Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 104⏐⏐Heft 33⏐⏐17. August 2007 A2247
T H E M E N D E R Z E I T
D
er Nürnberger Ärzteprozess, der vor sechzig Jahren, am 20. Au- gust 1947 zu Ende gegangen ist, schloss mit sieben Todesurteilen, fünf Verurteilungen zu lebenslänglicher und vier zu langjähriger Haft sowie sieben Freisprüchen – und schließlich mit dem Nuremberg Code. Mit ihm formulierte der US-Militärgerichtshof unter dem Eindruck der in 140 Verhandlungstagen nachgewiesenen Medizinverbrechen zehn Grundätze für „Permissible Medical Experiments“. Der Nürnberger Ärzte- prozess betraf Experimente mit KZ-Gefangenen sowie Euthanasiemorde, durchgeführt zum Teil mit wissen- schaftlicher Methodik oder zumindest wissenschaftlicher Bemäntelung, im- mer aber ohne Rücksicht auf Leben und Gesundheit der unfreiwilligen Probanden.
Der Nürnberger Kodex wirkt bis heute nach. Vor allem die ethischen Erklärun- gen des Weltärztebundes nach dem Zweiten Weltkrieg, aber auch noch die Bioethikkonvention des Europarats aus dem Jahr 1999 haben sich damit aus- einandergesetzt. Beschränken wir uns auf den Weltärztebund. Das Genfer Ärztegelöbnis von 1948, der Internatio- nale Kodex medizinischer Ethik von 1949 und schließlich die Deklaration von Helsinki aus dem Jahr 1964 stim- men in der Intention mit dem Nürnber- ger Kodex weitgehend überein. Dessen beherrschende Grundsätze sind: Maß- geblich für die medizinische Forschung ist der Nutzen für den Patienten. Jeder Patient/Proband muss vom beteiligten Arzt umfassend aufgeklärt werden. Es darf keine unnötige oder gar willkür- liche Forschung am Menschen geben.
Auffallend sind nicht nur die Ge- meinsamkeiten, sondern auch die Ab- weichungen, die sich im Laufe der Zeit eingeschlichen haben. Denn die Grundsätze von Nürnberg erwiesen
sich für manchen Forscher offenbar als zu streng und für manche Forschungs- absicht als hinderlich. Und so hat sich vor allem die Deklaration von Helsinki erheblich gewandelt, ja in der aktuellen Version von 2004 ist die Ursprungsfas- sung von 1964 kaum noch zu erken- nen. Manches wurde verbessert. So wurden die Rolle der Ethikkommissio- nen stärker – einige Kritiker sagen: zu stark – betont oder Interessenkonflikte von Forschern thematisiert. Vieles ist aber, nein, sagen wir nicht verschlech- tert, sagen wir, dem Zeitgeist geopfert
worden. Leider traf dieser wesentliche Punkte. Drei Beispiele:
> Ursprünglich stand der Nutzen für den individuellen Patienten obenan, jetzt rangiert der wissenschaftliche oder gesellschaftliche Nutzen gleich, wenn nicht schon höher. Ein kundiger Zeitzeuge sprach davon, offenbar kündige sich „der bisher schon zu beobachtende weitgehende Wandel vom individuellen Nutzen zum ,sozialen Benefit‘ als ausschließlicher Rechtfer- tigungsgrund für jede Forschung an“
(Elmar Doppelfeld).
> In Nürnberg war noch uneinge- schränkt von der Einwilligung des umfassend aufgeklärten Patienten die Rede. Das hat schon 1964 der Weltärzte- bund etwas weniger streng gesehen und auch die hilfsweise Einwilligung des gesetzlichen Vertreters akzeptiert.
Neuerdings soll auch Forschung ohne jegliche Einwilligung zulässig sein,
„wenn der physische oder psychische Zustand, der der wirksamen Einwilli- gung nach Aufklärung entgegensteht, ein notwendiges Charakteristikum der fraglichen Versuchsgruppe ist“.
> Erleichtern möchte der Weltärzte- bund auch den placebokontrollierten Versuch. Der soll erlaubt sein, selbst wenn es eine erprobte Therapie gibt (gegen die getestet werden könnte),
„wenn seine Verwendung aus zwingen- den wissenschaftlich begründeten methodischen Gründen erforderlich ist“. So steht es zwar (noch) nicht in der Deklaration von Helsinki, doch der Vor- stand der Ärzteorganisation verbreitet eine solche „Klarstellung“.
Die Interessenlagen, die sich hinter solchen Erleichterungen zugunsten der Forschung (und zulasten der individuel- len Patienten/Probanden) verbergen, sind nicht immer leicht auszumachen.
Ist es das reine Forschungsinteresse von Wissenschaftlern, die die Hände
nicht zu eng gebunden wissen wollen?
Steckt die US-Ärzteorganisation dahin- ter, wie einige Kritiker argwöhnen, oder sind die Ärzteschaften junger Mitglieds- länder des Weltärztebundes groß- zügiger als die im alten Europa? Ist es die forschende Industrie, für die strikte Auflagen zu teuer sind?
Solche Fragen dürften alsbald wie- der auftreten, wenn sich der Weltärzte- bund daran macht, Forschung mit menschlichen Stammzellen ethisch zu begleiten. Einen zarten Hinweis dazu findet man an unerwarteter Stelle: Im Genfer Ärztegelöbnis hieß es ursprüng- lich, der Arzt gelobe, das menschliche Leben „von der Empfängnis an“ zu achten (from the time of conception).
Gemäß der derzeitigen deutschen Fas- sung verspricht er immerhin, jedem Menschenleben „von seinem Beginn an“ Ehrfurcht entgegenzubringen. Im englischen Original ist nur mehr die Rede von „respect for human life“. Punktum.
Mag sein, dass in Deutschland sol- che Fragen kritischer gesehen werden als anderswo, wie unlängst der General- sekretär des Weltärztebundes, Otmar Kloiber, meinte: „Das hängt natürlich auch mit unserer Geschichte, der medizinischen Forschung während der Nazizeit zusammen.“ Eben. Deshalb kam es ja zu dem Nürnberger Kodex.I
KOMMENTAR
Norbert Jachertz
NÜRNBERGER KODEX