den Nachtschattengewächsen (Solanacea) produziert werden (Shutt & Bowes, 1979; Frey

& Löscher, 2010). Beide Substanzen sind unspezifische, kompetitive Antagonisten an den muskarinergen Rezeptoren und wirken daher peripher vor allem an den postganglionären Sy-napsen des Parasympathikus parasympatholytisch, hemmen aber auch die wenigen

cholinergen sympathischen Nervenfasern, die die Speichel- und Schweißdrüsen innervieren, und sind an den zentralen muskarinergen Rezeptoren wirksam (Harvey et al., 2012).

Scopolamin währt nach intravenöser Verabreichung nur kurz im Blut mit einer mittleren Halbwertszeit (HWZ) von etwa 1,5 h beim Menschen (Liem-Moolenaar et al., 2011). Putcha et al. (1989) wiesen hingegen eine längere mittlere HWZ von bis zu 4,5 h nach. In einer ande-ren Studie betrug die mittlere HWZ nach subkutaner Applikation beim Menschen ca. 3,6 h (Ebert et al., 1998). Bei Ratten tritt nach einer intraperitonealen Injektion eine kürzere mittlere HWZ von ca. 20 min (Lyeth et al., 1992) und nach einer intravenösen Injektion eine mittlere HWZ von etwa 30 min auf (Tian et al., 2015).

Scopolamin penetriert das Gehirn besser als Atropin und übt eine langanhaltende zentrale Wirkung aufgrund einer Retentionszeit von mehreren Stunden in Hirnregionen mit hohem Vorkommen muskarinerger Rezeptoren aus (Frey et al., 1992, Frey & Löscher, 2010; Liem-Moolenaar et al., 2011). An muskarinergen Rezeptoren des Schweinehirns konnte die hohe Affinität von Atropin (IC50: 0,0047 µmol/l) und Scopolamin (IC50: 0,002 µmol/l) nachgewie-sen werden (Schmeller et al., 1995). Höhere Dosierungen können dazu führen, dass auch ni-kotinerge Rezeptoren blockiert werden (Schmeller et al., 1995; Frey & Löscher, 2010). Beim Menschen halten zentralnervöse und periphere Wirkungen bis zu 8 h nach 0,5 mg/kg intrave-nöser (Liem-Moolenaar et al., 2011) und 0,4, 0,6 und 0,8 mg/kg subkutaner Applikation an (Ebert et al., 1998).

Die Substanzen bewirken eine Entspannung des Darm- und Harntrakts, eine Mydriasis, eine dosisabhängige Brady- bis Tachykardie und die Inhibition von Sekretion der Schweiß-, Spei-chel- und Tränendrüsen (Shutt & Bowes, 1979; Harvey et al., 2012). Dementsprechend er-streckt sich das Spektrum an Therapie- und Einsatzmöglichkeiten von der Ophtalmologie über die Spasmolyse bis hin zur Anästhesie zur prä- und perioperativen Sekretionsreduktion der Drüsen und Hemmung vagaler Reflexe. Bei hohen Dosierungen von Atropin (> 10 mg/kg) kommt es zu zentralnervösen Erscheinungen, die sich in Ruhelosigkeit, Verwirrtheit, Halluzi-nationen, Delirium und in extrem hohen Dosierungen auch in Koma äußern können (Harvey et al., 2012). Hinsichtlich zentraler Wirkungen scheint Scopolamin besser hirngängig und somit rund 10 Mal potenter zu sein als Atropin (Yamamura & Snyder, 1974; Shutt & Bowes, 1979), sodass bei der oben erwähnten Indikation an peripheren Organen letzteres bevorzugt wird. Im Gegensatz zu Atropin weist Scopolamin beim Menschen zunächst eine zentral

sedie-(Shutt & Bowes, 1979; Frey & Löscher, 2010; Harvey et al., 2012). Speziell für das Scopolamin ergeben sich als Einsatzmöglichkeiten die Prävention der „Reisekrankheit“, das Hemmen des Kurzzeitgedächtnisses und das Sedieren in der Humanmedizin (Frey & Löscher, 2010; Harvey et al., 2012; Golding & Gresty, 2015). Es wird weiterhin als Antidot gegen Vergiftungen mit AChE-Hemmern eingesetzt, birgt aufgrund seiner euphorisierenden Wir-kung jedoch auch ein erhöhtes Missbrauchspotential (Harvey et al., 2012).

Anticholinerge Substanzen wie Scopolamin werden in zahlreichen präklinischen und klini-schen neurologiklini-schen Studien zur Erforschung ihrer therapeutiklini-schen Möglichkeiten oder als Werkzeug zur Modelletablierung eingesetzt (Liem-Moolenaar et al. 2011). Wie auch in der vorliegenden Studie findet Scopolamin Anwendung im Bereich der Epilepsieforschung zur Untersuchung von Interaktionen zwischen cholinergem System und Epilepsie bzw. epilepti-schen Anfällen (s. Kapitel 2.3.1) aber auch in Bereichen wie Kognitions-, Gedächtnis-, Alzheimer- und Schizophrenieforschung als Modell zur Beeinträchtigung kognitiver Fähig-keiten (Broks et al., 1988; Flicker et al., 1990; Green et al., 2005; Klinkenberg & Blokland, 2010) und in der Depressionsforschung als potentiell antidepressiv wirkende Substanz (Drevets & Furey, 2010; Drevets et al., 2013; O’Leary et al., 2015).

3 Ziele und Arbeitshypothesen

Die pharmakologische Behandlung der Epilepsien besteht bis heute lediglich in der Möglich-keit, Anfälle symptomatisch zu unterdrücken. Trotz einer in der zweiten Hälfte des 20. Jahr-hunderts bewegten Entwicklung neuer Antiepileptika stellen hohe Pharmakoresistenzen und zahlreiche Nebenwirkungen der oftmals lebenslang verabreichten Medikamente ein persistie-rendes, wesentliches medizinisches Problem dar. Eine wünschenswertere pharmakologische Intervention wäre eine lediglich transiente antiepileptogene Therapie, mit derer Hilfe in epi-leptogene Prozesse derart eingegriffen werden könnte, dass die Erkrankung erst nicht entste-hen würde (White & Löscher, 2014; Jehi & Vezzani, 2014; Löscher, 2016). Ein solches Kon-zept wird von den Gegebenheiten gestützt, dass Risikopatienten, denen ein potentiell epileptogener Hirninsult widerfahren ist, schnell identifiziert sind und die auf den Insult fol-gende Latenzzeit ein Zeitfenster für antiepileptogene Therapien darbieten würde. Umso mehr verstärkt sich jedoch das Dilemma durch die Tatsachen, dass bis heute die Prozesse der Epi-leptogenese kaum verstanden sind und gezielte und sinnvolle Eingriffe in das Zusammenspiel dieser Prozesse bis dato nicht möglich sind. Aus diesem Grund steht besonders in der präkli-nischen Epilepsieforschung die Suche nach proepileptogenen und pharmakologisch beein-flussbaren Faktoren im Vordergrund. Einen solchen möglicherweise epileptogenen Faktor könnte das cholinerge System darstellen, da es Anzeichen dafür gibt, dass ein verstärktes zentrales cholinerges Signal begünstigend auf die Anfallssymptomatik und auf die Epilepto-genese wirken könnte. Somit ergibt sich folgende Arbeitshypothese:

§ Ein verstärktes zentrales cholinerges Signal stellt einen proepileptogenen Faktor dar, dessen pharmakologische Inhibition durch Anticholinergika wie z.B. Scopolamin ei-nen antiepileptogeei-nen oder zumindest krankheitsmodifizierenden Effekt hat.

Das erste Ziel dieses Projekts war es, das hippokampale cholinerge System von Ratten als potentiellen pharmakologischen Angriffspunkt für antiepileptogene Therapieansätze genauer zu untersuchen und zu verschiedenen Zeitpunkten in der Epilepsieentwicklung in Form von extrazellulären Konzentrationsveränderungen seines Neurotransmitters ACh zu charakterisie-ren. Um einen Vergleich zwischen verschiedenen Epilepsiemodellen anstellen zu können, wurden zwei Modelle mit unterschiedlichen Stimuli gewählt: Das chemische Li-Pilocarpin-Modell und das elektrische BLA-Li-Pilocarpin-Modell. Als geeignete Methode für Erhebung der ACh-Konzentrationen wurde die Mikrodialyse gewählt, da sich die Tiere dabei frei bewegen

können und Versuche bei denselben Tieren über die Zeit mehrmals möglich sind, was für chronische Modelle von wesentlicher Bedeutung ist. Nach unserem Kenntnisstand werden hier die ersten Studien präsentiert, in der extrazelluläre ACh-Konzentrationen während Epi-leptogenese und Epilepsie überwacht wurden. Es sollte ACh auch während des SE mit dem Versuch der Reproduktion bereits bekannter Ergebnisse gesammelt werden (Hillert et al., 2014).

Das zweite und weiterführende Ziel bestand darin, aus den erlangten Informationen geeignete anticholinerge Behandlungsschemata zu erstellen und das antiepileptogene Potential eines muskarinergen Antagonisten (Scopolamin) zu untersuchen. Da die Ergebnisse dieses Projekts noch ausstehen, können sie in der vorliegenden Arbeit nicht behandelt werden.

Die zweite Arbeitshypothese betrifft die Aminosäuren, die in dieser Arbeit ebenfalls bestimmt wurden und auf gleiche Weise wie das ACh über die Methode der Mikrodialyse im Hippo-kampus der Ratte untersucht werden sollten:

§ Während des SE, in der Epileptogenese und in der chronischen Phase der Epilepsie unterliegen Aminosäuren neurochemischen Veränderungen, die mit der Epilepsieent-wicklung korreliert werden können.

Sowohl bei Mensch als auch bei Tier wurden zu den Aminosäuren bereits zahlreiche Studien über die Entwicklung ihrer Konzentration während des Anfallsgeschehens und in der chro-nisch epileptischen Phase durchgeführt, was auf die wichtigen Rolle von GABA und Gluta-mat in der Epilepsie zurückzuführen ist (Bradford, 1995). Studien über den zeitlichen Verlauf der Epilepsieentstehung gibt es bis dato wenige, wie beispielsweise von Soukupová et al.

(2014, 2015). Das Ziel in diesem Teilprojekt war es, den Transmitterhaushalt von GABA, Glutamat, Aspartat, Serin, Glycin und Glutamin in der Krankheitsentwicklung im chemischen und elektrischen Modell zu charakterisieren.

4 Material und Methoden

Hinweis: Im Anhang befindet sich eine Auflistung verwendeter Substanzen, Geräte und Ver-brauchsmaterialien sowie deren Bezugsquellen und Herstellungsprotokolle der Lösungen.

4.1 Versuchstiere

Für alle Experimente wurden weibliche Sprague-Dawley-Ratten mit einem Ankunftsgewicht von 200 - 220 g bzw. einem Ankunftsalter von 8 Wochen verwendet, die von den Versuchs-tierzüchtern Janvier (Le Genest-Saint-Isle, Frankreich) sowie ENVIGO (Horst, Niederlande) bezogen wurden (s. Tabelle 2). Die Tiere wurden unter standardisierten Bedingungen (Hell-Dunkel-Zyklus von 12 h, Hellphase von 6 - 18 Uhr, Raumtemperatur 22 - 24 °C, Raumluft-feuchtigkeit 50 - 60 %) innerhalb der ersten Woche nach Ankunft in Gruppenhaltung beste-hend aus maximal 5 Ratten in einem Makrolonkäfig vom Typ IV (1815 cm2 Laufbodenflä-che) mit zugefügtem Spieltunnel als Enrichment gehalten. Die Ratten erhielten Standardnagerdiät und Leitungswasser ad libitum. Nach der Ankunft erfolgte eine einwöchige Habituationsphase, in der die Tiere durch regelmäßiges Handling an die Versuchsbedingun-gen sowie an die Fixierungstechniken zur Substanzinjektion gewöhnt wurden. Zur Randomi-sierung aller Studien wurden die Tiere zu Beginn per Zufallsprinzip den entsprechenden Ver-suchsgruppen zugeordnet. Nach dem operativen Eingriff wurden die Ratten schließlich einzeln in Makrolonkäfigen vom Typ III (800 cm2 Laufbodenfläche) mit mehreren Lagen Zellstoff als Nistmaterial gehalten. Die Einzeltierhaltung war nötig, um einerseits die optima-le Abheilung der Operationswunde zu gewähroptima-leisten und andererseits die Beschädigung des auf der Schädeldecke befestigten Implantats durch Artgenossen zu vermeiden. Die Weich-holzgranulat-Einstreu und das Trinkwasser wurden wöchentlich erneuert. An Versuchstagen geschah dies erst nach den Experimenten. Die im Rahmen dieser Arbeit durchgeführten Tier-versuche wurden durch das Niedersächsische Landesamt für Verbraucherschutz und Lebens-mittelsicherheit (LAVES) unter dem Aktenzeichen 33.12-42502-04-14/1659 genehmigt.

Tabelle 2: Anzahl, Züchter und Verwendung der Versuchstiere

Anzahl, gesamt Züchter Studie/Experiment

8 Janvier Mikrodialyse im Lithium-Pilocarpin-Modell, Vorversuche 24 Janvier Mikrodialyse im Lithium-Pilocarpin-Modell, Hauptversuche

24 ENVIGO Mikrodialyse im BLA-Modell

30 ENVIGO Prämedikation mit Scopolamin im BLA-Modell