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Archiv "Palliative Versorgung: Tod und Sterben – kein Tabu mehr" (09.11.2012)

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Deutsches Ärzteblatt

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Heft 45

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9. November 2012 A 2239 PALLIATIVE VERSORGUNG

Tod und Sterben – kein Tabu mehr

Seit der Eröffnung der ersten Palliativstationen und Hospize hat sich viel getan. Doch immer

noch werden viele schwerstkranke Menschen von den Angeboten nicht erreicht.

S

teter Tropfen höhlt den Stein, heißt es. Dies trifft auch auf die Palliativmedizin zu. War sie noch vor einigen Jahren ein relativ junges und unbekanntes Fachge- biet, ist sie jetzt aus der medizini- schen Versorgungslandschaft nicht mehr wegzudenken. „Palliativme- dizin geht alle an und setzt für an- dere Fächer in der Medizin, im sozialen Bereich und in der Gesell- schaft viele wichtige Impulse“, be- tonte Prof. Dr. med. Christof Mül- ler-Busch als Kongresspräsident des 9. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) im September in Berlin.

Darin waren sich auch die ande- ren Kongressteilnehmer einig: Tod und Sterben dürfen kein Tabu mehr sein. „Das Thema Palliativmedizin reicht über die Medizin hinaus. Es gehört in die Mitte der Gesell- schaft“, erklärte Müller-Busch. Der

Palliativmediziner aus Berlin hob dabei das multiprofessionelle Kon- zept von Palliative Care hervor. Es gelte, die anwachsende Anzahl von Patienten auch palliativmedizinisch nach qualitativ hohen Standards zu betreuen – und zwar unter Einbe- ziehung vieler verschiedener Be- rufsgruppen und bundesweit flä- chendeckend. Ein wesentliches Kennzeichen der palliativ-hospizli- chen Versorgung sei die Teamar-

beit, die Arbeit in Netzwerken. Zum Teil sollten die verschiedenen Be- rufsgruppen aber noch lernen, dass man mehr zusammenarbeiten muss.

Viel hat sich jedoch bereits seit der Eröffnung der ersten Palliativ-

station 1983 in Köln getan: Heute gibt es mehr als 400 Palliativstatio- nen und Hospize sowie zehn Lehr- stühle für Palliativmedizin in Deutschland – finanziert allerdings hauptsächlich noch durch Stiftun- gen. Allein die Deutsche Krebshilfe hat mehr als 63 Millionen Euro in den Aufbau der Versorgungsstruk- turen, in die Stiftungsprofessuren und in palliativmedizinische For- schungsprojekte investiert.

Prof. Dr. med. Friedemann Nauck, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, unterstrich während des Kongres- ses die Bedeutung der Palliativme- dizin in der Medizin. Sie dürfe

Die Palliativmedizin wurde und wird von einer Bürgerbewegung getragen.

Raymond Voltz, Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin

Foto: picture alliance

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9. November 2012 nicht allein in der Behandlung von

Menschen mit Krebserkrankungen ihren Platz haben, sondern müsse in allen medizinischen Fachgebieten anzutreffen sein: „Jeder Arzt muss neben der kurativen Therapie die palliativmedizinischen Behandlungs- möglichkeiten kennen und frühzei- tig einsetzen oder mit Palliativ- teams kooperieren“, betonte er.

Doch auch in anderen Bereichen weise die Palliativmedizin trotz ih- rer dynamischen Entwicklung noch Defizite auf.

Ähnlicher Ansicht ist auch der Präsident der Bundesärztekammer, Prof. Dr. med. Frank Ulrich Mont- gomery: „Wir brauchen in Deutsch- land dringend mehr Palliativstatio- nen und Hospize für die Versorgung sterbenskranker Menschen. In den vergangenen Jahren hat es in die-

sem Bereich zwar große Fortschrit- te gegeben, doch noch immer wer- den viele der schwerstkranken und sterbenden Menschen von den An- geboten nicht erreicht“, sagte er gegenüber dem Deutschen Ärzte - blatt. Die „Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen“ setze dabei wichtige Impulse. Träger sind die Bundes- ärztekammer, die Deutsche Gesell- schaft für Palliativmedizin und der Deutsche Hospiz- und Palliativver- band (DHPV).

Über erreichte Erfolge bei der Etablierung der Palliativmedizin und Hospizbewegung in Deutsch- land sowie Bereiche, bei denen noch Nachholbedarf besteht, be- richteten in einem Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt Vertreter dieser Trägerorganisationen. Der Kölner Palliativmediziner Prof. Dr.

med. Raymond Voltz, DGP, geriet dabei geradezu ins Schwärmen:

„Die drei Trägerorganisationen er- gänzen sich wunderbar im Charta- prozess. Es ist wirklich eine fantas- tische Zusammenarbeit. Wir hätten uns das nie träumen lassen.“ Voltz schilderte die Anfänge des Charta- prozesses: Auf dem zehnten Kon-

gress der European Association for Palliative Care im Jahr 2007 sei jede nationale Palliativfachgesell- schaft dazu aufgerufen worden, ein Projekt vorzustellen. „Und dann sa- ßen wir da und überlegten: Was können wir für Deutschland ma- chen? Dann kam uns die Idee, den Chartaprozess zu entwickeln.“ Ein- gebettet ist dieser in eine internatio- nale Initiative. Diese sei als Buda- pest Commitments auf dem Kon- gress beschlossen worden. Zwei Jahre lang arbeiteten DGP, der DHPV und die Bundesärztekam- mer, gefördert von der Robert- Bosch-Stiftung und der Deutschen Krebshilfe, mit 50 weiteren Insti - tutionen an der Charta. Die zweite Phase, die „Umsetzungsphase“, die von der Robert-Bosch-Stiftung und dem Bundesfamilienministeri-

um unterstützt wird, soll Ende nächsten Jahres abgeschlossen wer- den. Sie dient Voltz zufolge dazu, „die Idee der Charta weiter zu verbreiten, Unterschriften zu sammeln und die Ziele in die Realität umzusetzen“.

Die Charta: Der Patient steht im Mittelpunkt

Doch was sind das überhaupt für Ziele? Die Charta sei in fünf Leit- sätze untergliedert, erläuterte Dr.

med. Birgit Weihrauch, die bis Oktober Vorstandsvorsitzende des DHPV war (dazu auch der Kasten

„Der Charta-Prozess in Kürze“).

„Wir haben sie so formuliert, dass wir immer die Betroffenen in den Mittelpunkt gestellt haben.“ Bei den gesellschaftspolitischen Her - ausforderungen gehe es beispiels- weise um ethische Fragen am Le- bensende. „Wir werden uns dafür einsetzen, ein Sterben unter würdi- gen Bedingungen zu ermöglichen und insbesondere den Bestrebun- gen nach einer Legalisierung der Tötung auf Verlangen durch eine Perspektive der Fürsorge und des menschlichen Miteinanders entge- genzuwirken“, heißt es in der Char- ta. Der zweite Leitsatz betrifft die

Versorgungsstrukturen. Dabei geht es Weihrauch zufolge darum, „dass Menschen ihren Bedürfnissen ent- sprechend betreut werden, so wie die Hospizbewegung und Palliativ- versorgung es in den letzten 30 Jah- ren in wunderbarer Weise entwi- ckelt haben“.

Im dritten Leitsatz geht es um die Anforderungen an die Aus-, Weiter- und Fortbildung. Auch in diesem Bereich habe man bereits große Erfolge zu verzeichnen, sind sich Voltz und Weihrauch einig. So sei es gelungen, die Palliativmedizin 2009 als Pflichtlehr- und Prüfungs- fach in das Medizinstudium einzu- führen. Inzwischen gebe es zehn Lehrstühle und Professuren. „Wenn man berücksichtigt, dass zuneh- mend klassische Lehrstühle abge- baut werden, dann sind zehn Lehr- stühle ein wirklich gutes Ergebnis“, ergänzte die zuständige Dezernen- tin der Bundesärztekammer, Dr.

med. Justina Rozeboom. Und auch im Bereich der Weiterbildung hat sich ihrer Ansicht nach einiges ge- tan: „6 500 Ärzte haben bereits die Zusatzbezeichnung Palliativmedi- zin erworben.“ Diese teilten sich hälftig auf den ambulanten Sektor und den Klinikbereich auf. „Das ist sicher ein guter Ansatz“, meinte Rozeboom. Die Zusatzbezeichnung mit der Kursweiterbildung sei eine sehr gute Grundlage für Ärztinnen und Ärzte, sich palliativmedizi- nisch zu qualifizieren.

Trotz großer Erfolge gibt es noch viele Defizite

Doch ebenso engagiert wie die Pal- liativmediziner auf die bereits er- reichten Erfolge verweisen, berich- ten sie auch über die „unglaublich vielen Defizite“. „Erheblich defizitär ist die allgemeine Palliativversor- gung. In den allgemeinen Kranken- häusern, in den stationären Pflege- einrichtungen, in der hausärztlichen und in der allgemeinen pflegeri- schen Versorgung gibt es noch gro- ße Lücken“, berichtet Weihrauch.

Bisher habe man auf diese Versor- gungsbereiche viel zu wenig gese- hen. „Wir haben den spezialisierten Bereich gut ausgebaut. Das war auch zunächst richtig. Aber jetzt müssen wir in die Breite gehen“,

6 500 Ärzte haben bereits die Zusatz -

bezeichnung Palliativmedizin erworben.

Justina Rozeboom,Bundesärztekammer Fotos:

Georg J. Lopata

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9. November 2012 betonte sie. Schätzungen zufolge

sterben etwa zehn bis 15 Prozent der Menschen eines plötzlichen To- des. Und genauso viele brauchen Weihrauch zufolge eine speziali- sierte Palliativversorgung. „Von cir- ca 850 000 Menschen, die pro Jahr sterben, bleiben also etwa 600 000, die eine allgemeine Palliativversor- gung benötigen. Und das sind die - jenigen Menschen, die in Kranken- häusern und Pflegeeinrichtungen sterben.“ Dort würden mehr qualifi- zierte Mitarbeiter benötigt sowie Modelle, die den Heimbewohnern auch in der ärztlichen Versorgung anders Rechnung trügen. „Es muss vor allem besser koordiniert und or- ganisiert werden“, meinte Weih- rauch.

Ein zweites Defizit, auf das Voltz hinwies, sei die häufig fehlende Frühintegration. „Alle Menschen müssen zumindest ein palliativme- dizinisches Angebot bekommen können, und zwar zu einem Zeit-

punkt, an dem es auch sinnvoll ist – also möglichst früh zusätzlich zum normalen Medizinbetrieb im Kran- kenhaus.“ Voltz verwies dazu auf wissenschaftliche Untersuchungen, denen zufolge sich durch einen frü- hen Ansatz nicht nur die Symptome der Patienten verbesserten, sondern auch Kosten einsparen ließen.

Und nicht zuletzt liege in der Forschung noch einiges im Argen, meinen die Vertreter der Organisa- tionen. Voltz hält es beispielsweise

für dringend notwendig, dass das Bundesforschungsministerium ein Forschungsprogramm zum Thema End-of-Life-Care, Palliativversor- gung und Hospiz startet. „Wir brau- chen auch klinische Studien, die die Lebensqualitätskriterien zum Ziel

der Untersuchung machen und nicht immer nur als sekundäre End- punkte betrachten“, betonte er.

Notwendig sei ebenso eine bun- desweite Evaluation der speziali- sierten ambulanten Palliativversor- gung, meinte Weihrauch. Denn oh- ne sie ließen sich die verschiedenen Verträge in den Ländern überhaupt nicht vergleichen. „Es darf nicht nur nach Zahlen gehen, sondern da- nach, was wirklich bei den Betrof- fenen ankommt“, erläuterte sie.

Aber nichts geht ohne Begeiste- rung und Engagement. Auch darin sind sich Voltz, Weihrauch und Ro- zeboom einig. Weihrauch wies auf das Erreichte hin. Circa 80 000 Eh- renamtliche engagieren sich bun- desweit in der Hospizarbeit. „Die Palliativmedizin wurde und wird von einer Bürgerbewegung getra- gen“, sagte sie. „Wir brauchen auch weiterhin gesellschaftliches Enga- gement, weil wir immer noch an dem Bewusstseinswandel arbeiten müssen. Wir müssen anders mit Sterben und Tod sowie mit schwerst- kranken und sterbenden Menschen umgehen.“

Dem kann Voltz nur zustimmen.

„Eine Studentin, die auf unserer Station ihr praktisches Jahr absol- viert hatte, wurde einmal vom WDR gefragt: Bei all dem Schreck- lichen, was Sie hier erleben, wie kommen Sie denn abends nach Hause? ,Ich bin dann immer ganz beschwingt‘, war ihre für die Re- porter verblüffende Antwort.“

Aber auch die Ärzte zeigten sich inzwischen zunehmend aufge- schlossen für die Thematik. Roze- boom erinnerte an den Deutschen Ärztetag 2011, auf dem die Pallia- tivmedizin ein Schwerpunktthema gewesen war. „Es war eines der Themen, das eine besonders große Resonanz hatte.“ Daran erinnert sich auch Weihrauch gern: „Ich war sehr beeindruckt von der Ernsthaf- tigkeit der Debatte.“

Gisela Klinkhammer, Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann Das Ziel des Charta-Prozesses:

Die im Jahre 2010 präsentierte Charta zur Be- treuung schwerstkranker und sterbender Men- schen in Deutschland ist im Konsens mit mehr als 50 Organisationen und Institutionen aus Gesell- schaft und Gesundheitssystem verabschiedet worden. Sie benennt die Herausforderungen und zeigt Perspektiven für gemeinsame künftige Ent- wicklungen bei der Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen auf, verbunden mit konkreten Handlungsoptionen und einer Selbst- verpflichtung für die Zukunft.

Träger des Charta-Prozesses:

Die Träger des Charta-Prozesses sind – die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin – der Deutsche Hospiz- und Palliativverband – die Bundesärztekammer.

Die fünf Leitsätze der Charta:

Leitsatz 1: Gesellschaftspolitische Heraus - forderungen – Ethik, Recht und öffentliche Kommunikation

Leitsatz 2: Bedürfnisse der Betroffenen – Anforderungen an die Versorgungsstrukturen Leitsatz 3: Anforderungen an Aus-, Weiter- und Fortbildung

Leitsatz 4: Entwicklungsperspektiven und Forschung

Leitsatz 5: Die europäische und internationale Dimension

Unterstützung und Kontakt:

Bisher haben 1 144 Einzelpersonen und 511 In- stitutionen die Charta unterzeichnet. Die Träger freuen sich über jeden neuen Unterzeichner. Wei- tere Informationen unter www.charta-zur-betreu ung-sterbender.de

DER CHARTA-PROZESS IN KÜRZE

Wir werden uns dafür einsetzen, ein Sterben unter würdigen Bedingungen zu ermöglichen.

Birgit Weihrauch, Deutscher Hospiz- und Palliativverband

Foto: K. Dlubis-Mertens

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