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Teil II – Entwicklungen in der Kindertagesbetreuung und Ausblick

6 Herausforderungen beim Wechsel der Betreuungssysteme

8.1 Ausgangssituation Fachkräftebedarf in der Kinder- und Jugendhilfe

Im ersten Abschnitt wird zunächst die Gesamtsituation in der Kinder- und Jugendhilfe dargestellt (Abschnitt 8.1.1). Im zweiten Abschnitt wenden sich die Ausführungen der Kindertagesbetreuung zu (Abschnitt 8.1.2).

8.1.1 Ausgangssituation in den Sozial- und Pflegeberufen allgemein

Im Dezember 2018 wurden bei der Mitgliederversammlung der Landesarbeitsgemeinschaft der öf-fentlichen und freien Wohlfahrtspflege (LAGÖFW) Zahlen der Bundesagentur für Arbeit präsentiert.

Nach diesen bestehen in den Pflegeberufen schon jetzt bundesweite und regionale Engpässe, welche auch für die Sozialberufe in Baden-Württemberg in ähnlicher Weise gegeben sind. Das an diesem Termin ebenfalls präsentierte Positionspapier des Fakultätentags Sozial- und Gesundheits-wesen Baden-Württemberg (FSG-BW)85 verweist ebenso auf einen dezidierten Fachkräftemangel im Sozialwesen insgesamt und insbesondere in der Kinder- und Jugendhilfe in Baden-Württem-berg. Als Ursachen werden neben dem weiteren Ausbau der Hilfen zur Erziehung, insbesondere der Ausbau von Schulsozialarbeit, Ganztagsgrundschulen sowie Angeboten im stationären Be-reich mit hohem Betreuungsbedarf benannt. Diesem Positionspapier hinzuzufügen ist der massive Ausbau in der Kindertagesbetreuung, wie er sich an vielen Stellen dieses Kitabericht auch in Zah-len widerspiegelt.

In der Sitzung des Landesjugendhilfeausschusses vom 10. Juli 2019 wurden daraufhin vom KVJS-Landesjugendamt aufbereitete Daten präsentiert. Diese vermittelten dem Gremium einen Eindruck von der Ausgangssituation in Baden-Württemberg. Die gleichen Inhalte wurden auch im Rahmen des Treffens der LAGÖFW vom 12. Juli 2019 präsentiert und dabei um Aussagen zum Bereich der Pflege und der Behindertenhilfe erweitert. Im Schwerpunkt wurden die Analysen des KVJS zum Bestand und der zu erwartenden Fachkräfteentwicklung in der Kinder- und Jugendhilfe sowie in den Pflegeberufen vorgestellt.

85 Hochschulen Esslingen, Mannheim, Ravensburg-Weingarten, evangelische Hochschulen Freiburg und Ludwigsburg sowie katholi-sche Hochschule Freiburg.

Eine der größten Herausforderungen für die Bestandsaufnahme und für eine Prognose sind Unter-schiede in den zur Verfügung stehenden Daten(quellen). Für die Felder der Kinder- und Jugend-hilfe unterscheiden sich diese mit Blick auf die Erhebungszeiträume und die vorhandenen Merk-male. Eine einheitliche Bestandsaufnahme kann daher aktuell nicht erfolgen. Da diese aber die Grundlage für eine Ermittlung von Ersatzbedarfen (s.u.) und potentieller Mehr- bzw. Minderbedarfe darstellt,86 ist sie ein elementarer Faktor der Fachkraftbedarfsvorausrechnung. Nicht zuletzt des-halb wird für eine solche Vorausrechnung die Einbindung weiterer Experten (s.u.) erforderlich. Mit den bestehenden Daten sind unabhängig davon folgende Feststellungen möglich: In allen betrach-teten Feldern ist die Zahl der Fachkräfte teils sehr deutlich gestiegen. Dies gilt insbesondere für den Anteil studierter Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen, der sich von circa 800 im Jahr 2005 bis heute auf circa 5.100 mehr als versechsfacht hat (nimmt man alle Fachkräfte in den Einrichtun-gen lieEinrichtun-gen die Werte bei ca. 40.000 und ca. 85.000, also eine gute Verdoppelung der Fachkraft-zahl – siehe Abschnitt 8.2). In den übrigen Feldern reichen die Steigerungen von 28 Prozent in der Jugendarbeit, über 45 Prozent in den Pflegeberufen (2017: 134.200 Fachkräfte), bis zu 72 Prozent in der Schulsozialarbeit.

Sowohl in der Kinder- und Jugendhilfe als auch in den Pflegeberufen macht der Blick auf die Al-tersstruktur deutlich, dass sich in den nächsten zehn bis 15 Jahren massive Ersatzbedarfe einstel-len werden. In der Kinder- und Jugendhilfe sind, je nach Feld, fast ein Fünftel der Fachkräfte über 54 Jahre alt (2018 tlw. bis zu rund 18% vs. 2005 rund 6%). In den Pflegeberufen wird aus Alters-gründen sogar ein Drittel der Beschäftigten in den kommenden 15 Jahren in Ruhestand eintreten.

Das Problem der Ersatzbedarfe könnte sich zusätzlich verschärfen, wenn die Attraktivität der Be-rufe sinkt und daher die Zahl der Personen, die das Berufsfeld wechseln, zunimmt. Eine weitere Herausforderung resultiert aus der Teilzeittätigkeit. In der Pflege sind zwei von drei Fachkräften teilzeitbeschäftigt (66,8 %). In der Kindertagesbetreuung sind es bei den Fachkräften über 54 Jah-ren 62,7 Prozent (01.03.2018). Entsprechend müssen mehr Fachkräfte gewonnen werden, um die erforderlichen Vollzeitdeputate zu füllen.

Die Ersatzbedarfe werden sowohl in der Pflege als auch in der Kinder- und Jugendhilfe um teils enorme Mehrbedarfe ergänzt. In der Pflege ergeben sich diese unmittelbar aus den Effekten der zunehmenden Überalterung der Gesellschaft. In der Kinder- und Jugendhilfe ist die Situation feld-spezifisch zu betrachten. In der Kindertagesbetreuung führt der Rechtsanspruch vom 1. August 2013 zu kontinuierlich (stark) ansteigenden Bedarfen in der Kleinkindbetreuung, aber auch in der Ganztagesbetreuung (siehe Abschnitte 1.6.2 und 6.2). Auch in der Schulsozialarbeit ist die Aus-weitung der Angebote zumindest bis zum Ende der Legislaturperiode (politisch) programmiert. In den übrigen Feldern sind Mehrbedarfe überwiegend aufgrund der gesellschaftlichen Entwicklun-gen zu erwarten. Hier spielen die sinkende Verlässlichkeit familiärer Strukturen und die damit sin-kenden Chancen auf soziale Teilhabe und Bildung eine besondere Rolle. Sie könnten auch dann zu einem Bedarfsanstieg führen, wenn sich die absolute Zahl junger Menschen im relevanten Al-terssegment verringern sollte.

86 Ersatzbedarfe beinhalten Austritte aus dem Berufsleben, Wechsel des Berufsfeldes oder verringerte Erwerbsfähigkeit und daher Re-duktion der Arbeitszeit oder völliges Ausscheiden. Mehr- bzw. Minderbedarfe resultieren aus der Ausweitung oder Verringerung der Angebote und Leistungen infolge veränderter Bedarfslagen.

An dieser Stelle kann nahtlos zum demografischen Wandel übergeleitet werden. Der demografi-sche Wandel ist zwingend bei den zu bestimmenden Faktoren (Leistungsempfänger und Fach-kräfte) einzukalkulieren. Wie in allen Bereichen der sozialen Daseinsvorsorge wird die Deckung des Fachkräftebedarfs im kommenden Jahrzehnt durch das Zusammentreffen von drei grundle-genden demografischen Dynamiken geprägt sein, die unumkehrbar auf die Handlungsfelder zu-kommen:

• Ab 2020 tritt die „Babyboomer-Generation“ sukzessive in den Ruhestand; in relativ kurzer Zeit fällt auf dem Arbeitsmarkt ein spürbarer Anteil der seither Erwerbstätigen weg.

• Zeitgleich reduziert sich der Anteil der potentiell Erwerbstätigen (21- bis 64-Jährige) in Baden-Württemberg von 6,64 Mio. im Jahr 2020 auf 6,29 Mio. im Jahr 2030 (ca. -5%); die Folge ist eine spürbare Verringerung des Arbeitskräftepotentials und eine verschärfte Konkurrenz um diese in allen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen.

• Ebenfalls zeitgleich nimmt die Population der künftigen Arbeitskräfte (20- bis 25-Jährigen) ge-rade in den 2020er-Jahren sehr stark ab, nachdem sie im laufenden Jahrzehnt noch sehr stabil war (2020: 692.000 vs. 2030: 600.000; Rückgang ca. 13%).

Die Verknüpfung der steigenden Ersatzbedarfe und der Mehrbedarfe sowie die Verknappung der potentiell Erwerbstätigen macht die Lage besonders brisant. Um dieser Herausforderung gerecht zu werden, bedarf es zielgerichteter Maßnahmenpakte, die eine Abstimmung der Ausbildungsinfra-struktur und der Personalgewinnungsstrategien mit den Zahlen zu akquirierender bzw. dauerhaft zu bindenden Fachkräften ermöglichen. Um diese Zahlen zu ermitteln, sind genaue Personalbe-darfsvorausrechnungen vorzunehmen. Für die Felder der Kinder- und Jugendhilfe sollen solche im Rahmen des Fachtages Fachkräftebedarf am 31.01.2020 erstellt, angepasst bzw. validiert wurden.

Dazu sah der Fachtag vor, der eigentlichen Arbeitsphase durch Vertreterinnen und Vertretern der Landespolitik, der Kommunalpolitik sowie der LIGA der freien Wohlfahrtspflege in Baden-Württem-berg, der Bundesagentur für Arbeit Regionaldirektion Baden-WürttemBaden-Württem-berg, der Landesarbeitsge-meinschaft der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege LAGÖFW Baden-Württemberg bzw. dem Fakultätentag Sozial- und Gesundheitswesen der Hochschulen Baden-Württembergs, der DH-BW Stuttgart und der freien Fachschulen eine Rahmung zu geben. In vier Workshops wurden die kon-kreten Fragestellungen mit den örtlichen Expertinnen und Experten der Jugendämter und der freien Träger der Kinder- und Jugendhilfe bearbeitet. Arbeitsgrundlage der Workshops waren je Themenfeld unterschiedlich konkrete Vorausrechnungsszenarien (s.o.). Eine ausführliche Darstel-lung findet sich im Bericht zum Fachtag (Fachkräftebedarf in der Kinder- und Jugendhilfe in Baden-Württemberg).

8.1.2 Ausgangssituation in der Kindertagesbetreuung

Die bereits in Abschnitt 1.3.2 dargestellte Abbildung 4 (hier Abb. 27) veranschaulicht die Entwick-lung seit 2005. Die Höhe der Säulen zeigt die absolute Zahl der tätigen Fachkräfte. Die farblichen Segmente spiegeln die absoluten Werte der Fachkräfte im jeweiligen Alterssegment wider. Sie rei-chen von den unter 25-Jährigen (in Orange) bis zu den über 54-Jährigen (in Türkis). Aus der Abbil-dung geht sowohl der massive absolute Zuwachs an Fachkräften als auch die demographischen Veränderungen eindeutig hervor. Am 15. Januar 2005 waren in der Kindertagesbetreuung rund 40.000 Fachkräfte tätig. Vierzehn Jahre später hat sich die Zahl mehr als verdoppelt (1. März

2018: 85.000 Fachkräfte). Betrachtet man zudem die Verschiebung der Altersanteile wird deutlich, dass im Jahr 2005 lediglich 5,7 Prozent der beschäftigten Fachkräfte über 54 Jahre alt waren. Im Jahr 2018 sind es bereits 17,4 Prozent. Dies macht deutlich, dass sehr große Ersatzbedarfe auf den Bereich der Kindertagesbetreuung zukommen. Die Erfüllung der entstehenden Mehrbedarfe erhöht die Zahl erforderlicher Fachkräfte nochmals (siehe Abschnitt 1.3.1 und 7 und unten). Im selben Zeitraum hat die Zahl der in Kindertageseinrichtungen betreuten Kinder um rund 52.000 zu-genommen und diese wird weiter steigen (siehe Abschnitt 7).

Abbildung 27: Entwicklung der Fachkräfte in Baden-Württemberg zwischen 2005 und 2018 differenziert in fünf Altersgruppen

Setzt man die 52.000 zusätzlichen Kinder in Relation zu den 45.000 zusätzlichen Fachkräften in dieser Zeitspanne ergibt sich ein Verhältnis von rund einer Fachkraft für jedes weitere betreute Kind (Zuwachs Kind-Fachkraftrelation in dieser Zeitspanne liegt bei 1 zu 0,86). Dieses Verhältnis ist jedoch insbesondere auf den zeitgleichen Krippenausbau und den Rückbau der Regelgruppen bei gleichzeitiger Ausweitung der Betreuungsumfänge zurückzuführen (s.u.). Das bedeutet, je wei-ter man sich vom Ausgangsjahr 2005 entfernt, umso stärker entzerrt sich das Verhältnis zwischen der Zahl betreuter Kinder und der Zahl dafür eingestellter Fachkräfte. Um dies zu verdeutlichen, werden in nachfolgender Tabelle 16 die Veränderungen zwischen 2005 und 2009, 2010 und 2014 sowie 2015 und 2018 betrachtet. Dazu werden einerseits die Zahlen der in den Zeitspannen rekru-tierten Fachkräfte betrachtet. Andererseits werden die Zahlen der Differenzen der zum jeweiligen Anfangs- und Abschlussjahr betreuten Kinder der betrachten Periode ausgewiesen. Die Differen-zen werden dabei unterteilt in die Zahl der betreuten Kinder unter drei Jahren, die Zahl der Kinder

im Kindergartenalter sowie alle Kinder vor dem Schuleintritt. In der ersten Zeitspanne wurden 7.637 Fachkräfte eingestellt, obwohl die Zahl der Kinder insgesamt um rund 7.000 zurückging.

Dies ist auf den zuvor angesprochenen Krippenausbau und den Rückbau der Regelgruppen bei gleichzeitiger Ausweitung der Betreuungsumfänge zurückzuführen.87 Spätestens bei der letzten betrachteten Periode haben sich diese Effekte konsolidiert. Aber auch hier ergibt sich in der Peri-ode selbst ein stetiger Rückgang des Fachkraft-Kind-Verhältnisses. In unseren Vorausrechnungen zum oben genannten Fachtag gehen wir davon aus, dass die Zahl weiterer bis 2025 benötigter Fachkräfte wohl bei mindestens(!) 40.000 liegen wird (inklusive Ersatzbedarfe und inklusive 90.000 zusätzlicher Kinder! – ausführlicher in Abschnitt 8.4).

Tabelle 16: Entwicklung der Kinderzahlen und der Fachkraftzahlen in Baden-Württemberg für drei Zeiträume zwischen 2005 und 2018

2005 – 2009 2009 – 2013 2013 – 2018

Zuwachs Kleinkinder 24.907 29.539 13.512

Zuwachs Kindergartenkinder -31.950 -11.158 19.505

Zuwachs „netto“ -7.043 18.381 33.017

Zuwachs Fachkräfte 7.637 15.202 22.341

Für diesen Abschnitt abschließend bleibt festzuhalten, dass für die Personalgewinnungsstrategien sowohl Mehrbedarfe aufgrund der zunehmenden Zahlen an Betreuungsangeboten bzw. der zu-nehmenden Zahl betreuter Kinder als auch aufgrund der bestehenden Ersatzbedarfe in den Blick zu nehmen sind.

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