A 2590 Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 109|
Heft 51–52|
24. Dezember 2012 warten und chronifizieren zu lassen.Gerade diese ersten fünf Sitzungen sind für die Diagnostik, die Krisen- intervention, die Weichenstellung der Therapieplanung und für den ers- ten Anfangserfolg, der entscheidend notwendig ist für eine dauerhafte mo- tivierte Mitarbeit des Patienten, be- sonders wichtig. Für diese „probato- rischen“ Therapiestunden nach Zif- fer 35150 muss es künftig deutlich mehr Punkte und Geld geben, als für die folgenden 25 nach Ziffer 35200 oder 35220 sowie die bis zu 80 nach 35201 oder 35221 . . . Die relativ schlechtere Honorierung der jeweils ersten fünf Sitzungen und der Ziffern des Kapitels 22 im Vergleich zu der
„Antragspsychotherapie“ wirkt als ökonomischer Anreiz, dass Thera- peuten Therapien in die Länge zie- hen, und muss umgekehrt werden . . .
Dr. med. Ralf Cüppers, Arzt für Psychotherapeuti- sche Medizin, 24943 Flensburg
Ein Zerrbild
Am bedenklichsten sind Halbwahr- heiten. Tilmann Moser hat seine Meinung kundgetan, um etwas zu retten, wobei man sich fragen kann, was er da eigentlich retten will. Will er die psychotherapeutische Behand- lung vor den alles durchdringenden Marktgesetzen bewahren oder die Gestaltungsfreiheit in den Psycho- therapien? – Das wäre durchaus eh- renwert. Beim näheren Hinsehen kommen dem Leser Zweifel. Zu- nächst gibt Moser einen eigenwilli- gen Pauschalüberblick über die Ent- wicklung der Psychotherapie und setzt sich von steinzeitlichen Psy- choanalytikern wie Léon Wurmser ab. Er tut dies allerdings nur, um ein Zerrbild von der Verhaltenstherapie zu entwerfen, indem er in üblicher Arroganz deren Symptomorientie- rung und ihre Anbiederung an die Marktgesetze geißelt. In der Verhal- tenstherapie mit ihren „oft jugendli- cheren Adepten“ macht er ein Übel aus, das zweite in den tiefenpsycho- logischen Fokaltherapien. Kein ein- ziges abwägendes Wort bei ihm. Er spricht nicht über die wichtige Frage von Transparenz in Therapien. Kein Wort zu den inzwischen klar positi- ven Ergebnissen, die wir, insbeson - dere im Bereich der Psychotrauma-
tologie und bei Angststörungen, für eine Reihe von störungsspezifischen Methodiken haben.
Er vermeidet die Orientierung an der Wirklichkeit, wenn er Therapien von mehr als 100 Stunden für häufig er- forderlich hält. Man muss nur im gleichen DÄ acht Seiten zurückblät- tern, um zu erfahren, wie prekär in vielen ambulanten Bereichen die psychotherapeutische Versorgung ist, auch wenn inzwischen circa 4,6 Pro- zent (2009) der vertragsärztlichen Gesamtvergütung für Psychotherapie aufgewendet werden. Ich meine kei- nesfalls, dass dies zu viel wäre, aber man sollte doch ehrlich mit den Zah- len umgehen. Wahrscheinlich haben eine fehlende Zielorientierung, Fo- kalisierung und Störungsspezifität, und damit auch zeitliche Begren- zung, den Ausschluss gerade der schwer beeinträchtigten Patient - (inn)en von der Therapie zur Folge.
Psychotherapie ist auch ethisch ver- pflichtet, allen, die von ihr gut profi- tieren können, zugänglich zu sein – Menschen, die in unterschiedlichsten sozialen Zwängen leben. Es gibt Hinweise, dass Intervalltherapien, Kombinationen von Einzel- und Gruppentherapien gute Erfolge haben und die manchmal erheblich nachtei- ligen Folgen der chronischen Abhän- gigkeit von Therapeuten mindern.
Pathetisch wie ein Reformator hat Herr Moser einen Artikel mit dem Ressentiment aus der engen Welt ei- nes Psychoanalytikers verfasst. Ana- lytische Psychotherapie hat sicher- lich eine bleibende Daseinsberechti- gung, gerade bei Menschen mit tief- greifenden Persönlichkeitsproblema- tiken. In der therapeutischen Alltags- wirklichkeit kommen Patienten mit zum Beispiel ausgeprägten impulsi- ven oder obsessiven Problematiken und Bindungsstörungen über die psychiatrische Basisbehandlung nicht hinaus.
Der Wert der therapeutischen Bezie- hung steht außer Frage. Die Reflexi- on der Gegenübertragung gestattet uns, flexibel auch direktive Methodi- ken und Techniken so einzusetzen, dass die therapeutische Allianz ge- stärkt und Therapien erfolgreicher werden. Umso deutlicher können sich Therapeut(inn)en dann gegen einen unmenschlichen Zeitdruck und
sinnwidrige ökonomische Diktate wehren.
Dr. med. Helmut Rießbeck, Ärztlicher Psychothera- peut, 91126 Schwabach
Therapiequalität ist bedroht
Den Gedanken von Tilmann Moser stimme ich uneingeschränkt zu.
Der von ihm definierte Beschleuni- gungswahn in der Psychotherapie treibt immer tollere Blüten. Jetzt ist sogar vorgesehen, die ersten zehn Behandlungsstunden überdurch- schnittlich zu honorieren, jedoch bei zunehmender Stundenzahl den Punktwert schrittweise zu senken (zum Beispiel Medi-AG Baden- Württemberg).
Kein Zweifel: Kurzzeittherapie wird lukrativer – und sie wird natürlich zunehmen.
Warum? Weil immer mehr Bagatell- fälle in den Genuss teurer Kurzzeit- therapien kommen; Fälle, die eher in die Sprechstunde des Hausarztes (Balint!) oder in die Beratungsstellen gehören als in die Sprechstunde des Psychotherapeuten (Partnerproble- me, Mobbing, Arbeitslosigkeit, Er- ziehungsprobleme etc.). Wer wird sich denn da noch die Mühe machen, eine echte zwischenmenschliche Be- ziehung zu schwerer Gestörten auf- zubauen (was ja nur im Rahmen ei- ner längerfristigen, unter Umständen jahrelangen therapeutischen Bezie- hung Nachreifungs- und Heilungs- chancen bieten kann)? Solche Pa- tienten – es sind derer viele – passen nicht mehr in diese „Fast-Food-The- rapielandschaft“. Sie werden allen- falls antherapiert und bleiben dann als Therapieruinen in unserer Dis - ease-Management-Medizinland- schaft stehen.
Zugegeben: Die Verwaltung der Pa- tienten wird immer besser. Griffige ICD-10-Diagnosen, diverse Manu - ale, Management allerorten, alles vermittelt den Eindruck von Trans- parenz, Kostenersparnis und Effi- zienz, evidenzbasiert und was es sonst noch alles gibt. Nur die Thera- piequalität bleibt auf der Strecke, weil das Wichtigste scheinbar nicht mehr zählt: die Qualität der Arzt- Patienten-Beziehung . . .
Dr. med. Gustav Adolf Kohle, 71139 Ehningen