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Theoretische Vorüberlegungen

2.3 Das Gedächtnis als kognitive Architektur

2.3.3 Das Arbeitsgedächtnis

Einer der ältesten und sicherlich auch bedeutensten theoretischen Ansätze zur Model-lierung des kognitiven Apparates stammt von Baddeley und Hitch (1974). Die beiden

Autoren griffen das Konzept des Mehrspeichermodells von Atkinson und Shiffrin (1968, siehe auch Kapitel 2.3.1) auf und entwickelten es anhand der Ergebnisse einer ganzen Reihe von Experimenten weiter. Baddeley und Hitch (1974) widmen sich insbesonde-re dem Kurzzeitspeicher, den sie aufgrund eigener Überlegungen als working memo-ry bzw.Arbeitsgedächtnis bezeichnen. So ist das Arbeitsgedächtnis jenes System des menschlichen Gehirns, in dem Informationen kurzzeitig gespeichert und in diesem Zeit-raum vorwiegend bewusst manipuliert oder verarbeitet werden können. Diese Vorgänge sind notwendig, um komplexe kognitive Anforderungen wie das Verstehen von Sprache, den Erwerb von Wissen oder schlussfolgerndes Denken zu bewältigen.

Im Unterschied zum Kurzzeitspeicher von Atkinson und Shiffrin (1968) besitzt das Arbeitsgedächtnismodell eine eigenständige Substruktur. Demnach beinhaltet die erste Fassung des Modells drei Komponenten: die zentrale Exekutive(central executive), den visuell-räumlichen Notizblock (visuospatial sketchpad) und die phonologische Schleife (phonological loop). Die zentrale Exekutive ist die komplexeste Subkomponente des Mo-dells, die sehr viele Funktionen erfüllt, sich einer genauen Analyse aber weitgehend ent-zieht. Baddeley (1992) nimmt jedoch an, dass eine ihrer Aufgaben darin besteht, die Infor-mationen zu koordinieren, die in den abhängigen Systemen (den sogenanntenslave sys-tems) verarbeitet werden. Diese Koordination ist zwingend erforderlich, da Aufmerksam-keit einementale Ressourceist, die aufgrund der beschränkten Kapazität des Arbeitsge-dächtnisses nicht unbegrenzt zur Verfügung steht. Die beiden abhängigen Systeme der ursprünglichen Fassung sind dagegen sehr viel simpler und dienen vereinfacht gesagt der Verarbeitung und kurzzeitigen Aufrechterhaltung modalitätspezifischer Informationen aus der Umwelt. Während im Subystem des visuell-räumlichen Notizblocks visuelle Rei-ze und Inhalte verarbeitet und gespeichert werden, dient die phonologische Schleife der Verwertung bzw. Bereitstellung von akustischen Informationen, wie sie beispielsweise mit gesprochener Sprache transportiert werden.

Obwohl die erste Version des theoretischen Ansatzes vor allem auf der Grundlage zahl-reicher empirischer Untersuchungen entstanden ist, hat das Modell auch einige Schwä-chen. Einer der zentralen Kritikpunkte betrifft die nur sehr vage spezifizierten Funktio-nen der zentralen Exekutive. Baddeley (2001) selbst bezeichnet diese ironischer Weise alsHomunculus oder theoretischen ragbag (=Lumpensack), in den man lästige Fragen hinein tun kann. Hinzu kommt, dass in der ursprünglichen Fassung die Rolle des Lang-zeitgedächtnisses weitgehend unberücksichtigt bleibt, wodurch einige Befunde sich nicht erklären lassen. Der letzte Kritikpunkt bezieht sich schließlich auf die Tatsache, dass zwei modalitätsgebundene Subsysteme zur Verarbeitung visueller und akustischer Si-gnale existieren, es aber weitgehend unklar bleibt, wie und wo sich Informationen aus beiden Subsystemen integrieren lassen. Vor diesem Hintergrund hat Baddeley (2000, 2001) seinen theoretischen Ansatz überdacht und ein modifiziertes Modell des Arbeits-gedächtnisses entwickelt, dessen Struktur Abbildung 2.2 zeigt.

Wie man auf den ersten Blick erkennen kann, umfasst die aktuelle Fassung des Mo-dells nun weitaus mehr, als nur drei Komponenten. So ist mit dem episodischem Zwi-schenspeicher (episodic buffer) ein zusätzliches Subsystem des Arbeitsgedächtnisses

Abbildung 2.2:Revidierte Fassung des Arbeitsgedächtnisses nach Baddeley (2000, 2001)

hinzugekommen, das einen multimodalen Code verwendet und daher die Integration von Informationen aus den anderen beiden abhängigen Systemen zur Aufgabe hat. Der epi-sodische Zwischenspeicher ist damit die Komponente innerhalb der kognitiven Struktur, in der bewusst mentale Modelle bzw. propositionale Strukturen konstruiert werden können.

Gleichzeitig fungiert er als eine Art Schnittstelle zwischen Arbeits- und Langzeitgedächt-nis, das in dem aktuellen Fassung des Modells eine sehr viel stärkere Berücksichtigung findet. Beispielsweise erfordert das Verstehen bzw. Erinnern komplexer Textpassagen nach Ansicht von Baddeley (2001) Inhalte, die im Langzeitgedächtnis abgelegt sind. Die-se Inhalte können über den episodischen Zwischenspeicher aktiviert und damit einer be-wussten Verarbeitung zugänglich gemacht werden. Der Ansatz ist den Überlegungen von Ericsson und Kintsch (1995) nicht unähnlich und ermöglicht darüber hinaus die Erklärung von Gedächtnisphänomenen wie etwa demchunking (Miller, 1956).

Doch auch die phonologische Schleife und der visuell-räumliche Notizblock sind in der neuen Version des Modells mit dem Langzeitgedächtnis verbunden. Einerseits werden für das Erkennen von optischen Mustern oder akustischen Reizen Informationen aus dem Langzeitgedächtnis benötigt, andererseits werden neue Inhalte eingespeist. Dieser Austausch, der in Abbildung 2.2 durch bidirektionale Pfeile symbolisiert ist, findet aller-dings weitgehend unbewusst statt, da es sich um den Abruf und Aufbau von eher impli-zitem Wissen handelt (Baddeley, 2001). Mit der Einbindung des Langzeitgedächtnisses und dem episodischen Zwischenspeicher hat sich auch die Rolle der zentralen Exeku-tiven verändert. Baddeley (2000) sieht diese nicht mehr als eine Art Hilfsspeicher oder Schnittstelle zu den Inhalten des Langzeitgedächtnisses an. Nachdem der episodische Zwischenspeicher diese Funktionen übernommen hat, dient die zentrale Exekutive aus-schließlich der Steuerung der Aufmerksamkeit bzw. Speicherkapazität, welche auf die

drei Subsysteme verteilt werden muss. Aufmerksamkeit und Speicherkapazität sind da-bei als begrenzte Ressourcen zu verstehen, die alsfluider Teil des kognitiven Systems festlegen, wie viele bewusste Prozesse gleichzeitig stattfinden können. Man kann an den weiß hinterlegten Kästchen erkennen, dass alle Komponenten des Arbeitsgedächtnisses auf diesen fluiden Teil angewiesen sind. Folglich ist dessen Verarbeitungskapazität be-schränkt, zumal sich die fluiden Bestandteile nicht durch Lernprozesse verändert lassen.

Im Gegensatz dazu gehören die grau unterlegten Strukturen des Langzeitgedächtnisses zumkristallinenTeil des kognitiven Systems, das sich durch den Erwerb neuen Wissens sehr wohl verändern lässt. Mit dieser Unterscheidung greift Baddeley (2000, 2001) das Konzept der fluiden und kristallinen Intelligenz von Cattell (1963) auf und integriert es strukturell in sein Modell.

Bei der abschließenden Betrachtung der überarbeiteten Fassung fällt auf, dass der An-satz von Baddeley (2001) über ein bloßes Modell des Kurzzeit bzw. Arbeitgedächtnisses weit hinausgeht. Vielmehr handelt es sich um einen umfassenden theoretischen Entwurf, der die kognitive Architektur zum Gegenstand hat. Durch die konzeptionelle Integration des Langzeitgedächtnisses ist das Arbeitsgedächtnismodell eigentlich ein Mehrspeicher-modell, auch wenn der Fokus der Überlegungen auf der Struktur und Funktionsweise bewusster kognitiver Prozesse liegt. Doch trotz der umfangreichen Erweiterung des Mo-dells konnten zentrale Kritikpunkte nicht ausgeräumt werden bzw. kommen neu hinzu.

So ist die Rolle der zentralen Exekutive immer noch äußerst unscharf definiert und behält weitgehend ihren Status als theoretischerHomunculus. Allgemein werden zwar die Funk-tionsweisen der abhängigen Systeme beschrieben und gedanklich erfasst, gleichzeitig vermeidet es der Autor aber, auf die Prozesse zwischen den einzelnenSklavensystemen einzugehen. Ein weiteres Problem ist die Beschränkung auf die Verarbeitung visueller und akustischer Informationen, so dass beispielsweise haptische und olfaktorische Rei-ze innerhalb des theoretischen AnsatRei-zes unberücksichtigt bleiben. Darüber hinaus ist die Beziehung zwischen der Arbeitsgedächtniskapazität und dem Konzept der fluiden Intel-ligenz trotz intensiver Forschungsbemühungen immer noch nicht eindeutig geklärt, wie Yuan, Steedle, Shavelson, Alonzo und Oppezzo (2006) in einem Überblicksartikel dar-stellen. Nach Meinung der Autoren dürfte dies vor allem an den grundlegenden Unter-schieden bei der Messung, Terminologie und den eingesetzten statistischen Methoden liegen.

Doch trotz aller Kritik ist es Baddeley und Hitch (1974) bzw. Baddeley (2000, 2001) ge-lungen, ein Modell vorzulegen, anhand dessen sich viele prüfbare Hypothesen ableiten lassen. Auf diese Weise wurde zu zahlreichen neuen Forschungsansätzen und Theorien angeregt, wie in den folgenden Kapiteln noch zu sehen sein wird. Doch zunächst widmet sich der nächste Abschnitt den Gedächtnismodellen, in deren Mittelpunkt das Langzeit-gedächtnissteht.