DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
AKTUELLE POLITIK
Experimentierfeld Krankenhaus
Diagnosebezogene Fallpauschalen
kein Importschlager
D
ie Untersuchung,schlicht als „Vorstu- die zu diagnoseab- hängigen Fallpau- schalen" tituliert, ist inzwischen zu einem 440 Seiten star- ken „Wälzer" ausgewachsen (plus 70 Seiten Anhang). 1 ) Als eines der ganz wenigen krankenhauspoliti- schen Forschungsprojekte des Bun- desarbeitsministeriums hat es die in- zwischen als Band 143 in der BMA- Schriftenreihe „Forschungsbericht/
Gesundheitsforschung" erschienene
„Vorstudie" geschafft, in einem ganztägigen Experten-Symposium
„Alternative Entgeltformen im Kran- kenhaus", veranstaltet von der Fachabteilung „Gesundheit, Kran- kenversicherung" des Bundesar- beitsministeriums in Bonn, am 22.
Juni 1987 diskutiert zu werden.
So brisant der Untersuchungs- auftrag über die Diagnosis-Related- Groups (DRG) der USA auch ist, so ernüchternd kritisch bis negativ lau- tet das Urteil der Gutachter. Zumin- dest gibt es keinen Anlaß, das DRG- System aufgrund der in den Verei- nigten Staaten gesammelten Erfah- rungen in die Bundesrepublik zu im- portieren. Allerdings: Einen „Nach- ahmer" und Pionier eines diagnose- bezogenen Fallpauschalsystems gibt es bereits seit geraumer Zeit an der
„Waterkant" : Auf Initiative der (privaten) Augenklinik Dr. Uthoff, Kiel-Bellevue, ist am 1. September 1985 ein inzwischen vom Projekt be- gleitenden Institut als erfolgreich be- urteilter, vertraglich abgesicherter Modellversuch gestartet worden.
Die durchschnittliche Verweildauer der Patienten wurde von neun auf drei Tage verringert; ein erkleck- liches Einsparpotential konnte auch für die gesetzlichen Krankenkassen requiriert werden (wiewohl der „Pa- tientendurchsatz" in der Kieler Kli- nik gleichzeitig zunahm). Seit Be- ginn des Modellversuchs sind die diagnosebezogenen Festpreise um 19,9 Prozent gesenkt worden.
Der Bundesverband der Orts- krankenkassen (BdO) spekuliert ebenfalls mit einer zumindest mo- dellartigen Erprobung des Fallpau- schal- Abrechnungssystems , nicht zuletzt aufgrund erster Erkenntnisse und Anschauungen einer BdO-
Das Ringen um ein „richtiges"
„leistungsgerechtes" Entgelt- system bei der Berechnung von Krankenhausleistungen geht unvermindert weiter. Dies•
trotz der von der Bundesregie- rung als abgeschlossen erklär- ten neuen Krankenhausfinan- zierungsgesetzgebung. Unge- achtet dessen hat das Bundes- ministerium für Arbeit und So- zialordnung ein brisantes Gut- achten in Auftrag gegeben, das jetzt vorliegt. Reform- euphoristen glauben wieder einmal, eine „Importanleihe"
aus den USA aufnehmen zu sollen. Die Sachverständigen sind allerdings skeptisch, ob ein Fallpauschalsystem hierzu- lande praktikabel wäre .. .
Gruppe, die vor eineinhalb Jahren studienhalber quer durch die USA gereist ist (vgl. Eckhardt Westphal, Diagnoseabhängige Fallpauschale, in: DEUTSCHES ÄRZTEBLATT, Heft 37/1985, Seite 2616). Der Ge- schäftsführer des Landesverbandes der Ortskrankenkassen in Bayern, Hans Sitzmann, hat sich ungeachtet der entmutigenden Gutachterergeb- nisse dafür ausgesprochen, zumin- dest die Konsistenz und Praktikabili-
1) „Modellversuche zu alternativen Pflege- satzformen in Krankenhäusern. Vorstudie zu diagnoseabhängigen Fallpauschalen", Projekt- gemeinschaft Ernst & Whinney GmbH, Frank- furt, und Gemeinnützige Gesellschaft für ange- wandte wissenschaftliche Forschungen GaW mbH, Herdecke, Bonn, April 1986
tät des DRG-Systems als alternati- ves Abrechnungsmodell zu diskutie- ren und zu erproben. Auch der Ber- liner Sozialsenator Ulf Fink (CDU) verficht diese Linie.
Die Verfasser des Gutachtens zu Diagnosefallpauschalen kommen zu folgenden Schlußfolgerungen:
Der „zentrale Schwachpunkt"
des diagnosebezogenen Fallpau- schalsystems (DRG-System) ist of- fenbar die mangelhafte Berücksich- tigung des Krankheitsschweregra- des. Die Gutachter meinen, dadurch könnten schwerwiegende Fehl- schlüsse sowohl im Rahmen kran- kenhausinterner als auch kranken- hausexterner Steuerungen gezogen werden. Inzwischen ist das USA- DRG-System zum Teil durch die Anwendung anderer Klassifikations- systeme krankenhausintern erwei- tert worden, ohne allerdings die Grundmängel völlig abzustellen.
Die Gutachter vermelden, daß das DRG-System wegen der unter- schiedlichen Startvoraussetzungen und der völlig voneinander abwei- chenden Sozialleistungssysteme au- ßerhalb der USA noch nicht routine- mäßig eingesetzt worden sei.
Ein Mangel ist auch, daß die
„behandlungsleitende Einweisungs- diagnose" entgegen zwingender me- dizinischer Erfordernisse nicht hin- reichend berücksichtigt werde. Dar- über hinaus wird ein überwiegend organbezogener Krankheitsbegriff zugrunde gelegt, was ebenfalls als konzeptionell verfehlt bezeichnet wird.
Ferner: Es besteht auch die Ge- fahr einer Fehlleitung medizinischen Handelns auf „schein-objektivieren- de" Diagnosesicherung und einer zunehmenden Außerachtlassung des Gesamtbehandlungszieles.
Dt. Ärztebi. 84, Heft 28/29, 11. Juli 1987 (19) A-1951
Nur schwer belegbar sind offen- bar die behaupteten Effekte, wie et- wa eine mit dem DRG-System ein- hergehende Qualitätsminderung, ei- ne zu frühe Entlassung aus der sta- tionären Versorgung, die Aufteilung einer Leistung auf mehrere Kran- kenhausaufenthalte (häufigere Wie- dereinweisungen ein und desselben Behandlungsfalles), eine zunehmen- de Normierung der Behandlung, ei- ne zu späte oder nur marginale An- wendung des medizinischen Fort- schritts sowie unkoutrollierte Lei- stungsverlagerungen.
Belegbar sind nach Angaben der Gutachter Dr. Peter J. Kracht (Firma Ernst & Whinney) und Ver- waltungsdirektor Peter Meister (Kli- nikum Herdecke) allerdings die in den USA gesammelten Erfahrun- gen, wonach die internen Anreizwir- kungen weitgehend festgestellt wer- den konnten. Als positive Wirkun- gen werden hervorgehoben: medizi- nisch nicht abträgliche Verweildau- erverkürzungen, frühzeitige Entlas- sungsplanung, Reduzierung der Funktionsdiagnostik, verstärkte Einbeziehung der Ärzte in das Kran- kenhausmanagement und deren Haftungsinteresse, Weitergabe des
"Kostendrucks" an die behandeln-
den und mithaftenden Ärzte, ge- wünschte Leistungsverlagerungen vom ambulanten Bereich auf Nach- sorgeeinrichtungen.
Als unerwünscht werden Ten- denzen apostrophiert, die dazu ver- leiten, nur die "ertragreichsten"
Diagnosegruppen herauszupicken (in New Jersey gibt es 463 Diagno- segruppen). Dies könnte bewirken, daß die Ärzte systematisch zu einem selektiven Behandlungsverfahren übergehen. Dadurch könne die Be- handlungsfreiheit und berufliche Unabhängigkeit in dem Maße tan- giert werden, wie das Fallpausehai- system medizinische Erfordernisse überlagert und sich so hypostasiert (so der Einwand von Dr. med. Klaus Fischer, Ga W Herdecke).
Barriere: Das
Sozialleistungs-System Die Gutachter beurteilen daher die Möglichkeiten, das DRG-Sy- stem ohne Abstriche auf die Bun- desrepublik Deutschland zu übertra- gen, skeptisch. Als wesentliche Bar- riere stellen sich die grundlegend verschiedenen Gesundheitsversor- gungs- und Sicherungssysteme in Anzahl der Krankenhäuser und der planmäßigen Betten
Die Zahl der Krankenhäuser in der Bundesrepublik Deutschland hat sich seit 1960 um 14 Prozent verringert. Bei den planmäßigen Betten war die Entwicklung bis 1975 gegenläu- fig, der Anstieg betrug 146 000 ( + 25 Prozent). Danach erfolgte eine permanente Verrin- gerung um insgesamt 55 000 und liegt nunmehr unter dem Stand von 1969 (678 000). Die Betriebsgröße der Krankenhäuser hat sich allerdings vergrößert 1960 waren im Durch- schnitt noch 162 Betten je Krankenhaus, 1985 Jedoch 218 zu verzeichnen
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den Weg. Schwerwiegende Beden- ken erhebt das Gutachten gegen das Konzept einer bundeseinheitlichen, fallgruppenbezogenen "Gebühren- ordnung'' mit fallzahlenunabhängi- gen Festpreisen. Falls das DRG-Sy- stem als Grundlage für Vergütungs- regelungen außerhalb des Leistungs- systems "Medicare" (soziale Kran- kenversicherung für 31 Millionen Rentner) angewandt werde, hätten sich ohnedies Modifikationen als notwendig herausgestellt.
Aus der Sicht der US-Ärzte wird jede Form einer fallgruppenbe- zogenen Vergütung als , ,äußerst problematisch" bezeichnet. Die Ärzte sehen im Einzelfall ihre Be- handlungsfreiheit eingeengt. Als zweckmäßig bezeichnen die Gutach- ter die Notwendigkeit, die Fallstruk- tur im Rahmen der flexiblen Budge- tierung zu berücksichtigen.
...,.. Falls das Konzept fallbezo- gener Vergütungssysteme hierzulan- de politisch weiter verfolgt werde, schlagen die Gutachter umfassende Basisuntersuchungen im Rahmen ei- nes befristeten Modellversuchs vor.
Notwendig seien mindestens drei bis vier Jahre "Vorlauf". Für diese Un- tersuchung seien weder die Festle- gung auf eine (überwiegend) diagno- sebezogene Gruppenbildung noch auf eine starre Fallpauschale am Vergütungssystem ratsam.
Nach Meinung der Gutachter müsse versucht werden
...,.. durch systematische Doku- mentation sinnvoller Fallmerkmale, unter Einbeziehung insbesondere der Aspekte Schweregrad, Pflegein- tensität, Aufnahmegrad und Be- handlungsziel, Voraussetzungen für die Entwicklung gegenüber dem DRG-System deutlich verbesserter deutscher Fallgruppen zu schaffen;
...,.. die krankenhausindividuel- len Kostenstrukturen durch die Ver- knüpfung eines fallgruppenbezoge- nen Vergütungssystems mit dem Prinzip flexibler Budgetierung zu berücksichtigen.
Dabei sollte derzeit weder eine methodologische oder auch nur eine terminologische Fixierung der Fan- gruppenbildung auf "diagnoseab- hängig'' noch etwa eine Festlegung auf starre Fallpauschalen erfolgen.
Dr. Harald Clade