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Archiv "Klinik und Therapie der Multisystematrophie" (14.02.2003)

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A408 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 714. Februar 2003

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ie vielfältige klinische Symptoma- tik und die Unkenntnis der Patho- genese sind die Ursache der ver- wirrenden deskriptiven Bezeichnun- gen, Akronyme und Eigennamen, die in der Vergangenheit für die Multisystem- atrophie (MSA) gebraucht wurden. In der Literatur des 20. Jahrhunderts fin- det man eine Vielzahl von Beschreibun- gen von Patienten mit einer Kombinati-

on von neurologischen Symptomen und autonomem Versagen in unterschiedli- cher Ausprägung und mit variablen pa- thomorphologischen Veränderungen.

So prägten Déjérine und Thomas be- reits 1900 den Begriff der „L’Atrophie Olivo-Ponto-Cérébelleuse“ (OPCA), Shy und Drager beschrieben 1960 zwei Patienten mit einer Kombination aus Impotenz, ausgeprägter orthostatischer Hypotension und Parkinson- syndrom (Shy-Drager-Syn- drom, SDS), und Syndrome mit Akinese, Tremor, erektiler Dysfunktion und Inkontinenz wurden nach anatomisch pa- thologischen Gesichtspunk- ten als striatonigrale Degene- ration (SND) bezeichnet (14).

Schließlich stellten Oppenhei- mer und Graham 1969 die Hypothese auf, dass OPCA, SND und SDS unterschiedli- che Ausprägungen des Spek- trums einer einzigen Er- krankung sein könnten und führten den Begriff MSA ein, der allerdings noch nicht durch genaue Diagnosekrite- rien oder spezifische patholo- gische Veränderungen defi- niert war und deshalb selten verwendet wurde (7).

Die Beschreibung der MSA als neuropathologische Entität wurde erst 1989 durch Arbeiten von Papp, Kahn und Lantos möglich, die bei elf Fällen mit OPCA, SND und SDS argyrophile gliale zytoplasmatische Ein- schlusskörper (Glial Cytoplas- mic Iinclusions, GCI) in Oli- godendrozyten und später auch in Nervenzellen beob- achteten (10). Diese GCI ha- ben sich als spezifisch erwie- sen und erlauben die definiti- ve neuropathologische Dia- gnose einer MSA. Welche Mechanismen zur Bildung

Klinik und Therapie der Multisystematrophie

Zusammenfassung

Die Multisystematrophie (MSA) ist eine spora- disch auftretende neurodegenerative Erkran- kung des mittleren Erwachsenenalters, die kli- nisch durch die Kombination von autonomen Störungen mit Parkinsonsymptomatik oder ze- rebellärer Ataxie gekennzeichnet ist. Die älte- ren Begriffe Shy-Drager-Syndrom, sporadische olivo-ponto-zerebelläre Atrophie (OPCA) und striatonigrale Degeneration (SND) bezeichnen unterschiedliche Ausprägungen des klinisch- neuropathologischen Spektrums der MSA, de- ren spezifisches Merkmal der Nachweis von α- Synuklein-positiven Ablagerungen in Oligo- dendrozyten ist. Die Ätiologie der MSA ist un- bekannt, und die verschiedenen Symptome mit hypotonen Blutdruckregulationsstörungen, Schlafstörungen, Störungen der Blasenentlee- rung und Bewegungsstörungen stellen Neuro- logen, Internisten, Urologen und HNO-Ärzte vor eine interdisziplinäre diagnostische und therapeutische Herausforderung.

Schlüsselwörter: Multisystematrophie (MSA), Parkinsonsymptomatik, zerebelläre Ataxie, au- tonome Störungen

Summary

Multiple System Atrophy

Multiple system atrophy (MSA) is a sporadic neurodegenerative disorder of unknown etiol- ogy, characterized clinically by poorly L-dopa responsive parkinsonism and/or cerebellar dysfunction in combination with autonomic failure. MSA summarizes the formerly used terms striatonigral degeneration (SND), Shy- Drager syndrome (SDS) and sporadic adult- onset olivopontocerebellar atrophy (OPCA) which described variants of the clinicopatholog- ical spectrum of MSA. MSA is characterized by α-synuclein positive intracytoplasmic inclu- sions in oligodendroglia and neurons but the etiology is unknown and only symptomatic therapies are available. The various symptoms of orthostatic hypotension, sleep disturb- ances, urinary dysfunction and movement dis- orders represent diagnostic and therapeutic challenges to the physician.

Key words: multiple system atrophy (MSA), par- kinsonism, cerebellar ataxia, autonomic failure

Ullrich Wüllner Thomas Klockgether

Abbildung 1:α-Synuklein-positive gliale zytoplasmati- sche Einschlusskörper (glial cytoplasmic inclusions, GCI) in Oligodendrozyten des Kleinhirns

Grafik 1

Kaplan-Meier-Kurve des Erkrankungsverlaufs, darge- stellt ist die Latenz bis zur Rollstuhlpflichtigkeit von Pa- tienten mit MSA-C und Patienten mit sporadischer, uner- klärter Ataxie (1).

Klinik für Neurologie (Direktor: Prof. Dr. med.Thomas Klockgether), Uni- versitätsklinikum Bonn

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dieser Ablagerungen führen und wel- che Bedeutung sie für den Verlust von Nerven- und Gliazellen haben, ist un- bekannt. Die GCI selbst bestehen aus aggregierten fibrillären Strukturen von 10 bis 15 nm Durchmesser, die den Mikrotubuli ähneln und die unter an- derem α-Synuklein, α-B-Crystallin und Tau enthalten (Abbildung 1). Mu- tationen im α-Synuklein-Gen oder in anderen Kandidatengenen konnten bei MSA-Patienten bislang nicht nachgewiesen werden. Mit den verbes- serten neuropathologischen Diagno- semöglichkeiten zeigte sich bei Unter- suchungen in verschiedenen Hirn- banken eine MSA bei etwa 5 bis 22 Prozent aller autopsierten Parkinson- patienten. Epidemiologische Untersu- chungen sind nach wie vor schwierig, da die klinische Diagnose keine defi- nitive Aussage erlaubt. Die altersange- passte Prävalenz der MSA wird auf 4,4 (2 bis 15) auf 100 000 Einwohner, die Inzidenz auf ~0,6 pro 100 000 Einwoh- ner und Jahr geschätzt (16). Eine fami- liäre Häufung ist bisher nicht berichtet worden, und bislang konnten keine eindeutigen exogenen Risikofaktoren identifiziert werden (18).

Klinisches Bild und Verlauf

Der mittlere Erkrankungsbeginn der MSA liegt in der sechsten Lebensde- kade; Männer und Frauen erkranken gleich häufig (w/m: 1,0 zu 1,3) (1, 19, 20). Zu Beginn der Erkrankung weist die Mehrzahl der Patienten eine Par- kinsonsymptomatik (46 Prozent) oder autonome Störungen (41 Prozent) auf, zerebelläre Störungen finden sich in- itial bei etwa 5 bis 10 Prozent. Die auto- nomen Störungen, insbesondere Erek- tionsstörungen, aber auch eine Zu- nahme der Miktionsfrequenz, Drang- inkontinenz und Restharnbildung können Jahre vor den Bewegungs- störungen auftreten. Nach Auftreten der neurologischen Symptomatik ist die Progression der MSA rasch: Die mediane Überlebenszeit nach Diagno- sestellung beträgt neun Jahre (Grafik 1). In dieser Zeit entwickeln fast alle Patienten ein Mischbild mit autono- men Störungen, Parkinsonsymptoma- tik, zerebellärer Ataxie und Zeichen

einer Pyramidenbahnschädigung in unterschiedlicher Kombination und Ausprägung. Autonome Störungen treten schließlich bei allen Patienten auf, 50 bis 70 Prozent leiden unter Urininkontinenz, etwa ebensoviele unter Schwindel und Benommenheit.

Die Mehrzahl der MSA-Patienten zeigt in den späten Krankheitsstadien Zeichen eines Parkinsonsyndroms mit Bradykinese, Rigor, Hypophonie und Dysphagie (90 Prozent). Gerade die Sprech- und Schluckstörung ist oft- mals besonders ausgeprägt und nicht pharmakologisch therapierbar. Typi-

sche zerebelläre Zeichen (Gang- und Extremitätenataxie, Blickrichtungs- nystagmus und Dysarthrie) finden sich bei 20 bis 50 Prozent, ein positives Ba- binskizeichen oder Reflexsteigerun- gen bei etwa 60 Prozent der MSA-Pa- tienten. Kognitive Beeinträchtigungen sind selten. Die häufigste Todesursa- che sind Bronchopneumonien infolge der ausgeprägten Hypokinese und der Immobilisierung.

Diagnose

Die definitive Diagnose einer MSA kann zurzeit nur neuropathologisch gestellt werden. Die derzeit gültigen, leider recht komplexen klinischen Dia- gnosekriterien unterscheiden zwi- schen möglicher, wahrscheinlicher und definitiver, neuropathologisch gesi- cherter MSA (6). Demnach ist eine MSA wahrscheinlich, wenn zusätzlich zu schwerer orthostatischer Hypotonie (RR-Abfall um mindestens 30 mm Hg systolisch beziehungsweise mindestens 15 mm Hg diastolisch) oder dauerhafter Urininkontinenz ein schlecht auf die Behandlung anspre- chendes Parkinsonsyndrom oder eine zerebelläre Dys- funktion vorliegt. Ein Er- krankungsbeginn vor dem 30.

Lebensjahr oder eine positive Familienanamnese schließen eine MSA aus. Entscheidend für die Diagnose ist eine sorg- fältige Anamnese und klini- sche Untersuchung wohin- gegen die apparative Zusatz- diagnostik in erster Linie dem Ausschluss anderer Er- krankungen dient.

Differenzialdiagnose

Differenzialdiagnostisch muss die MSA von Erkrankungen mit orthostatischer Dysregu- lation, der idiopathischen Par- kinsonschen Krankheit (IPK), anderen atypischen Parkin- sonsyndromen sowie den spo- radischen Ataxien des Er- wachsenenalters abgegrenzt werden.

Orthostatische Dysregulation

Eine orthostatische Dysregulation wird durch einen Schellong-Test mit Abfall des systolischen RR um minde- stens 20 beziehungsweise des diastoli- schen RR um 10 mm Hg innerhalb von drei Minuten nach dem Aufstehen ge- sichert. Dieser Blutdruckabfall ist häufig von einem inadäquaten Anstieg der Herzfrequenz um weniger als 10 Grafik 2

Die bekannte Darstellung eines fortgeschrittenen Krank- heitsstadiums bei M. Parkinson von Frank Netter illu- striert mit großer Wahrscheinlichkeit einen MSA-Patien- ten mit typischem Antecollis (Anteflexion des Kopfes).

Rollstuhlpflichtigkeit innerhalb von fünf Jahren nach Diagnosestellung schließt eine IPK praktisch aus. Mit freundlicher Genehmigung: Icon Learning Systems, LLC, a subsidiary of MediMedia, USA, Inc 2002.

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Schläge pro Minute begleitet. Eine Vielzahl von Erkrankungen, insbeson- dere kardiale und endokrinologische Störungen sowie unerwünschte medi- kamentöse Nebenwirkungen können eine sekundäre orthostatische Hypo- tonie auslösen (3, 8). Primäre autono- me Störungen mit orthostatischer Dysregulation sind reflektorische Syn- kopen, das lageabhängige orthostati- sche Tachykardiesyndrom (Postural Orthostatic Tachycardia Syndrome, POTS), die akute Pandysautonomie, die reine autome Dysfunktion (Pure Autonomic Failure, PAF) und die MSA. Die reflektorische (vasovagale oder neurokardiale) Synkope und das lageabhängige orthostatische Tachy- kardiesyndrom sind durch das völlige Fehlen weiterer Symptome im (synko- penfreien) Intervall charakterisiert.

Die seltene akute Pandysautonomie ist durch die akute Entwicklung schwerster autonomer Störungen über Wochen wahrscheinlich im Rahmen einer immunvermittelten Neuropathie gekennzeichnet. Neben der MSA geht nur die reine autonome Dysfunktion mit chronischer orthostatischer Hypo- tonie und Störungen der autonomen Kontrolle einher (11). Dem PAF liegt im Gegensatz zur MSA, bei der in er- ster Linie die präganglionären Neuro- ne des Rückenmarkes betroffen sind, eine Degeneration peripherer post- ganglionärer Neurone zugrunde, ein Unterschied, der in der bildgebenden Diagnostik mittels MIBG-SPECT zur Differenzierung eingesetzt werden kann (2).

Idiopathische Parkinsonsche Krankheit und atypische Parkinsonsyndrome

Parkinsonsyndrome beziehungsweise -symptome können im Rahmen ande- rer neurodegenerativer Erkrankun- gen und als Medikamentennebenwir- kung auftreten. Auch die atypischen Parkinsonsyndrome sind durch die in unterschiedlicher Gewichtung vor- kommenden Symptome Akinese, Ri- gor, Ruhetremor und posturale Insta- bilität gekennzeichnet. MSA-Patien- ten unterscheiden sich jedoch in man- cherlei Hinsicht von der IPK. So sind die Beschwerden bei Erkrankungsbe- ginn häufig symmetrisch ausgeprägt,

Tremor ist seltener vorhanden, bei vie- len Patienten irregulär und erinnert an Myoklonien. Viele MSA-Patienten entwickeln eine ausgeprägte Hypo- phonie. Orthostaseprobleme können zwar auch im Verlauf der IPK auftre- ten, zählen aber nicht zu den Frühzei- chen und scheinen ganz überwiegend auf einer postganglionären Störung im autonomen Nervensystem zu beru- hen.

Im Vergleich zur IPK ist der Krank- heitsverlauf der MSA ungleich drama- tischer. Eine rasche Verschlechterung oder gar Einbuße der Gehfähigkeit in-

nerhalb von weniger als fünf Jahren schließt eine IPK praktisch aus (Gra- fik 2). Im Gegensatz zur IPK kann höchstens ein Drittel der MSA-Pati- enten befriedigend mit L-Dopa be- handelt werden. Daher sollte das Nichtansprechen auf L-Dopa und eine früh im Krankheitsverlauf auftretende orthostatische Hypotonie immer An- lass zur kritischen Überprüfung der Diagnose einer IPK sein. Während die autonomen Störungen kennzeichnend für die MSA sind, sprechen Stürze und kognitiver Abbau für eine progressive supranukleäre Blickparese (PSP, Steele- Richardson-Olszewski-Syndrom).

Diese Diagnose ist wahrscheinlich, wenn zusätzlich eine Verlangsamung der Sakkaden und eine vertikale Blickparese nach unten vorliegt. Bei der Abgrenzung der MSA von der PSP

ist die Beachtung eine Reihe von Warnzeichen hilfreich (Tabelle), und vier einfache Regeln können die Dif- ferenzialdiagnose der atypischen Par- kinsonsyndrome erleichtern (4, 12, 17):

>Besteht ein Ruhetremor, ist eine IPK wahrscheinlich.

>Eine Fallneigung nach hinten kann in Verbindung mit anderen Zei- chen auf eine progressive supranu- kleäre Blickparese hindeuten.

>Eine Erektionsstörung kann im Zusammenhang mit anderen Zeichen auf eine MSA hinweisen.

>Wenn sich die Symptome nach Einnahme von L-Dopa verbessern und Warnsymptome fehlen, ist eine IPK sehr wahrscheinlich.

Sporadische Ataxien des Erwachsenenalters

Da bei einer MSA die Zeichen einer Kleinhirnfunktionsstörung mit Ataxie und Dysarthrie im Vordergrund ste- hen können, ist auch die Abgrenzung von den sporadischen Ataxien des Er- wachsenenalters nötig.

Es sind in erster Linie die autonomen Störungen, die auf die Multisystem- atrophie hinweisen. Tatsächlich kann klinisch oft erst der Krankheitsverlauf mit der Entwicklung dieser zusätzlichen Symptome diagnostische Klarheit brin- gen.

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A412 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 714. Februar 2003

´ TabelleCC´

Unterscheidung von MSA und PSP

Symptomatik PSA MSA

Frühzeitige posturale Instabilität, Stürze X

Störungen der Okulomotorik X

Keine oder nur vorübergehende Besserung X X

durch dopaminerge Therapie

Rasche Progredienz X X

Irregulärer, grobschlägiger Tremor X

Ausgeprägte Dysarthrie X

Respiratorischer Stridor X

Antecollis X

Zerebelläre Störungen X

Autonome Störungen X

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Von den Patienten, die zunächst an einer rein zerebellären, sporadischen Ataxie erkranken, entwickeln etwa 30 Prozent innerhalb von vier Jahren eine MSA (1).

Bildgebende Diagnostik

MRT und PET beziehungsweise SPECT können die Diagnose einer MSA stützen und von der IPK abgren- zen. Das Schädel-MRT besitzt in spä- teren Stadien eindeutige diagnosti- sche Wertigkeit. Dabei findet sich ein pathologisches Signalverhalten in den T2-gewichteten Sequenzen in den dor- solateralen Anteilen des Putamens und im mittleren Kleinhirnstiel (Ab- bildung 2). Diese charakteristischen Befunde erlauben in fortgeschrittenen Krankheitsstadien in 80 Prozent eine eindeutige Diagnose (15). Durch ge- eignete PET-Untersuchungen mit Darstellung der prä- und postsynapti- schen Anteile des nigrostriatalen Sy- stems kann die Diagnose bestätigt werden (5) (Abbildung 3). Zur Unter- scheidung von PAF und IPK steht das

123I-Metajodbenzylguanidin- (MIBG-) SPECT des Thorax zur Verfügung.

Dieses Harnstoffderivat wird von den noradrenergen postganglionären Neuronen des sympatischen Nerven- systems aufgenommen. Da den auto- nomen Störungen bei der MSA eine Degeneration der zentralen prägang- lionären Anteile des autonomen Ner- vensystems zugrunde liegt, ist die 123I- MIBG-Aufnahme des Herzens unver- ändert. Im Gegensatz hierzu führen die postganglionären Schäden bei PAF und IPK zu einer reduzierten 123I- MIBG-Aufnahme des Herzens wohin- gegen die unspezifische 123I-MIBG- Aufnahme von Lunge und Leber un- verändert bleibt (Abbildung 4).

Therapie

Parkinsonsymptomatik

Die Parkinsonsymptomatik kann zu- mindest in den ersten Jahren bei einem Teil der Patienten mit L-Dopa beein- flusst werden. Der Therapieerfolg un- terliegt jedoch starken individuellen

Schwankungen und ist im Vergleich zur IPK deutlich schlechter. Jeder MSA- Patient mit Parkinsonsymptomen sollte daher über mindestens drei Monate hochdosiert mit einem L-Dopa-Präpa- rat (mindestens 1 000 mg) behandelt werden, um die potenzielle Wirksam- keit einschätzen zu können. Gelegent- lich zeigt sich eine Zunahme der Be- schwerden, wenn die vermeintlich un- wirksamen Medikamente abgesetzt

werden. Obwohl das Risiko motori- scher Langzeitkomplikationen geringer ist, sind Dyskinesien bei MSA-Patien- ten beobachtet worden. Dennoch sind Dopaminagonisten aufgrund der stär- ker ausgeprägten blutdrucksenkenden Eigenschaften nur von eingeschränk- tem Nutzen.

Ataxie

Die zerebelläre Symptomatik kann in der Regel medikamentös nicht gebes- sert werden. Obwohl es einzelne offene Studien mit positiven Effekten bei- spielsweise von Buspiron oder Amanta- din gibt, sind diese Medikamente doch für den Großteil der Patienten nicht von Nutzen.

Die Autoren verabreichen Amanta- din gelegentlich bei Müdigkeit und An- triebslosigkeit. Nikotin führt – wie Al- kohol – zu einer Verschlechterung der Ataxie.

Sprech- und Schluckstörungen

Über die Hypophonie und zerebel- läre Dysarthrie hinaus kommt es bei manchen Patienten zu (meistens) einseitigen Rekurrensparesen mit Stimmbandlähmung, inspiratorischem Stridor und Dysphonie wobei selten aufgrund beidseitiger Paresen eine Tracheotomie erforderlich werden kann. Regelmäßige logopä- dische Behandlung kann die Beschwerden lindern, das Fortschreiten jedoch nicht aufhalten.

Durch Hilfsmittel wie bei- spielsweise Sprachcomputer oder Sprachausgabeprogram- me für einen Laptop kann die Kommunikation aufrecht er- halten werden.

Das Schlucken wird in der Regel durch einen Tonusver- lust des oberen Ösopha- gussphinkters beeinträchtigt.

Logopädisches Schlucktrai- ning und eine Nahrungser- gänzung mit hochkalorischer Kost (zum Beispiel Fresubin Trinknahrung in Portions- behältern zu 100 mL) sind hilfreich, als Ultima Ratio ist die Anlage einer perkutanen endoskopischen Gastrostomie möglich.

Auch der „Hypersalivation“ liegt ur- sächlich praktisch immer eine Schluck- störung zugrunde. Da diese nur schlecht zu behandeln ist, kann nur versucht werden, die Speichelproduktion zu re- duzieren.

Die systemische Gabe von Anticho- linergika sollte vermieden werden, da es zu einer weiteren Verzögerung der Magendarmpassage kommen kann.

Eine lokale Gabe von 5 bis 10 Tropfen Atropin (Atropin Augentropfen 1 Prozent) unter die Zunge vermeidet systemische Nebenwirkungen, und die Dosis kann schrittweise individuell durch den Patienten titriert werden.

Einfacher zu handhaben sind lokale Injektionen von Botulinumtoxin in die Parotis (Botulinumtoxin Typ A, zwei- mal 5 bis 10 U Botox oder zweimal 25 U Dysport), die für drei bis fünf Mo- nate die Speichelproduktion reduzie- ren.

Abbildung 2: MRT bei MSA, charakteristische Signalin- tensitäten in den T2-gewichteten Sequenzen (1,5 T oder 0,5 T) in den dorsolateralen Anteilen des Putamens und im mittleren Kleinhirnstiel (Pfeile), zusätzlich fällt die deutliche Signalauslöschung im Putamen auf.

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Orthostatische Hypotension

Die Patienten klagen initial meistens über unspezifische Beschwerden wie Benommenheit und Schwindel. Trotz des oft erheblichen Blutdruckabfalls im Schellong-Test kommt es überraschend selten zu Synkopen. Im Liegen, bezie- hungsweise beim Nachtschlaf kann es andererseits zu hypertonen Blutdruck- werten kommen, sodass immer eine 24- h-Blutdruckmessung erfolgen sollte.

Die Auswirkungen anderer Medika- mente müssen stets beachtet werden, um negative Auswirkungen auf die ve- getative Regulation zu vermeiden (Blutdrucksenkung durch Dopaminer- gika oder Blasenentleerungsstörung durch Anticholinergika). Immer sollten die folgenden einfachen Maßnahmen befolgt werden: häufige kleinere Mahl- zeiten, ausreichend Flüssigkeitszufuhr (dabei sollte drei- bis fünfmal täglich in kurzer Zeit ein halber Liter Wasser rasch getrunken werden), konsequen- tes Tragen angepasster elastischer Stützstrümpfe sowie Nachtschlaf mit um 30 Grad erhöhtem Oberkörper, um durch Aktivierung des Renin-/Angio- tensinsystems eine Erhöhung des in- travasalen Volumens zu erzielen. Ein vergleichbarer Effekt wird durch Mine- ralocorticoide wie Fludrocortison (bei- spielsweise Astonin H dreimal 0,1 mg/Tag) erzielt. Eine weitere Option ist die direkte α-sympathomimetische Therapie mit Midodrin (beispielsweise Gutron, dreimal 10 mg). Die kardialen Kontraindikationen müssen beachtet werden. L-Threo-DOPS, ein Noradre- nalin-Vorläufer, der zurzeit nur über die internationale Apotheke bezogen wer- den kann, ist in Dosierungen von zwei- mal 100 bis zweimal 300 mg ebenfalls wirksam.

Blasenentleerungs- und Erektionsstörung

In der Regel besteht eine Detrusor- hyperreflexie mit imperativem Harn- drang, erhöhter Miktionsfrequenz und Inkontinenz, die durch eine zusätzliche obstruktive Entleerungsstörung mit er- höhtem Sphinktertonus kompliziert sein kann. Eine infravesikale Obstrukti- on muss ausgeschlossen werden. Solan- ge der Restharn weniger als 100 mL be-

trägt, können „blasenselektive“ An- ticholinergica (beispielsweise Micto- norm dreimal 15 mg) oder auch trizykli- sche Antidepressiva (beispielsweise Tofranil dreimal 10 mg) eingesetzt wer- den, um die Detrusorhyperreflexie zu dämpfen. Selektive α1-Rezeptoranta- gonisten (Tamsulosin, beispielsweise Alna Retardkapseln, einmal täglich) hemmen den Sphinkter und können eine Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie günstig beeinflussen, weisen allerdings auch blutdrucksenkende Nebenwir- kungen auf. Da vor allem der Nacht- schlaf durch die Pollakisurie gestört ist,

kann eine Verminderung der Harnpro- duktion durch einmalige abendliche Gabe von Desmopressin (beispielswei- se Minirin Nasenspray 1 Hub entspricht 10 µg, auch als Tablette 0,2 mg) erzielt werden. Die Idealziele der Therapie, Kontinenz und vollständige, kontrol- lierte Blasenentleerung sind medika- mentös oft nur unvollständig zu errei- chen. Bei Frauen ist das Tragen speziell angepasster Vorlagen zu empfehlen. In- termittierendes, sauberes Selbstkathe- terisieren scheitert oft an den moto- rischen Einschränkungen, sodass bei anhaltender Inkontinenz die Versor- gung mit einem suprapubi- schen Blasenkatheter erfol- gen sollte (13).

Bei Erektionsstörungen, die ein unspezifisches Früh- zeichen der MSA darstellen, ist Sildenafil (25, maximal 50) mg) aufgrund der ausgepräg- ten blutdrucksenkenden Wir- kung nur selten einsetzbar (9).

Obstipation

Motilitätsstörungen betreffen den gesamten Gastrointestin- altrakt und beeinträchtigen das Schlucken ebenso wie Ma- genentleerung und Darmpas- A

A414 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 714. Februar 2003

IPK

18F-Dopa 11C-Raclopride 18FDG

MSA

Abbildung 3: PET bei MSA und IPK; durch den Verlust der striatalen Nervenzellen ist zusätzlich zur Reduktion der dopaminergen Terminalen (18F-Fluoro-Dopa) auch die Bindung des post- synaptischen Liganden (11C-Racloprid), ebenso wie die Stoffwechselaktivität (18F-Fluorodes- oxyglucose, FDG) deutlich vermindert.

Abbildung 4:123I-Metajodbenzylguanidin- (MIBG-)SPECT des Thorax mit Darstellung der noradrenergen postgang- lionären Neuronen des autonomen Nervensystems. Die postganglionären Schäden bei der reinen autonomen Dysfunktion und der IPK führen zu einer reduzierten 123I- MIBG-Aufnahme des Herzens (rechts) wohingegen der Befund bei MSA normal ist (links).

(6)

sage. Regelmäßige Bewegung, eventu- ell unterstützt durch Physiotherapie, ist notwendig. Mit Macrogol steht eine Substanz zur Verfügung, die die Stuhl- konsistenz beeinflusst, vorausgesetzt die Flüssigkeitszufuhr ist ausreichend.

Als Propulsivum kann Domperidon eingesetzt werden. Trotzdem ist in vie- len Fällen regelmäßig die Anwendung von Klistieren nötig.

Schlafstörungen

Drei unterschiedliche Schlafstörungen sind bei MSA-Patienten gehäuft zu be- achten: REM-Schlaf-Verhaltensstörun- gen sowie zentrale und obstruktive Schlafapnoesyndrome, letztere oft mit ausgeprägtem inspiratorischen Stridor bei (partieller) Recurrensparese. Die REM-Schlaf-Verhaltensstörung mit heftigen Bewegungen und Vokalisatio- nen spricht gut auf niedrig dosierte Benzodiazepine (vorzugsweise Clona- zepam 0,5 bis 1 mg vor dem Zu-Bett- Gehen) an. Wenn Tagesmüdigkeit ein Problem darstellt, kann eine polysom- nographische Untersuchung durchge- führt werden, um abzuklären, ob ein Schlafapnoesyndrom vorliegt. Hier

kann gegebenenfalls eine nächtliche na- sale Ventilationstheraphie mit CPAP oder BiPAP ganz erhebliche Besserung der allgemeinen Leistungsfähigkeit und des Wohlbefindens bringen.

Depression

Depressionen als eigenständiges Krank- heitssymptom treten bei etwa 30 Pro- zent der Patienten mit IPK auf, genaue Zahlen zur Prävalenz bei MSA fehlen.

Im Patientenkollektiv der Autoren ist die Rate reaktiver Depressionen, be- dingt durch den rapiden Krankheitsver- lauf, eher höher. In diesen Fällen wer- den die in der Regel gut verträglichen und wirksamen selektiven Serotonin- wiederaufnahmehemmer (zum Beispiel Citalopram zweimal 20 mg oder Sertra- lin einmal 50 mg) verabreicht.

Therapiestudien

Da die Ursachen der Multisystem- atrophie unbekannt sind, ist derzeit keine Therapie verfügbar, die die Er- krankung verlangsamen oder gar hei- len könnte.

Eine europäische Studie eines poten- ziell neuroprotektiven Medikamentes wird in Kürze in Zusammenarbeit der European MSA Study Group (EMSA) und des Kompetenznetz Parkinson be- gonnen werden.

Die deutsche Parkinson Vereinigung (dPV) bietet regionale Ansprechpart- ner für Betroffene (dPV, Moselstraße 31, 41464 Neuss; parkinsonv@aol.com), ebenso die Deutsche Heredo-Ataxie Gesellschaft (DHAG, Haußmann- straße 6, 70188 Stuttgart, www.ataxie.

de).

Manuskript eingereicht: 14. 10. 2002, angenommen:

5. 11. 2002

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2003; 100: A 408–415 [Heft 7]

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literatur- verzeichnis, das beim Verfasser erhältlich oder im Internet unter www.aerzteblatt.de/lit0703 abrufbar ist.

Anschrift für die Verfasser:

Priv.-Doz. Dr. med. Ullrich Wüllner Klinik für Neurologie

Universitätsklinikum Bonn Sigmund-Freud-Straße 25 53105 Bonn

E-Mail: wuellner@uni-bonn.de

Nach den Rom-II-Kriterien ist die funktionelle Dyspepsie definiert als persistierende oder rezidivierende Schmerzen oder Unwohlsein im Ober- bauch für mindestens zwölf Wochen innerhalb der vergangenen zwölf Mo- nate. Die Prävalenz beträgt weltweit 10 bis 20 Prozent, eine standardisierte Therapie gibt es nicht.

Die Autoren berichten über eine Studie an 453 Hongkong-Chinesen mit funktioneller Dyspepsie, die vier Wochen lang mit Lansoprazol 30 mg, Lansoprazol 15 mg oder Placebo be- handelt wurden. Dyspepsie-Symptom- score und Lebensqualität wurden zu

Beginn und am Ende der vierwöchi- gen Therapie analysiert. Vollständig beschwerdefrei wurden unter Lanso- prazol 30 mg 23 Prozent, unter 15 mg 23 Prozent und unter Placebo 30 Pro- zent. Auch bei einer Untergruppe Helicobacter-pylori-positiver Patien- ten war kein Unterschied zwischen den drei Behandlungsmodalitäten zu sehen, das gleiche Ergebnis betraf Subgruppenanalysen nach Dyspepsie vom Ulkustyp, vom Dysmotilitätstyp und vom Refluxtyp.

Die gewonnenen Daten stehen in einem gewissen Widerspruch zu der im deutschen Sprachraum durchge-

führten FROSCH-Studie, bei der ein positiver Effekt von Omeprazol 10 und 20 mg gegenüber Ranitidin 150 mg und Placebo zu Tage trat, bestätigt hingegen die BOND-OPERA-Studie, die ebenfalls keine positiven Effekte einer Therapie mit Protonenpumpen- inhibitoren ergeben hatte. w Wong WM, Wong BCY, Hung WK et al.: Double blind, randomized, placebo controlled study of four weeks of lansoprazole for the treatment of functional dyspepsia in Chinese patients. Gut 2002; 51: 502–

506.

Dr. B. C. Y. Wong, Department of Medicine, University of Hong Kong, Queen Mary Hospital, Hongkong, E-Mail:

bcywong@hku.hk

Lansoprazol bei der Behandlung der funktionellen Dyspepsie in Hongkong wirkungslos

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