• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Ärztliche Versorgung: Nutzen für den Patienten im Vordergrund" (16.05.2008)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Ärztliche Versorgung: Nutzen für den Patienten im Vordergrund" (16.05.2008)"

Copied!
5
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

D

er Begriff „Individualmedi- zin“ wird in der gesundheits- politischen Debatte häufig antithe- tisch zur sogenannten Staatsmedi- zin gebraucht. Beides sind viel be- nutzte Schlagwörter. Bereits in Ber- tolt Brechts „Flüchtlingsgesprächen“

(1940/41) heißt es: „Die Begriffe, die man sich von etwas macht, sind sehr wichtig. Sie sind Griffe, mit denen man Dinge bewegen kann.“ (1) Be- griffe schlagen also breite Schneisen ins Dickicht der Wirklichkeit. Sie schaffen Ordnung und Übersicht – oft freilich um den Preis der Verkürzung eines komplexen Sachverhalts. Das gilt auch für das Gesundheitswesen.

Nicht nur Gesundheitspolitiker, auch Ärzte (insbesondere ihre Ver- bandsvertreter) waren und sind zu- gleich Sprachschöpfer, liefern be- griffliche Definitionen und konstru- ieren damit eine Wirklichkeit. Auch für die Medizin gilt, dass Sprach- regelungen oder sprachliche Kon- ventionen soziale Realitäten schaf- fen, indem etwa wichtige semanti- sche Felder emotional besetzt oder Begriffe benutzt werden, um tief sit- zende individuelle und kollektive Ängste entweder zu schüren oder zu zerstreuen. Vor allem für die Sprachregelungen in der Gesund- heitspolitik gilt laut Alfred Casse- baum, dass die dort benutzten Be- griffe, Schlagworte oder Worthül- sen nicht unbefangen verwendet werden können und dass ihr bloßer Gebrauch bereits die ihnen zugrun- de liegende Ideologie festigen hilft (2). Es ist daher nötig, sich über die Verwendung bestimmter Begriffe in einer gesundheitspolitischen Dis- kussion Klarheit zu verschaffen.

Der Begriff „Staatsmedizin“

scheint nirgendwo präzise definiert, sondern meist bewusst vage gehal- ten. Am nächsten kommt der gesund- heitspolitischen Bedeutung dieses Begriffs die semantische Umschrei- bung, die man in der Onlineenzy- klopädie Wikipedia findet. Hiernach umfasst Staatsmedizin Vorstellungen und Konzepte, „die den Wettbewerb im Gesundheitswesen reduzieren oder abschaffen, dem Staat eine zu große Einflussmöglichkeit im Ge- sundheitswesen sichern, einheitliche

Leistungen für alle einführen, das Niveau der gesundheitlichen Versor- gung senken oder eine Rationierung von medizinischen Dienstleistungen“

wollen (3).

Dagegen wurde der Begriff

„Staatsmedicin“ im 19. Jahrhundert noch ganz anders gebraucht. In ei- ner Besprechung von Neuerschei- nungen auf dem Gebiet der Homöo- pathie für die Zeitschrift „Jahr- bücher für wissenschaftliche Kritik“

heißt es 1833: „Der Staatszweck verlangt durch die Staatsmedicin ei- ne Garantie für möglichst vollkom- mene objektive, nicht von Zufällig- keiten und Subjektivitäten abhän- gige Ausübung der Medicin zum Zweck des Gesundheitswohls sei- ner Bürger.“ Die „Staatsmedicin“

wurde vom Verfasser dieser auch heute noch lesenswerten Rezension mit dem „positiven Recht“ gleich- gesetzt. Dagegen funktioniere „eine rein wissenschaftliche oder Natur- medicin (. . .) nach den reinen, nicht gesetzlich gemachten, Regeln der Wissenschaft“ (4).

Doch schon damals hat die Rechtsprechung die Therapiefrei- heit hochgehalten und die „Staats- medicin“, die angeblich nichts Sub- jektives in sich aufnehme, in die Schranken gewiesen. Als wegwei- send kann hier ein Gutachten der Juristischen Fakultät der Universität Leipzig aus dem Jahr 1830 angese- hen werden, worin dem Staat jedes

„Wissenschaftsrichtertum“ mit fol- genden Worten abgesprochen wird:

„Es muss dem Arzte (also noch mehr dem Kranken) die Wahl des Systems der Medicin freibleiben, schon deshalb, weil mit der Verwer- ÄRZTLICHE VERSORGUNG

Nutzen für den Patienten im Vordergrund

Anzustreben ist ein therapeutisches Handeln, das auf wissenschaftlich begründetem Wissen fußt, aber gleichzeitig die Individualität des Patienten in seiner Ganzheitlichkeit respektiert und für die Arzt-Patienten-Beziehung daraus Nutzen zieht.

Robert Jütte

„Es muss dem Arzte (also noch mehr dem Kran- ken) die Wahl des Systems der Me- dicin freibleiben“, befand 1830 die Ju- ristische Fakultät der Universität Leipzig.

Foto:picture-alliance/akg

(2)

fung derselben jede Fortbildung der Wissenschaft für unzulässig erklärt werden würde. Das sogenannte ho- möopathische Heilverfahren beruht auf Ansichten, die, gleichviel, ob sie materiell richtig oder unrichtig sind (welche Frage nicht zur Kom- petenz des Richters gehört), den- noch in formell-wissenschaftlicher Hinsicht soweit ausgebildet sind, dass ihnen der Name eines Sys- tems nicht abgesprochen werden kann.“ (5)

Der zweite Begriff, die Individu- almedizin, hat im Grunde keine his- torischen Vorläufer; denn bevor der Staat und die Krankenkassen zu wichtigen, nach mancher Auffas- sung inzwischen bereits dominie- renden Akteuren im Gesundheits- wesen wurden, war die medizini- sche Praxis im wahrsten Sinne des Wortes „Individualmedizin“, näm- lich eine Arzt-Patient-Beziehung, die vom Kranken und nicht vom Heiler gesteuert wurde, sodass Me- dizinhistoriker in diesem Zusam- menhang von einem Patronage-Sys- tem sprechen, in dem der Patient die Behandlung bestimmt.

Wenn heute in der medizinsozio- logischen Fachliteratur von Indivi- dualmedizin die Rede ist, dann wird meist zwischen einer eher personen- orientierten und einer eher technik- orientierten Variante unterschieden.

„Die personenorientierte Medizin“, so Bircher/Wehkamp, „stützt sich in der Diagnostik und in der Therapie primär auf die Anwendung medi- zinischen Wissens und Könnens, während die technikorientierte Me- dizin vorwiegend Leistungen aus den hoch entwickelten Bereichen der labordiagnostischen, der bildge- benden und der operativen Verfah- ren anbietet.“ (6)

Es wäre zweifellos wünschens- wert, wenn sich die Kooperation zwischen diesen beiden Arten der Individualmedizin an den jeweili- gen Stärken orientieren würde und keine Richtung einen Alleinvertre- tungsanspruch für sich durchzuset- zen versuchte. Die Patienten, so zei-

gen Umfragen, wollen beides. Sie haben durchaus Vertrauen in eine technikorientierte Medizin. Und es wird auch nicht so sein, dass der Gentest in Zukunft die Anamnese ersetzen und dem Arzt die Entschei- dung über die beste Therapie abneh- men wird. So meint die Tübinger Bioethikerin Lilian Marx-Stölting zur der Art Individualmedizin, von der Forscher auf dem Gebiet der Pharmakogenetik und Pharmakoge- nomik reden und träumen: „Der ge-

netische Aspekt ist immer nur ein Aspekt, und er kann auf keinen Fall die Gespräche zwischen Arzt und Patient ersetzen. Viele Nebenwir- kungen gehen auf die mangelnde Mitwirkung von Patienten an der Therapie zurück, die etwa Einnah- mevorschriften nicht beachten.“ (7) Damit kommt man zu einem Phä- nomen, das der Lübecker Medizin- und Wissenschaftshistoriker Corne- lius Borck treffend als „das Leiden an der Unübersichtlichkeit der mo- dernen Medizin“ umschrieben hat.

Diese Diagnose scheint denjenigen Aufwind zu geben, die gern neu- deutsch vom „Disease Management“

sprechen und den Patienten mög- lichst ohne große Umwege und auf möglichst kostengünstige Art in Kompetenzzentren lenken würden, wo dem Patienten angeblich das ge- boten wird, was inhaltlich (Stich- wort: evidenzbasierte Medizin, Leit- linien) und ökonomisch (Stichwort:

Budgetierung, Fallpauschalen) so-

wie sachlich geboten und angemes- sen zu sein scheint. Doch die Patien- ten beweisen durchaus Eigensinn, wie nicht nur der wachsende Markt für individuelle Gesundheitsleistun- gen (IGeL), der inzwischen auf eine Milliarde Euro Umsatz pro Jahr ge- schätzt wird, zeigt (8). Wie aus neueren Studien hervorgeht, ist die Entscheidung vieler kranker Men- schen für komplementärmedizini- sche Verfahren – häufig zusätzlich, seltener alternativ – durchaus sach- orientiert und nicht irrational. Aller- dings scheint sich die immer größer werdende Zahl der Patienten, die Komplementärmedizin in Anspruch nehmen, in Hinblick auf sozial- demografische, krankheitsbezogene und psychologische Merkmale vom Rest der ärztlichen Klientel zu un- terscheiden. Sie weisen beispiels- weise einen höheren Bildungsgrad auf und pflegen einen gesünderen Lebensstil. Allgemein gilt jedoch:

Für viele kranke Menschen ist die sogenannte Schulmedizin oder wis- senschaftliche Medizin, deren Hand- lungsspielräume durch staatliche Vorgaben und gesundheitsökonomi- sche Zwänge immer enger zu wer- den scheinen, längst zu einem Ange- bot unter vielen geworden. Das mag man aus unterschiedlichen Gründen beklagen. Doch auch diese Ent- wicklung – das soll hier ausdrück- lich betont werden – ist ein Zeichen von Mündigkeit.

Die Ärzte, die für sich gern die Therapiefreiheit in Anspruch neh- men, werden auf Dauer nicht darum herumkommen, auf die Erwartungs- haltung der Patienten angemessen zu reagieren und das Gespräch mit ihnen zu suchen. Wie eine neue Stu- die zeigt, hat es übrigens keinerlei Einfluss auf die Zufriedenheit der Patienten, ob der Arzt ihren Wün- schen nachgegeben hat oder nicht.

Aufklärung ist also ein wichtiger Bestandteil der Individualmedizin.

Ärzte, so die Autoren der genannten Studie, müssen lernen, „Alternati- ven vorzuschlagen und die Gründe für solche Entscheidungen darzule- gen, die nicht mit den Vorstellungen der Patienten konform gehen“ (9).

Doch wie heißt es schon bei Imma- nuel Kant: „Es ist so bequem, un- mündig zu sein. Habe ich ein Buch,

INDIVIDUALMEDIZIN

Mit der Zukunft der „IndividualMedizin“ befasste sich eine Veranstaltung des „Dialogforums Pluralismus in der Medi- zin“ am 23. und 24. Januar in Berlin.

Das unter Mitwirkung des Präsidenten der Bundesärzte- kammer, Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe, im Herbst 2000 ins Leben gerufene „Dialogforum Pluralismus in der Medizin“ hat sich die Aufgabe gestellt, innerhalb der Ärzte- schaft einen kritischen Dialog zwischen den unterschied- lichen Richtungen in der Medizin zu verfolgen.

Einige der Beiträge der Veranstaltung vom Januar sollen in loser Abfolge im Deutschen Ärzteblatt abgedruckt werden.

Für viele kranke Menschen ist die sogenannte Schulmedizin

längst zu einem Angebot unter vielen geworden

.

(3)

das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw.: So brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig, zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.“ (I. Kant, Was ist Aufklärung? 1784).

Eine Individualmedizin, wie sie das „Dialogforum Pluralismus in der Medizin“ programmatisch vertritt, will ein therapeutisches Handeln, das auf wissenschaftlich begründe- tem Wissen fußt, aber gleichzei- tig die Individualität des Patienten (nicht nur in seiner Genomstruktur) in seiner Ganzheitlichkeit respek- tiert und für die Arzt-Patienten-Be- ziehung daraus Nutzen zieht. Sie braucht also den „denkenden“ Pati- enten und den nachdenklichen Arzt, der nicht immer gleich alles besser zu wissen glaubt, nur weil er der Fach- mann ist. Und das Gleiche gilt für die vielen Gesundheitsexperten und Po- litiker, die zu wissen glauben, was unserem Gesundheitswesen nottut.

❚Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2008; 105(20): A 1065–7

LITERATUR

1. Bertolt Brecht, Gesammelte Werke, Bd. 14, Frankfurt/Main, Suhrkamp, 1967, S. 1461.

2. Alfred Cassebaum: Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose. Über Sprachregelungen in der Gesundheitspolitik. In: Dr. med. Mabuse 10 (1985), Nr. 39, S. 24 f.

3. http://de.wikipedia.org/wiki/Staatsmedizin (letzter Zugriff: 3. 1. 2008)

4. C. H. Schultz: Rezension zweier homöopa- thischer Schriften. In: Jahrbücher für wis- senschaftliche Kritik 1833, Sp. 500 f.

5. Zitiert nach Richard Hachl, Samuel Hahne- mann, Bd. 2, Dr. Willmar Schwabe, Leipzig, 1922, S. 234.

6. Johannes Bircher, Karl H. Wehkamp: Das ungenutzte Potential der Medizin. Analyse von Gesundheit und Krankheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Rüffer & Rub: Zürich 2006, S. 89.

7. Zitiert nach DocCheck Newsletter 07.51 vom 20. 12. 2007.

8. Werner Bartens: Praxis als Basar. In: Süd- deutsche Zeitung vom 11. 6. 2007, S. 1.

9. Zitiert nach Gesundheitszeitung 8/2007, S. 3.

Anschrift des Verfassers Prof. Dr. phil. Robert Jütte Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert-Bosch-Stiftung Straußweg 17, 70184 Stuttgart

D

as „Gesetz zur Klärung der Vaterschaft unabhängig vom Anfechtungsverfahren“ ist zum 1. April 2008 in Kraft getreten. Da- mit ist es jetzt möglich, die geneti- sche Abstammung eines Kindes – unabhängig von der rechtlichen An- fechtung der Vaterschaft – auch ge- gen den Willen der Beteiligten fest- stellen zu lassen. Die Frage, von wem ein Kind abstammt, kann für eine Familie von existenzieller Be- deutung sein. Der rechtliche Vater möchte wissen, ob er auch der biolo- gische Vater ist. Das Kind möchte wissen, von wem es abstammt, und zuweilen möchte auch die Mutter Klarheit schaffen. Dieses Klärungs- interesse, so hat das Bundesverfas- sungsgericht am 13. Februar 2007 entschieden (1), ist verfassungs- rechtlich geschützt. Das höchste deutsche Gericht stellte fest, dass ein „heimlicher“ Vaterschaftstest im gerichtlichen Verfahren nicht ver-

wertet werden darf und gab dem Ge- setzgeber auf, bis zum 31. März 2008 die Grundlagen für ein Verfah- ren zu schaffen, das allein zur Fest- stellung der Vaterschaft dient, ohne dass eine Anfechtungsklage einge- reicht werden muss.

Die Frage der Abstammung konn- te auch bislang schon rechtlich ein- wandfrei in einem privaten Gutach- ten geklärt werden, wenn sich alle Betroffenen einverstanden erklärten und das Gutachten nach Vorgaben der

„Richtlinien für die Erstattung von Abstammungsgutachten“ des Wis- senschaftlichen Beirats der Bundes- ärztekammer (2) angefertigt wurde.

Wesentliche Merkmale des richtli- nienkonformen Gutachtens sind: die Einwilligung aller Beteiligten bezie- hungsweise der Sorgeberechtigten bei minderjährigen Kindern, die Un- tersuchung von Kind, Kindesmutter und Eventualvater anhand einer vom Untersucher entnommenen geneti- Auswertung einer

DNA-Analyse für die Abstam- mungsbegutach- tung: Im optimalen Fall werden Merk- male des Kindes, der Mutter und des Putativvaters untersucht.

ABSTAMMUNGSBEGUTACHTUNG

Hochwertige Analyse

nicht zum Dumpingpreis

Der Gesetzgeber will die Qualität von Vaterschaftsgut- achten sichern und heimliche DNA-Analysen verhindern.

Noch aber gibt es Fragen, wie das Ziel angesichts eines international boomenden Markts realisiert werden kann.

Foto:dpa

Peter M. Schneider

(4)

schen Probe mit schriftlich dokumen- tierter Identitätsprüfung (einschließ- lich Foto und Fingerabdruck), die Untersuchung von mindestens zwölf unabhängig vererbten Genorten mit einer Mutationsrate von jeweils unter 0,5 Prozent: Statistisch kommt es bei weniger als einer von 200 Meiosen zur Entstehung eines neuen Merk- mals, welches bei den Eltern nicht vorhanden ist und so einen Vater- schaftsausschluss vortäuschen könn- te. Außerdem muss die kombinierte AVACH (AVACH steht für allgemei- ne Vaterschafts-Ausschluss-Chance) mehr als 99,99 Prozent betragen. Und es gibt klare Anforderungen an die Qualifikation des Sachverständigen und seines Labors.

Sperrte sich allerdings einer der Betroffenen gegen die Abstammungs- begutachtung, blieb dem rechtli- chen Vater nach bisherigem Recht nur die Möglichkeit einer Anfech- tungsklage (§§ 1600 ff. BGB), die innerhalb einer Frist von zwei Jah- ren nach Kenntnis der gegen die Vaterschaft sprechenden Umstände erhoben werden musste. Im Rah- men eines solchen Verfahrens konn- te die Abstammung zwar geklärt werden – stellte sich allerdings her- aus, dass der rechtliche nicht der biologische Vater ist, wurde damit zwangsläufig das rechtliche Band

zwischen Vater und Kind zerrissen.

Aufgrund des neu in das Familien- recht eingeführten § 1598 a BGB haben Vater, Mutter und Kind je- weils gegenüber den anderen beiden Familienangehörigen einen Anspruch auf Klärung der Abstammung. Das heißt, die Betroffenen müssen in eine private Abstammungsuntersu- chung einwilligen und die Entnah- me der erforderlichen Proben dul- den. Der Anspruch ist an keine weiteren Voraussetzungen geknüpft, das heißt, eine Anfechtungsklage ist nicht mehr damit verbunden. Willi- gen die anderen Familienangehöri- gen nicht in die Abstammungsunter- suchung ein, wird ihre Einwilligung grundsätzlich vom Familiengericht

ersetzt. Zusätzlich kann das Verfah- ren ausgesetzt werden, um dem Kin- deswohl in außergewöhnlichen Fäl- len (wie zum Beispiel besondere Lebenslagen und Entwicklungspha- sen) Rechnung zu tragen. Die in

§ 1600 b BGB festgelegte Anfech- tungsfrist bleibt hingegen beste- hen, allerdings hat das Verfahren zur Klärung der Abstammung eine hemmende Wirkung auf diese Frist.

So ist sichergestellt, dass zum Bei- spiel durch eine Verschiebung der Abstammungsklärung aufgrund der Berücksichtigung des Kindeswohls die Frist zur Anfechtung nicht über- schritten wird.

Bei Anhörungen zu diesem Ge- setzgebungsverfahren wurde von Sachverständigen darauf hingewie- sen, dass auch Qualitätsanforderun- gen an das von den Parteien pri- vat einzuholende Abstammungsgut- achten dringend notwendig sind (3).

Dies erscheint gerade vor dem Hin- tergrund einer Vielzahl teilweise obskurer Angebote von Billiganbie- tern, vorwiegend im Internet, von besonderer Dringlichkeit. Hier wird immer noch aggressiv für „heim- liche“ Vaterschaftstests geworben, indem unter Verweis auf die an- geblich große Zahl sogenannter Kuckuckskinder mit den Ängsten zweifelnder Väter Geschäfte ge- macht werden. Die in diesem Zu-

sammenhang oft genannten Zahlen von zehn bis 20 Prozent (4) erschei- nen jedoch deutlich zu hoch ange- setzt, da sie auf den Ergebnissen von durchgeführten Vaterschaftstests be- ruhen. Da Vaterschaftstests jedoch meist wegen eines bereits vorliegen- den Verdachts auf Nichtvaterschaft beauftragt werden, liegt es nahe, dass diese Zahlen die Realität weit überschätzen. Eine britische Studie auf der Basis wissenschaftlich publi- zierter Daten aus medizinisch-gene- tischen Untersuchungen, die nicht im Zusammenhang mit Vaterschafts- fragen durchgeführt worden waren, hat hingegen für abweichende Vater- schaften eine mittlere Zahl von nur 3,7 Prozent ergeben (5).

Der „Onlinemarkt“ für DNA- Vaterschaftstests ist für den Laien, der sich vermutlich zunächst am Preis orientiert, undurchschaubar ge- worden, da die vom Einsender selbst entnommenen genetischen Proben zum Teil nur über Briefkastenfirmen gesammelt und anschließend im Ausland unter nicht überprüfbaren Bedingungen analysiert werden. Es kommt erschwerend hinzu, dass aus Kostengründen oftmals nur die gene- tischen Proben des zweifelnden Va- ters und des Kindes untersucht wer- den. Das Fehlen der mütterlichen Probe bedingt jedoch einen erhebli- chen Informationsverlust, da hier der Mutter-Kind-Vergleich wegfällt. So kann ein vererbtes Merkmal nicht eindeutig als vom Vater stammend identifiziert werden, weil es ebenso von der Mutter stammen könnte.

Als Folge kann es im Falle ei- ner Nichtvaterschaft zu verdeckten Ausschlusskonstellationen kommen, bei denen der untersuchte Mann zwar ein Merkmal mit dem Kind ge- meinsam hat, aber dieses in Wirk- lichkeit von der Mutter vererbt wur- de. Dies ist besonders dann gravie- rend, wenn der tatsächliche Vater mit dem untersuchten Mann ver- wandt ist und nur eine geringe Zahl von ausschließenden Erbinforma- tionen zu erwarten ist. Die Kindes- mutter muss daher, wann immer möglich, mit untersucht werden. In Fällen, bei denen dies nicht durch- führbar ist, muss daher der in den Richtlinien geforderte Umfang von zwölf Systemen auf mindestens

Wenn Briefkastenfirmen für Onlineanbieter DNA-Proben sammeln, kann deren Identität nicht garantiert werden.

Das Kindeswohl nicht zu gefähr- den und dennoch die Klärung der Abstammung zu erleichtern, ist Ziel der neuen rechtli- chen Regelungen.

Foto:Photothek

(5)

16 bis 18 erhöht werden. Die erhoff- te Einsparung von Kosten durch den Verzicht auf die Untersuchung der Kindesmutter wird letztendlich durch die in diesen Fällen notwendige Er- weiterung des Typisierungsumfangs zunichtegemacht.

Es gibt darüber hinaus einige Fehlerquellen, die zu falschen Er- gebnissen führen können, wenn formale und labortechnische Qua- litätsstandards nicht beachtet wer- den. Bei der Untersuchung selbst entnommener und zur Untersu- chung eingesandter Proben kann es aufgrund mangelnder Kennzeich- nung zu Vertauschungen ganzer Fälle kommen, vor allem, wenn es sich um ein „Briefkastenlabor“

handelt, das diese Proben nur sam- melt und weitersendet. Eine Ge- wahrsamskette mit Rückverfolg- barkeit der Probenidentität lässt sich grundsätzlich nicht realisieren.

Wenn die Proben im Labor nur ein einziges Mal untersucht werden, ist dann auch eine Verwechslung schwer zu erkennen. Daher sollten alle Analysen in zwei unabhängigen Ansätzen erfolgen, damit eine inter- ne Plausibilitätskontrolle der Ergeb- nisse möglich ist. Bei einem Vater- schaftsausschluss sollte eine zweite Extraktion und Analyse der DNA aus der Originalprobe erfolgen, um auszuschließen, dass dieses Ergeb- nis durch laborinterne Vertauschung einer einzelnen Probe zustande ge- kommen ist. Alle Typisierungser- gebnisse sollten als Tabelle im Gut- achten aufgelistet und die Ergebnis- se erläutert sein, damit diese gege- benenfalls in einem unabhängigen Labor überprüft werden können.

Zuverlässigkeit von Gutachten oft schwer durchschaubar Die Kriterien für einen Ausschluss der Vaterschaft müssen dargelegt werden, und genauso müssen die Hypothesen bei der Berechnung der Vaterschaftswahrscheinlichkeit im Fall eines Nichtausschlusses er- läutert werden. Dazu gehört eben- falls die Anwendung adäquater biostatistischer Methoden, die auch das Vorliegen einer möglichen Mu- tation in einem der untersuchten Systeme berücksichtigen. Leider ist es gerade für den Laien, der ver-

sucht, sich im Internet über Vater- schaftstests zu informieren, oftmals schwer zu erkennen, ob ein Anbieter diese Kriterien im Gutachten erfüllt.

Dabei sind die Anforderungen an die Qualität der Laboruntersuchun- gen und die Kompetenz der Sachver- ständigen bereits seit 2002 zentra- ler Bestandteil der oben genannten Richtlinien für Abstammungsgut- achten. Entsprechend den dort ge- machten Vorgaben wird die wissen- schaftliche und praktische Qualifika- tion der Sachverständigen derzeit durch eine Kommission unter der Federführung der Deutschen Gesell- schaft für Abstammungsbegutach- tung im Einvernehmen mit Vertre- tern von fünf wissenschaftlichen Fachgesellschaften auf freiwilliger Basis festgestellt und beurkundet (6).

Pflicht zur Akkreditierung könnte Qualität sichern helfen Nach den Plänen des Gesetzgebers sollen Qualitätsanforderungen im künftigen Gendiagnostikgesetz de- finiert werden, zu dem am 16. April 2008 von der Bundesregierung die Eckpunkte veröffentlicht wurden (7).

Danach sollen von einer Gendiagnos- tik-Kommission verbindliche Richt- linien zum allgemein anerkannten Stand der medizinischen Wissen- schaft und Technik erarbeitet wer- den, die sowohl die Qualifikation der Personen als auch die Durch- führung der genetischen Analysen betreffen.

Unklar bleibt allerdings, ob da- mit eine Akkreditierung aller La- bors mit Einführung eines Qualitäts- management-Systems nach interna- tional anerkannten Normen (8) ge- meint ist, wie sie schon heute in ei- ner Reihe von europäischen Nach- barländern verbindlich gefordert wird. Auch die Deutsche Gesell- schaft für Abstammungsbegutach- tung hält eine Pflicht zur Akkredi- tierung wegen der weitreichenden Konsequenzen einer Abstammungs- begutachtung für die Familien für unbedingt sinnvoll. Zwölf rechts- medizinische Institute und eine Rei- he von etablierten klinischen und privaten Labors erfüllen die Qua- litätskriterien und sind nach der entsprechenden DIN-Norm akkre- ditiert (Liste der akkredierten La-

bors beim Deutschen Akkreditie- rungsrat unter www.dar.bam.de).

Im geplanten Gendiagnostik- gesetz soll außerdem verbindlich festgeschrieben werden, dass geneti- sche Untersuchungen zur Feststel- lung der Abstammung eines Kindes nur dann zulässig sind, wenn die Personen, von denen eine genetische Probe untersucht werden soll, in die Untersuchung eingewilligt haben. In Verbindung mit der nunmehr legalen Möglichkeit, auch gegen den Willen der Mutter einen Vaterschaftstest durchführen zu lassen, sollen auf diesem Weg „heimliche“ Gutach- ten verboten werden. Es ist aller- dings noch ungeklärt, mit welchen Sanktionen dieses Verbot durchge- setzt werden soll, zumal durch die vorab geschilderte „Internationali- sierung“ dieses Markts über das Internet nationale Verbote leicht um- gangen werden können. Trotz dieser noch ungeklärten Fragen ist das jetzt in Kraft getretene Gesetz ein Schritt in die richtige Richtung, da es dem begründeten Wunsch des Vaters auf Wissen um seine genetische Vater- schaft zu seinem Kind eine bessere rechtliche Grundlage verschafft.

❚Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2008; 105(20): A 1067–9

LITERATUR

1. BvR 421/05, FamRZ 2007, 441 ff.

2. Dtsch Arztebl 2002; 99(10): A 665–7.

3. BT Drucksache 16/6561 vom 4. 10. 2007.

4. Zum Beispiel: „Jedes fünfte Baby ein ,Kuckuckskind‘“; Berliner Morgenpost vom 16. Januar 2005, www.morgenpost.de/

content/2005/01/16/berlin/728789.html (Stand 20. 4. 2008).

5. Bellis MA et al.: Measuring paternal discrep- ancy and its public health consequences.

J Epidemiol Community Health 2005; 59:

749–54.

6. Informationen der Kommission zur Fest- stellung der Qualifikation von Abstam- mungsgutachtern; www.kfqa.de.

7. Pressemitteilung des BMG vom 16. 4. 2008.

8. DIN EN ISO/IEC 17025 (Anforderungen an Prüflaboratorien) und DIN EN ISO 15189 (An- forderungen an medizinische Laboratorien).

Anschrift des Verfassers Prof. Dr. rer. nat. Peter M. Schneider Vizepräsident der International Society for Forensic Genetics Institut für Rechtsmedizin Klinikum der Universität zu Köln Melatengürtel 60–62, 50823 Köln E-Mail: peter.schneider@uk-koeln.de

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Die Bogenöffnung wird nämlich immer mit einer sogenannten Archivolte (einem Bogenbande oder einem bogenförmigen Saume) umgeben), die ähnlich der Aussenfläche eines ionischen

Sollte sich dieser Trend in den nächsten Jahren fortsetzen, muß un- terstellt werden, daß bereits im Jah- re 1976 aufgrund des vermehrten Nachwuchses die Schwierigkeiten bei

Von dem auch hier erfolgreichen Freskanten Mölck hat sich kein Manu- skript erhalten, wohl aber ein Briefwechsel, der beweist, daß ursprünglich ein anderer Künstler für

Die Umfrage von Shanafelt deckt noch einen weiteren Aspekt auf, der auch an anderen Unikliniken eine Rolle spielen dürfte: Ärzte, denen es nicht gelingt, sich im Klinikall-

Trotz der Bemühungen, die Zahl der Studienplätze im Fach Humanmedizin zu erhöhen, bleibt Humanmedizin weiterhin ein „har- tes Numerus-clausus-Fach", und es wird wohl auch

und in Nebenzentren gegeben. so daß sich hier automatisch eine ten- denzielle Ballung nicht nur von ärzt- lichen, sondern auch anderer Dienstleistungsangebote

Im Rah- men eines solchen Verfahrens konn- te die Abstammung zwar geklärt werden – stellte sich allerdings her- aus, dass der rechtliche nicht der biologische Vater ist, wurde

Das gilt nicht nur für die Gestaltung der Arbeitswelt, sondern gerade in der heutigen Zeit auch für die Freizeitgestaltung.. Wir Ärzte ha- ben besondere Verpflichtungen auch