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er Tag ist vollgestopft mit Termi- nen, der Chef erwartet ein Ergeb- nis, und eine Erkältung kündigt sich an. Für die meisten Menschen reicht in diesen Fällen eine kurze „Aus- zeit“, um sich zu erholen. Bei wenigen Personen jedoch wird die Erschöpfung zum Dauerzustand. Der Verdacht auf ein chronisches Müdigkeits- oder Er- schöpfungssyndrom (Chronic Fatigue Syndrome/CFS) drängt sich auf – eine Erkrankung, die über Jahre andauern kann und für die keine Ursache be- kannt ist.Etwa 300 000 Menschen leiden in Deutschland an CFS, wenn man die Zahl der angloamerikanischen Fälle auf Deutschland umrechnet, schätzt der
Förderverein für CFS-Erkrankte Fati- gatio. Die meisten Patienten erkranken im Alter zwischen 20 und 40 Jahren.
Frauen trifft es häufiger – wie zum Bei- spiel die jetzt 24-jährige Marion, die ein Jahr vor dem Abitur an einer „Grippe“
erkrankte, die sie bis heute – fünf Jahre später – quält. Das Abitur schaffte sie mit größter Mühe, an ein Studium aber war nicht mehr zu denken.
Wie bei ihr beginnen viele Leidensge- schichten mit einer Infektionserkran- kung, extremer Erschöpfung sowie Mus- kel-, Glieder- und Kopfschmerzen. „Sol- che klassischen CFS-Fälle beginnen akut, aus dem Nichts“, erklärt Hans- Michael Sobetzko, Umweltmediziner und CFS-Experte aus Hamburg. Nach einiger Zeit verschlimmern Schlafstörun- gen, Gedächtnislücken und Konzentrati- onsschwächen den Zustand der Patien- ten. Viele haben durchgehend erhöhte Temperatur – ein Zeichen dafür, dass das Immunsystem hochaktiv ist. Körperli- ches Training verschlechtert die Situa- tion. Nach einer gewissen Zeit (Mo- nate oder Jahre) kommt es zu Stagnati- on oder Erholung auf unterschiedli- chem Niveau. Schlechter ergeht es Patienten mit einer schleichenden Va- riante der CFS. „Eine beginnende Erschöpfung verschlechtert sich lang- sam, ohne dass irgend- wann eine Besserung ein- tritt“, sagt Sobetzko.
Einen Auslöser ken- nen die Wissenschaftler bisher nicht. Infektionen, Toxine, seelische Kon- flikte – für alle fanden sie Hinweise. Einige Exper- ten vermuten ein Zu- sammenspiel von ver- schiedenen Faktoren: genetische Veran- lagung, Veränderungen im Gehirn, ge- schädigtes Immunsystem gemeinsam mit einer viralen Infektion und psy- chischer Disposition. Eine Theorie be- sagt, dass die akute Erschöpfung durch eine Virusinfektion ausgelöst wird, während die schleichende Form hauptsächlich psychologische Ursachen habe.
Die Centers of Disease Control and Prevention (CDC) in Atlanta lieferten erstmals im Jahr 1988 eine Definition für die Erkrankung: Danach muss der Erschöpfungszustand mit grippeähnli- chen Symptomen mindestens sechs Mo- nate andauern, ohne dass er von einer anderen Krankheit verursacht wird.
Die heute bevorzugte Definition (Text- kasten) stammt von Fukuda et al. aus dem Jahr 1994 und wurde in den Annals of Internal Medicine veröffentlicht (1994; 121: 953–959) .
Ebenfalls im Jahr 1994 hat das Bun- desgesundheitsministerium eine ergän- zende Klassifikation vorgeschlagen (DÄ 91:A 2946–2953 [Heft 43]). Sie un- terscheidet „primäres“ CFS, das ent- sprechend der CDC-Definition durch eine Infektion oder ohne Ursache auf- tritt, von „unklassifizierbaren“ CFS, die nur einige Kriterien erfüllen. Abgese- hen davon sprechen die Autoren von ei- nem „sekundären“ CFS, wenn der Er- schöpfung ein anderes Leiden zugrunde liegt.
Beim Immunsystem laufen die Fäden zusammen
Als gesichert gilt die Schlüsselrolle des Immunsystems. Nachweisen konnten Wissenschaftler bei der überwiegenden Anzahl der Patienten eine Aktivierung der Immunabwehr: Die Zahl aktivierter T-Zellen nimmt zu, Interleukin-2-Re- zeptoren werden vermehrt exprimiert und die Zytokinsekretion verstärkt.
Englische und amerikanische Wissen- schaftler sehen eine hochregulierte Zy- tokinproduktion als Ursache für den Ausbruch.
Die Konzentration der Zytokine im Serum könne somit ein guter Marker P O L I T I K
Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 99½½½½Heft 21½½½½24. Mai 2002 AA1413
Chronisches Erschöpfungssyndrom
Wenn das Leben nur noch eine Last ist
Etwa 300 000 Menschen in Deutschland leiden an einem Symptomenkomplex, für den bisher kein Auslöser bekannt ist.
Medizinreport
Das chronische Erschöpfungssyndrom ist eine Erkrankung jün- gerer Menschen – vielfach sind Frauen betroffen. Foto: Superbild
für das CFS sein, mutmaßt Dr. Roberto Patarca-Montero von der University of Miami School of Medicine. Sie ändert sich mit der Zeit und abhängig davon, wie schwer ein Patient erkrankt ist. Ein Zusammenspiel zwischen fehlgesteuer- tem Immunsystem und einer Infektion mit Viren oder Bakterien liegt nahe. Ins- besondere Herpesviren (Epstein-Barr- Virus, Humanes Herpesvirus 6, Cytome- galievirus), Enteroviren und Retroviren diskutieren die Experten als Ursache.
Aber auch Mycoplasmen, die amerikani- sche Ärzte bei Golfkriegsveteranen fan- den, Chlamydien, Borrelien, Legionellen und Salmonellen stehen unter Verdacht.
Für die Muskelschmerzen gibt es fol- gende Erklärungsversuche: Toxine von Staphylokokken schädigen die Zell- membran und verursachen so den myo- fazialen Schmerz. Australische Ärzte des Royal Hospital in Adelaide haben festgestellt, dass Glucose im Organis- mus von CFS-Kranken vermehrt über die anaerobe Glykolyse zu Milchsäure abgebaut wird. Auch das könnte die Muskelschmerzen erklären.
Bei einige Patienten mit ATP-Man- gel bewirkte die Gabe von NADH, um die ATP-Produktion „anzuheizen“, ei- ne Verbesserung der Beschwerden.Vie-
le CFS-Patienten plagen zudem unter- schiedliche Allergien. Für den briti- schen Allergologen Jonathan Brostoff können CFS-Symptome auch durch Getreide- und Milchprodukte ausgelöst werden. Neuere Studien legen eine ge- netische Prädisposition nahe. Zuneh- mend richtet sich das Interesse auch auf
das Enzym RNase-L, das bei der Virus- abwehr des Organismus eine zentrale Rolle spielt und bei vielen CFS-Erkrank- ten eine unerwartet hohe Aktivität auf- weist. Ob sich der labortechnische Nach- weis dieser Ribonuklease als Beweis für die Erkrankung eignet, ist Gegenstand zurzeit laufender Untersuchungen.
Doch wie sollen Ärzte bei der Fülle an möglichen Ursachen den Betroffe- nen am besten helfen? Für die meisten Patienten beginnt mit dem andauern- den Erschöpfungszustand ein „Arztma- rathon“. „Wie sagen Sie einem Patien- ten, den jede Bewegung schmerzt, dass Sie nichts für ihn tun können?“ fragt Hans-Michael Sobetzko. „So übertrie- ben es klingen mag: In schweren Fällen leidet der Patient wie ein Aidskranker – nur dass er weiter lebt“, sagt Sobetzko.
Die Therapie sollte individuell aus- gerichtet sein und auf drei Säulen ru- hen. „Die besten Erfahrungen haben wir mit einer symptomausgerichteten Behandlung gemacht“, berichtet Prof.
Rüdiger von Baehr, Immunologe aus Berlin. Von besonderer Wichtigkeit sei die psychologische Betreuung, da die Betroffenen – bedingt durch die soziale Isolation – häufig an einer reaktiven Depression leiden. Bei einigen Patien- ten stabilisierten zudem therapeutische Zytokine den körperlichen Zu- stand, andere sprechen jedoch nicht darauf an.
Verbessert sich der Zu- stand des Patienten – durch welche Interven- tion auch immer –, emp- fiehlt von Baehr, so wur- de berichtet, den Patien- ten, mit einem dosierten Muskeltraining zu be- ginnen.
In Großbritannien hat eine von der Regie- rung beauftragte Ar- beitsgruppe aus Ärzten, Wissenschaftlern und Patienten drei Jahre lang Erkenntnisse über mögliche Auslöser, Therapiemög- lichkeiten, aber auch Erfahrungsberich- te gesammelt. Seit Anfang des Jahres liegt ein umfassender Bericht vor. Da- nach sind 0,4 Prozent der englischen Bevölkerung vom Erschöpfungssyn- drom betroffen. Die Briten fordern da-
her, das CFS in den Ausbildungskatalog der Medizinstudenten aufzunehmen.
Doch nicht nur Erwachsene reißt die Krankheit aus ihrem bisherigen Leben.
Den britischen Erkenntnissen zufol- ge sind Jugendliche im Alter von 13 bis 15 Jahre vermehrt durch CFS gefährdet.
„Kindern müssen wir besonders schnell helfen“, sagt Dr. Charles B. Shepherd, der am CFS-Bericht mitwirkte. „Denn unter der monatelangen Schulunterbre- chung leidet ihre Ausbildung.“ Bei der Diagnose von CFS in dieser Altersklasse sollten auf jeden Fall Kinder- und Ju- gendpsychiater hinzugezogen werden, da differenzialdiagnostisch auch eine Ver- haltensstörung infrage kommt.
Wie es ist, ohne ersichtlichen Grund seines ehemaligen Lebens beraubt zu werden, beschreibt Marion S. ein- drucksvoll: „Es ist, wie wenn ein gelieb- ter Mensch gestorben ist. Man vermisst ihn noch nach Jahren. So geht es mir mit meinem Leben.“ Edda Grabar
Neue Pilzspezies:
Candida africana
Eine neue Spezies der Pilzgattung Can- dida als Erreger von Mykosen der Scheide und des Penis hat der Berliner Mikrobiologe Prof. Hans-Jürgen Tietz von der Klinik für Dermatologie der Charité entdeckt. Ursprünglich hat der Forscher die neue Art im Vaginalab- strich von Prostituierten in Madagaskar und in Angola gefunden, inzwischen aber auch bei drei deutschen und bei ei- ner polnischen Patientin diagnostiziert.
Tietz benannte die neue Art nach ihrem Fundort „Candida africana“ und beschrieb die Morphologie des Pilzes, seine biochemischen und serologischen Eigenschaften, sodass der Pilz als ei- genständiger Krankheitserreger von Entzündungen im Vaginalbereich er- kannt werden kann (Mycosis 2001; 44:
437–445). Inzwischen werden Refe- renzstämme vom Candida africana so- wohl in den Niederlanden beim Eu- ropäischen Referenzzentrum CBS als auch in den Vereinigten Staaten bei den Centers for Disease Control in Atlanta
bereitgehalten. EB
P O L I T I K
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A1414 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 99½½½½Heft 21½½½½24. Mai 2002
Definition des chronischen Erschöpfungs- syndroms von Fukuda et al.:
❃Erstmalig auftretender Erschöpfungszustand, der länger als sechs Monate andauert, sich durch Ruhe nicht bessert und die Lebensqua- lität erheblich einschränkt.
❃Symptome:
– vermindertes Kurzzeitgedächtnis und Konzentrationsschwierigkeiten – Halsschmerzen
– Muskelschmerzen
– Empfindliche Lymphknoten an Achseln und Hals – Gelenkschmerzen
– Kopfschmerzen (eines neuen Typs, Muster oder Schweregrades) – Zustandsverschlechterung nach Anstrengung
– Schlafstörungen
❃Krankheiten, die diese Symptome ebenfalls hervorrufen können, müssen sicher ausgeschlossen sein.
Textkasten