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Archiv "Fallpauschalen im Krankenhaus: Das Ende der „Barmherzigkeit der Intransparenz“" (13.12.2002)

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M

it der Einführung der diagnose- bezogenen Fallpauschalen (Diag- nosis Related Groups; DRGs) erfährt das Krankenhausfinanzierungs- system in Deutschland die seit Jahrzehn- ten stärkste Veränderung. Das neue Sy- stem bietet die Chance für eine lei- stungsgerechte Finanzierung und für ei- ne deutliche Reduktion der

Krankenhauskosten. Es ist an- gesichts der demoskopischen und finanziellen Entwicklung in Deutschland eine wichtige zukunftsfähige Umstrukturie- rung. Trotz der zu erwartenden Vorteile müssen jedoch neben den rein finanziellen Aspekten auch Überlegungen zu qualita- tiven Veränderungen ange- stellt werden, die die Arbeit im Krankenhaus, die Stellung des Arztes und mögliche Auswir- kungen auf die Patienten be- treffen.

Von den Verantwortlichen wurde das australische System als Vorlage ausgewählt, weil es den höchsten Differenzie- rungsgrad bezüglich der jewei-

ligen Fallschwere aufweist (1). Ziel ist es, für eine bestimmte Erkrankung eine be- stimmte Pauschalvergütung zu bezah- len, unabhängig von den individuellen Aufwendungen und unabhängig von dem Krankenhaus, in dem sie erbracht werden. Für jede DRG wird ein relatives Kostengewicht festgelegt. Der Erlös des Krankenhauses je Patient errechnet sich aus einem definierten Basisfallpreis und einem DRG-Relativgewicht. Das Pro- dukt aus diesen beiden Größen stellt den DRG-Erlös pro Fall dar. Das Relativge-

wicht wird eingeschätzt nach der Menge der diagnostischen und therapeutischen Prozeduren, die bei einem bestimmten Behandlungsablauf erbracht werden müssen. Bestimmend für die aufwand- gerechte Abbildung sind ökonomische Kriterien. So hat zum Beispiel eine Tonsillektomie ein Relativgewicht von

0,487. Das heißt: Bei einem Basisfall- preis von 2 900 Euro ist der Erlös gleich 1 412,3 Euro. Die Implantation eines Kochlea-Implantates, also einer Ohrpro- these, die bei taub geborenen Kindern eingesetzt wird, hat ein Relativgewicht von 8,338, sodass bei gleichem Basisfall- preis 24 354 Euro erlöst würden.

Solche Fallpauschalierungen sind bei klar definierten Erkrankungen ohne größere Komplikationen und ohne weite- re Diagnosen relativ einfach durchzu- führen. Sie finden in Deutschland bereits

für einige, meist operative Leistungen Anwendung. Kompliziert wird es bei Pa- tienten, die an mehreren Krankheiten gleichzeitig leiden. In diesem Fall kommt der so genannte Komorbiditäts- und Komplikationslevel (CCL) zum Tragen.

Als Beispiel sei ein Patient mit aku- tem Herzinfarkt gewählt. Ohne Herzka- theter wird für einen solchen Patienten die Basis-DRG F60 angesetzt. Stirbt dieser Patient, wird er codiert als F60.C und erhält ein Relativgewicht von 0,993. Überlebt der Patient, wird F60.B zugewiesen, und er erhält ein Relativgewicht von 1,26. Die höchste Fall- schwere würde bei zusätzli- chen Komorbiditäten erreicht, zum Beispiel Lungenemboli- en, Diabetes mellitus und Apo- plex. In diesem Fall wird ein Relativgewicht von 1,716 zu- grunde gelegt. Insgesamt gibt es fünf Schweregradstufen zwischen null und vier. Die so genannte Glättungsformel, die bei einer zu großen Zahl von Komorbiditäten und Kompli- kationen angewandt wird, verhindert, dass das Fallgewicht über vier ansteigt.

Zur Berechnung der Fallpauschalen gehen alle Werte in den „grouper“ – ein Computerprogramm, mit dem auf der Grundlage der Einzeldaten der Ender- lös errechnet werden kann. Berücksich- tigt werden bei der Berechnung neben den Hauptdiagnosen die Nebendiagno- sen, die Prozeduren, bei Beatmungen die Beatmungsdauer, das Lebensalter des Patienten, die Liegedauer, bei Neu- geborenen das Neugeborenengewicht T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches ÄrzteblattJg. 99Heft 5013. Dezember 2002 AA3387

Fallpauschalen im Krankenhaus

Das Ende der

„Barmherzigkeit der Intransparenz“

Mit der Einführung der Diagnosis Related Groups wird der Vorrang der Ökonomie verstärkt.

Die noch bestehenden sozialen Komponenten des Krankenhauses werden künftig entfallen.

Herbert Neumann, Andreas Hellwig

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und die Art der Entlassung, das heißt

„verstorben“ oder „lebend“. Wenn ein Patient die Behandlung von sich aus ge- gen ärztlichen Rat abbricht, fällt er auto- matisch in die Kategorie C, das heißt, al- les, was an ihm geleistet wurde, geht nicht über das entsprechende niedrige Relativgewicht hinaus. Aus diesen Ein- zelfällen errechnet sich schließlich der so genannte Case-Mix-Index (CMI).

Dieser ist definiert durch die Summe al- ler Relativgewichte einer Abteilung be- ziehungsweise eines Krankenhauses in einem definierten Zeitraum, dividiert durch die Fallzahl. Der CMI bildet ab, ob ein Krankenhaus überwiegend leich- te oder schwere Fälle behandelt. Hier- bei wird der hohe technische Aufwand einer Behandlung, zum Beispiel in der Herzchirurgie, abgebildet, wohingegen Gynäkologen einen niedrigen CMI er- reichen.Aufgrund dieser Zahl errechnet sich dann das Budget, und zwar aus dem Case-Mix-Index, multipliziert mit der Fallzahl und mit dem Basisfallwert (base rate). Kompliziert wird es bei der Handhabung von Tagesfällen, von abtei- lungsübergreifenden

Fällen und – trotz al- ler scheinbaren Per- fektion des Systems – bei Fällen oder Lei- stungen, die nicht sachgerecht abgebil- det sind (2).

Folgerichtig müsste künftig bundesweit in

jedem Krankenhaus für entsprechende Leistungen das gleiche Honorar bezahlt werden. Groteske Differenzen, wie zum Beispiel im Jahr 1999, als die durch- schnittlichen Behandlungskosten in Ber- lin 8 641 DM pro Fall, in Mecklenburg- Vorpommern dagegen 5 095 DM betru- gen, werden verschwinden. Die durch- schnittlichen Kosten pro Behandlungs- fall lagen 1999 bundesweit bei 6 086 DM (3). Schrittweise Anpassungen werden in Aussicht gestellt, sind jedoch noch nicht zugesagt. Sicherstellungszuschläge – et- wa für Notfallversorgung oder die Auf- nahme von Begleitpersonen – können ab 2005 beantragt werden. Extrem teure Leistungen, wie zum Beispiel Transplan- tationen oder die Behandlung Schwer- brandverletzter, sind zurzeit im Options- system für 2003 nicht vorgesehen. Aller- dings ist beabsichtigt, auch solche Fälle

zukünftig im System abzubilden. Von den DRGs nicht erfasst werden die Fälle der psychiatrischen, psychoso- matischen und psychotherapeutischen Abteilungen.

Codierung und Dokumentation

Assistenzärzte einer jeden Abteilung werden demnächst wahrscheinlich viel Zeit am Computer verbringen, um alle Fälle adäquat abzubilden, sowohl was die Hauptdiagnose, die Komorbidität und den Komplikationslevel sowie die Prozeduren angeht. Sie müssen sich mit den allgemeinen und speziellen Codier- richtlinien für Syndrome, für die Ver- dachtsdiagnosen, die Kombinationska- tegorien oder mit den Feinheiten der Doppelt- und Mehrfachcodierungen auseinander setzen. In teuren Kursen müssen sie lernen, welche Prozeduren zu verschlüsseln sind. Denn nicht alles, was im Krankenhaus geschieht, kann ver- schlüsselt werden und in die Honorie- rung eingehen. Sie müssen wissen, wie mit Prozedurenkom- ponenten umzugehen ist und in welcher Rei- henfolge codiert wer- den muss. Sie müssen lernen, wie mit Reste- klassen – was man frü- her unter „nicht näher bezeichnet“ subsumiert hat – umgegangen wird.

Sie müssen die Kombinationscodes kennen, multiple oder bilaterale Pro- zeduren sowie Prozeduren, unterschie- den auf der Basis von Größe, Zeit oder Anzahl. Spezielle Richtlinien finden sich zum Beispiel für HIV-Er- krankungen, für Komplikationen im Zu- sammenhang mit Tumortherapien und für Patienten, die als Tagesfall oder in ei- nem mehrtägigen Aufenthalt behandelt werden. Ebenso gibt es Besonderheiten bei Bluttransfusionen, bei maschineller Beatmung oder in der Geburtshilfe. Da- mit ist das System nur grob umrissen.

Analysen des Codierverhaltens ha- ben gezeigt, dass Unterschiede im Erlös bis zu 20 Prozent je nach Qualität des Codierenden auftreten können: Der ver- schlüsselnde Arzt entscheidet über die Erlössituation des jeweiligen Kranken- hauses. Es zeichnet sich schon der Beruf

des Codierers und des Medizin-Control- lers ab, dessen Hauptaufgabe es sein wird, zu überwachen, ob die Leistungen adäquat abgebildet werden. So werden enorme Kräfte und sehr viel Zeit der As- sistenzärzte gebunden. Die Kranken- häuser leisten einen hohen Aufwand, die Ärzte zu schulen. All das muss kosten- neutral im Rahmen der Arbeitszeit ohne zusätzliche Vergütungen durchgeführt werden. Auch die Kosten der dazu not- wendigen Computer werden zurzeit von niemandem erstattet.

Mit dem DRG-System finden sich die Assistenzärzte im Jargon der Kaufleute wieder, die von „Stars“ sprechen, die ho- he Fallgewichte haben, wie etwa Lei- stungen im Bereich der Thorax- und Kardiochirurgie. Sie lernen die „cash cow“ kennen, wie zum Beispiel eine Tracheotomie mit komplizierten Beat- mungsproblemen, sie müssen sich aber auch damit abfinden, dass eine normale vaginale Geburt ohne komplizierende Diagnose ein „poor dog“ ist mit einem Fallgewicht von 0,54.

Die Umsetzung des Finanzierungs- systems läuft nach einem exakten Zeit- plan ab. Die Budgets bleiben zunächst.

Ab 2004 werden obligatorisch die Ko- sten über die DRGs abgerechnet, wo- bei zunächst ein klinikindividueller Ba- sisfallpreis zugrunde gelegt wird (4).

Dieser errechnet sich grob aus den Fall- kosten, dividiert durch den CMI, multi- pliziert mit der Fallzahl. 2005 wird ein Landesfallpreis bekannt gegeben, der dann in einer Konvergenzphase zur Vereinheitlichung der Budgets führt, wobei zu je einem Drittel entweder nach oben oder nach unten korrigiert werden wird. Dies führt zur Vereinheit- lichung der Krankenkosten bundes- weit. Die Bewertungen erfolgen auf der Grundlage der vom Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK) erarbeiteten Vorschläge. Zur- zeit bezahlen die Krankenhäuser für die Finanzierung dieses Instituts 50 Cent pro Fall. Die Bewertungen erfolgen durch das so genannte Mapping, das heißt die Übertragung der australi- schen Relativgewichte auf deutsche Verhältnisse. Die zurzeit gültige deut- sche DRG-Version ist mittlerweile im Internet abrufbereit. Es liegt ein Defi- nitionshandbuch vor, das fünf Bände mit je 350 bis 550 Seiten umfasst (5).

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A3388 Deutsches ÄrzteblattJg. 99Heft 5013. Dezember 2002

Deutschland ist weltweit das einzige Land, in dem DRGs fast alle klinischen Versorgungs-

bereiche umfassen und

abbilden sollen.

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Deutschland ist weltweit das einzige Land, in dem DRGs fast alle klinischen Versorgungsbereiche umfassen und ab- bilden sollen (6). In Australien wird das DRG-System weitaus weniger umfas- send eingesetzt. Den Ärzten dort ver- bleibt so ein größerer Handlungsspiel- raum. Als eine Schwäche der deutschen Fallpauschalen-Regelung wird schon jetzt deutlich, dass die Schmerztherapie nicht ausreichend berücksichtigt ist. Die Palliativbehandlung von Patienten ist extrem schlecht finanziert, sodass die Krankenhäuser sich überlegen müssen, ob sie überhaupt Palliativstationen ein- richten können. Nach den bisherigen Kalkulationen ist es fraglich,

ob die Honorierung sachge- recht sein wird. Es gibt also mit Sicherheit unterbezahlte, aber auch überbezahlte Lei- stungen.

Insbesondere im Bereich der Onkologie ist noch nicht klar, wie im Rahmen sta- tionärer Behandlungen teure Medikamente für die Tumor- therapie, wie zum Beispiel Zytostatika oder Antikörper, die Tageskosten von bis zu 3 000 Euro allein an Medika- menten ausmachen können, finanziert werden sollen. Zu

befürchten ist, dass Tumortherapien noch mehr, als bereits geschehen, in den ambulanten Sektor verlagert werden.

Bei schwer kranken, allein lebenden Pa- tienten, die die Chemotherapie schlecht tolerieren, kann diese Therapie nicht immer ambulant erbracht werden. In Australien ist für solche Fälle ein Pharmaceutical-Benefit-Schema vorge- sehen,das es in Deutschland nicht gibt (2).

Langwierig oder chronisch Kranke, die an der Schwelle zwischen noch kran- kenhauspflichtiger Behandlung und ei- ner Betreuung als Pflegefall stehen, wer- den die Verlierer des neuen Finanzie- rungssystems sein. Sicherlich werden geriatrische Patienten in Zukunft früher aus dem Krankenhaus entlassen, wobei Strukturen, die diese Patienten aufneh- men können, derzeit fehlen. Insgesamt muss eine einseitige Ausrichtung und Bevorzugung der apparativ-technischen Medizin festgestellt werden.

Ein weiteres Problem bei der DRG- Zuweisung resultiert aus der Vorschrift,

dass Patienten, die im Krankenhaus ster- ben, einen relativ niedrigen Komorbi- ditäts- und Komplikationslevel erhalten, egal wie groß die Aufwendungen waren, die man dem Patienten noch hat zukom- men lassen. Jeder Kliniker weiß, mit welch großem Aufwand mitunter auf In- tensivstationen der Kampf um das Le- ben von – zumeist multimorbiden – Pati- enten geführt wird. Lysetherapien, Beat- mungen, teure Antibiotika, Bluttransfu- sionen, Immunglobuline et cetera sum- mieren sich zu vielen Tausend Euro, die dem Krankenhaus dann nicht adäquat erstattet werden, wenn trotz aller Mühen ein Patient stirbt.

Weiter muss berücksichtigt werden, dass die individuellen Leistungen des Arztes, die persönliche Zuwendung, das Gespräch mit den Patienten, die zum Teil sehr aufwendigen Angehörigenge- spräche nur unzureichend in die Bewer- tung des Fallgewichts

eingehen. Auch Zeit- verluste, die durch mangelnde Compli- ance von Patienten verursacht werden,

können nicht in der Bewertung eines Falles abgebildet werden. Es wird immer wieder Fälle geben, die schwierige Pro- bleme für den Arzt aufwerfen.Veranlasst er eine längere Verweildauer des Pati- enten im Krankenhaus, sodass die Ko- sten den Fallerlös übersteigen, bekommt er möglicherweise Druck von der Ver- waltung. Er könnte versucht sein, den Patienten möglichst schnell zu entlassen.

Auch wenn der Begriff „blutige Entlas- sung“ übertrieben sein mag, ist der Handlungsspielraum, der bisher dem Arzt die Freiheit gegeben hat, auf indivi- duelle Nöte und Probleme der Patienten einzugehen, deutlich eingeengt.

Kontrolldichte wird zunehmen

Überwacht und kontrolliert wird dies alles vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) (7). Das Codie- rungsverfahren der Ärzte wird sorgfäl- tig überprüft, um zu verhindern, dass Leistungen unangemessen hoch ver- schlüsselt werden. In welcher Weise er bei Untercodierung, die zu einem Min- dererlös führen würde, eingreift, bleibt abzuwarten. Sobald ein Upcoding nach- gewiesen wird, muss der hierdurch er- zielte Betrag zu 100 Prozent rückerstat- tet werden. Wenn der Nachweis einer absichtlichen Falschcodierung erbracht wird, muss zusätzlich zu einem Regress eine Strafe in gleicher Höhe bezahlt werden. Für die Umsetzung der DRGs wird der Medizinische Dienst mit er- weiterten Kompetenzen ausgestattet.

Nicht nur die Kontrolle durch den MDK, sondern die Kontrolldichte insge- samt durch die Verwaltung wird gewaltig zunehmen. Es wird eine völlige Transpa- renz der Leistungen geben. Eine Folge wird sein, dass die ärztlichen Leistungen stärker standardisiert werden und in strikter Orientierung an medizinischen Leitlinien erbracht werden. Der Vorteil mag sein, dass die Abläufe stringenter werden, insbesondere werden Manage- ment und die internen Abläufe der Krankenhäuser stark verändert werden.

Der Nachteil könnte sein, dass die Ver- engung des Behandlungskorridors einen blinden Schematismus entstehen lässt, der für individuelle Behandlungserfor- dernisse keinen Raum mehr lässt. Zwei- fellos kommt das einer politisch gewoll- ten Bevormundung und Steuerung der Ärzte entgegen. Die unterschwellige und offene Kritik am angeblichen Neo- paternalismus findet hier ihren Aus- T H E M E N D E R Z E I T

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A3390 Deutsches ÄrzteblattJg. 99Heft 5013. Dezember 2002

Assistenzärzte einer jeden Abteilung werden viel Zeit am Computer verbringen, um alle Fälle adäquat abzubilden.

Langwierig oder chronisch Kranke

. . . werden die Verlierer des

neuen Finanzierungssystems sein.

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druck. Ein großes Problem wird die Aus- wahl der Leitlinien sein. Es existieren zurzeit allein in Deutschland schätzungs- weise 1 300 solcher Leitlinien, wobei der Einfluss der Pharmaindustrie auf die Formulierung von solchen Leitlinien nicht zu unterschätzen ist (8).

Das, was die Ökonomen als die

„Barmherzigkeit der Intransparenz“ be- zeichnen und womit sie ironisch auf die immer noch bestehende soziale Kompo- nente des Krankenhauses hinweisen, wird komplett entfallen.

„Schnäppchenmedizin“

Aufschlussreich ist in diesem Zusam- menhang eine Studie aus den USA, die an der University School of Medicine in Connecticut durchgeführt wurde. Darin wurden die Behandlungsdaten von Pa- tienten mit Pneumonie aus den Jahren 1992 und 1997 analysiert, vor und nach der Einführung von Fallpauschalen. Es zeigte sich in der Tat, dass die Ver- weildauer durchschnittlich mit dem neuen System um 35 Prozent zurück- ging. Die Krankenhauskosten pro Fall verringerten sich um 25 Prozent. Die Sterblichkeit im Krankenhaus ging um 15 Prozent zurück.

Bei Ausweitung der Untersuchung auf die ersten 30 Tage nach der Entlas- sung stellte man fest, dass hier die Sterblichkeit um 35 Prozent gestiegen war. Die Wiederaufnahmen wegen ei- nes Rückfalls nahmen um 23 Prozent zu und die Verlegung in eine Pflegeein- richtung um 42 Prozent (9). Diese Zah- len belegen für den Fall der Pneumonie eine eindeutige Verschlechterung der Behandlungsqualität. Alle Verantwort- lichen müssen sich über diese Gefahren im Klaren sein.

Eine Konsequenz der strukturellen und finanziellen Optimierung wird si- cher sein, dass hoch spezialisierte und gut rationalisierte Kliniken auf der Ba- sis der DRGs höhere Gewinne werden machen können als Krankenhäuser oh- ne Spezialisierung. Es besteht damit die Gefahr der „Schnäppchenmedizin“, die dazu führt, dass finanziell attraktive Pa- tienten bevorzugt und unattraktive Pa- tienten verschoben werden. Gerade die hoch spezialisierten Kliniken, die teure und aufwendige Leistungen anbieten,

sind schon Gegenstand von Überlegun- gen, die Krankenhäuser in Aktienge- sellschaften umzuwandeln. Nach An- sicht von Experten wird in zehn bis 15 Jahren die Hälfte aller Krankenhäuser in Form von Aktiengesellschaften ge- führt. Es wäre eine grundsätzliche De- batte wert, ob es zu verantworten ist, ein System, das immer noch der Daseins- vorsorge verpflichtet ist, der Gier von Shareholder-Value-Vertretern auszu- liefern.

In einem solidarisch finanzierten So- zialsystem gilt die Art des Umgangs mit leidenden Menschen immer noch als Kriterium für den Wert einer Gesell- schaft. Kurzfristige Strategien oder län- gerfristig angelegte qualitative Umge- staltungen können dazu führen, dass

dieses System Schaden nimmt. Es wird die entscheidende Prüfung sein, ob die Ökonomie mithilft, es zu erhalten, oder ob sie es zerstört. Dies wird in den näch- sten Jahren sicherlich Gegenstand ge- sellschaftlicher und politischer Debat- ten sein müssen.

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Deutsches ÄrzteblattJg. 99Heft 5013. Dezember 2002 AA3391

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2002; 99: A 3387–3391 [Heft 50]

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literatur- verzeichnis, das beim Verfasser erhältlich oder im Internet unter www.aerzteblatt.de/lit5002 abrufbar ist.

Anschrift der Verfasser:

Prof. Dr. med. Herbert Neumann Dr. med. Andreas Hellwig Klinik für Innere Medizin

St. Elisabeth-Hospital, Bleichstraße 15, 44787 Bochum

K

ürzlich stieß ich während meiner allwöchentlichen Literaturdurchsicht auf eine bemerkenswerte Kasuistik. Sie wissen doch, diese Fallberichte, die un- ser diagnostisches Auge schärfen sollen oder von therapeutischen Glanzta- ten berichten. Den Inhalt habe ich schon wieder vergessen, aber eine Zeile ist mir im Zwischenhirn haften geblieben: Es traten gleich acht Autoren an. Nun könnte man ein Schelm sein, der sich Böses dabei denkt: Als erster tritt derjenige mit den höchsten wissenschaftlichen Ambitionen auf, um seinen Katalog für die Habilita- tion zu füllen.An zweiter Stelle wird ein befreundeter Kollege genannt, der eben- solche Ziele verfolgt und mit dem ein einvernehmliches „Artikel-Sharing“ be- trieben wird – ein Netzwerk gegenseitiger Publikation. Im Kielwasser des Erstau- tors schwimmen noch mehrere Assistenten und Doktoranden, die ihre Nächte und Wochenenden darangeben, um in den Genuss einer wissenschaftlichen Pu- blikation zu kommen. Als Angelhaken wird ihnen die Beihilfe zum beruflichen Fortkommen versprochen. Der Haken dabei ist, dass es sich um mündliche Ver- abredungen handelt, die später der Vergesslichkeit des Erstautors anheim fallen.

An vorletzter Stelle steht dann derjenige, der für die zündende Idee am Kranken- bett verantwortlich zeichnet und in der Regel auch den Artikel geschrieben sowie die Literaturrecherche betrieben hat. Wenn er denn überhaupt genannt wird. An letzter Stelle wird der Institutsleiter genannt, wenn ihm nicht im Anhang zum 60- jährigen Betriebsjubiläum gratuliert wird.

Wir sind aber keine Schelme. Deshalb bitte ich Sie, jetzt die Augen zu schließen und sich fest, ganz fest Folgendes vorzustellen: Acht Kollegen stehen mit sorgen- voller Miene vor dem Krankenbett und fassen sich ringsherum an den Händen, um alle mentale Kraft auf die Abwendung des Patientenschick- sals zu bündeln. Im Steilflug dieser Séance wird die bahnbre- chende Diagnose geboren, die es unserem Oktett ermög- licht, gemeinsam Hand an die lebensrettende Infusion zu le- gen. Zaubergleich senkt sich das Fieber, normalisieren sich die Leukozyten. Und damit diese Erleuchtung der Nachwelt erhalten bleibt, greifen alle zu ihren Diktiergeräten . . .

Es ist immer wieder schön, wenn Kollegen sich zur ge- meinsamen Arbeit zusammenfinden. Komisch, aber keiner will mit mir etwas zu tun haben. Dr. med. Thomas Böhmeke

Kleine Titelkunde

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