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Archiv "Neuropsychologische Störungen in Klinik und Praxis: Stellungnahme" (14.10.1983)

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Zur Fortbildung Aktuelle Medizin AUSSPRACHE

Stellungnahme

Der Übersichtsaufsatz von P. Ber- lit und G. Haack über neuropsy- chologische Störungen in Klinik und Praxis bedarf nach meiner Auffassung einiger Korrekturen und Ergänzungen. So sind die Aphasien keineswegs immer Sprachstörungen bei einer intak- ten Sprechmotorik. Störungen beider Systeme können gleichzei- tig auftreten, differentialdiagno- stisch aber voneinander getrennt werden.

Die Bezeichnung der Aphasien als eine Kodierungs- bzw. Dekodie- rungsstörung stellt eine Simplifi- zierung dar, die der gegenwärti- gen neurolinguistischen Diskus- sion nicht gerecht wird. Bei der Beschreibung der Tumoraphasien fehlt der Hinweis auf den progre- dienten Charakter der Symptoma- tik; das Fehlen von Sprachver- ständnisstörungen bei einer vas- kulären amnestischen Aphasie trifft in vielen Fällen nicht zu. Die Terminologie der Symptomatik wird, wie z. B. bei der Erläuterung der Paraphasie und der Neologis- men, so unspezifisch ausgeführt, daß der Kliniker diese Symptome wohl nicht aufgrund dieser Be- schreibung wiedererkennen kann.

Die Nennung der Prosodiestörung als typisches Symptom der Broca- Aphasie ist irreführend, weil diese

Störung fakultativ auftritt. Die Dar- stellung des Agrammatismus als

„Rarifizierung grammatischer Strukturen" ohne einen Hinweis auf die selektiven wortkategoriel- len Defizite bei diesem Symptom ist zumindest unvollständig, der Terminus Telegrammstil unzutref- fend. Die bessere Prognose für

„flüssige" Aphasiker kann nicht so ohne weiteres postuliert wer- den. Es sind in einer Prognose weitaus mehr ausschlaggebende Faktoren involviert als die Kollate- ralversorgung, wie z. B. Lokalisa- tion und Ausdehnung der Hirnlä- sion, Schweregrad des initialen Sprachdefizits, Zeitspanne seit dem aphasiebedingten Ereignis, Aphasietyp und vorherrschende Aphasiesymptome.

Als ein weiteres Beispiel für die irreführende Unvollständigkeit des Beitrages können auch die in der Tabelle 1 zitierten Beispiele zur Untersuchung einer Aphasie herangezogen werden. Hier wird lediglich vermerkt, daß Fragen zum jetzigen Befinden, zur Entste- hung der Krankheit, zur berufli- chen Tätigkeit und zur Familie ge- stellt werden sollten, dabei aber völlig außer acht gelassen, worauf bei der Spontansprache eines Aphasikers zu achten ist, nämlich auf das Kommunikationsverhal- ten, auf Artikulation und Prosodie, auf die automatisierte Sprache, auf die semantische, phonemati- sche und syntaktische Struktur der Sprachäußerungen. Das Nach- sprechen automatisierter Abfol- gen ist sicherlich nicht dazu ge- eignet, die tatsächliche Nach- sprechleistung zu prüfen. Die Lei- stung bei Benennungsaufgaben sagt nichts über das Sprachver- ständnis aus, und die Minimalpaa- re eignen sich nicht dazu, phone- matische Paraphasien nachzu- weisen.

Die aufgeführten Beispiele ma- chen in der dargestellten Verkür- zung auch wenig Sinn und ent- behren jeglicher linguistischen Systematik. Wesentliche Untersu-

chungskategorien, wie z. B. die abgestufte verbale Komplexität und das Benennen von Situatio- nen und Handlungen, werden nicht einmal erwähnt. Mit den un- ter 5. angegebenen Beispieltypen läßt sich auch am Krankenbett kein Urteil über das auditive Sprachverständnis gewinnen. Daß zu einer Aphasieuntersuchung auch die Prüfung des Lautlesens, des Lesesinnverständnisses, des Spontanschreibens und des Schreibens nach Diktat als obliga- torischer Bestandteil einer orien- tierenden Prüfung gehört, ist nicht einmal erwähnt.

Zum Aspekt, wie die Effizienz ei- ner Aphasietherapie möglichst umfassend objektiviert werden kann, sind zugegebenermaßen noch viele Fragen offen. Es sollte jedoch erwähnt werden, daß mit Hilfe des Aachener Aphasietests sehr wohl der Zuwachs an sprach- licher Leistungsfähigkeit erfaßt werden kann. Der Absatz 6.1 über die linguistisch orientierte Apha- sietherapie ist völlig unzureichend und wird der Überschrift in keiner Weise gerecht. Einer der entschei- denden Punkte einer solchen The- rapie, nämlich der interagierende Einsatz mehrerer sprachlicher Mo- dalitäten, bleibt in diesem Absatz unerwähnt. Es muß vor dem Vor- sprechen von Reihen als Aktivie- rungsmethode gewarnt werden, weil diese gerade die Automatisie- rung von serialisierten Einheiten hervorrufen können und einen hemmenden Einfluß auf die Thera- pie darstellen.

Völlig unakzeptabel ist, daß unter den abgehandelten neuropsycho- logischen Syndromen die Störun- gen der Wahrnehmung, der Auf- merksamkeit (einschließlich der vielgestaltigen Neglect-Syndrome) und des Gedächtnisses nicht ein- mal erwähnt werden. Dies ist vor allem bedauerlich, da in den letz- ten Jahren für diese höheren Hirn- funktionsstörungen auch Thera- pieansätze vorgeschlagen wur- den. Schließlich gehört zur Aufga- be der neu ropsychologischen Dia- gnostik und Therapie in der Klinik

Neuropsychologische

Störungen in Klinik und Praxis

Zum Beitrag von Dr. med. Peter Berlit

und Dr. med. Gabriele Haack in Heft 14/1983

70 Heft 41 vom 14. Oktober 1983 80. Jahrgang DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ausgabe A

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Zur Fortbildung Aktuelle Medizin AUSSPRACHE

auch die Bearbeitung von Störun- gen von Strategie und Planung, Beeinträchtigungen des Antriebs sowie Störungen der sozialen In- telligenz. Auch diese Funktionsde- fizite lassen sich heute diagno- stisch abgrenzen und therapeu- tisch angehen.

Neuropsychologische Rehabilita- tion ist eindeutig nicht allein die Aufgabe des betreuenden Haus- arztes, der mit den dabei auftre- tenden vielfältigen Problemen überfordert wäre. Eine solche Rehabilitation erfordert vielmehr ein multidisziplinäres Team, in dem der Neurologe und Psychia- ter zusammen mit dem klinischen Psychologen, Neurolinguisten, Logopäden und Ergotherapeuten arbeitet.

Es ist vielleicht von Interesse, daß es auch in der Bundesrepublik Deutschland inzwischen solche multidisziplinär arbeitenden Reha- bilitationsteams gibt (z. B. Aa- chen, Bonn, Gailingen und Mün- chen).

Privatdozent Dr. D. von Cramon Leiter der

Neu ropsycholog ischen Abteilung am

Max-Planck-Institut für Psychiatrie Kraepelinstraße 10

8000 München 40

Schlußwort

Der Leserbrief zu unserem Über- sichtsaufsatz läßt eindrucksvoll er- kennen, daß die Neuropsycholo- gie sich ihrer eigenen, dem Nicht- eingeweihten nicht ohne weiteres verständlichen Nomenklatur be- dient. Er offenbart zudem, daß ei- ne Übersicht sich ganz leicht auch so darstellen lassen würde, daß sie alles andere als übersichtlich ist und nur noch von Experten ver- standen wird. Ohne eine vertretba- re Selektion, Gewichtung und ge- legentlich auch gewollte Schema- tisierung ist dieses Gebiet derzeit für den Nichtfachmann kaum eini-

germaßen verständlich zu be- schreiben. Ausdrücke wie „selek- tive wortkategorielle Defizite", oder „semantische, phonemati- sche und syntaktische Struktur von Sprachäußerungen" dürften bestenfalls abschreckend auf den Leser wirken.

Die Modellvorstellung der Aphasie als Kodierungs- und Dekodie- rungsstörung, von dem langjähri- gen Aphasieforscher Leischner stammend, ist immerhin sinnfällig;

andere sind nicht deshalb richti- ger, weil sie gegenwärtig heiß dis- kutiert werden. Natürlich kann ei- ne Hirnerkrankung sowohl eine Aphasie als auch eine zerebelläre oder bulbäre Dysarthrie verursa- chen, wenn sie mit entsprechen- den Herden im Gehirn einhergeht

— letztere Störungen sind jedoch keine neuropsychologischen. Daß zerebrale Symptome bei einem Hirntumor progredient sind, ist neurologisches Grundwissen und steht sinngemäß in der Einleitung.

„Im Hinblick auf das auditive Sprachverständnis sind Patienten mit amnestischer Aphasie im Ge- spräch unauffällig, und auch bei Tests unterscheiden sie sich kaum von hirnorganisch Geschädigten ohne Aphasie" ist auch bei Poeck (Klinische Neu ropsycholog ie, Thieme 1982, Seite 85) zu lesen.

Ob sich der Leser unter den ver- schiedenen Aphasieformen, wie wir sie unter 2.2 beschrieben ha- ben, etwas vorzustellen vermag, müßte ihm selbst überlassen blei- ben. Die „stark gestörte Prosodie"

wird auch bei Poeck als eines der Leitsymptome der Broca-Aphasie aufgeführt (siehe oben, Seite 86).

Auch uns ist nicht verborgen ge- blieben, daß die Bezeichnung „Te- legrammstil" eine Simplifizierung darstellt; aber selbst der Laie kann sich darunter etwas vorstellen, und diese Vorstellung kommt zu- mindest dem Phänomen recht nahe.

Über die Spontanprognose von Aphasien war bislang nichts Ver- läßliches bekannt. Die jetzt er- scheinende multizentrische Stu-

die aus 17 Kliniken der Bundesre- publik an 200 Patienten, die mit Unterstützung der Deutschen For- schungsgemeinschaft durchge- führt und von Aachen initiiert wur- de, wird erstmals die besonders für die Therapie und deren Nutzen benötigten Daten liefern („Der Nervenarzt", im Druck).

Unsere Tabelle 1 zeigt Möglichkei- ten — unter anderen — auf, wie man in der Praxis verfahren kann, wenn man einen Aphasiker vor sich hat

— ähnlich wie man einem Ortsun- kundigen in einer ihm fremden Stadt einige Orientierungshilfen gibt (Fluß, Hauptstraße, Rathaus, Kirche usw.). Irreführend wäre nur, wenn man den so Unterrichte- ten glauben machen wollte, er könne sich damit morgen als ver- sierter Taxifahrer verdingen. Wir haben aber nirgends behauptet, der Leser unseres Artikels werde damit zum perfekten Neuropsy- chologen.

Es ging uns allein darum zu zei- gen, wie mit Mitteln der Praxis oh- ne unzumutbaren Zeitaufwand die Diagnose Aphasie oder Apraxie gestellt werden kann, nicht, wel- che Spezifizierungen in Fachinsti- tuten aufgrund der dort vorhande- nen Ausstattung mit Personal, Ap- paraten und Zeit möglich sind.

Wenn zu einer orientierenden Aphasieuntersuchung unter ande- rem auch die Prüfung des Lautle- sens, des Spontanschreibens und des Schreibens nach Diktat obli- gatorisch ist, wie v. Cramon for- dert, so dürften ihm die vielen Aphasiker mit rechtsseitiger Hemi- plegie und/oder Hemianopsie ent- weder noch nicht begegnet sein, oder er klassifiziert sie als „nicht untersuchbar". Daß zur Effizienz einer Aphasietherapie noch viele Fragen offen sind, wird im Leser- brief zugestanden, auf die wichtig- ste Frage hierzu, den Spontanver- lauf, ist oben bereits eingegangen worden.

Es ist bekannt, daß sich in einem Münchner Vorort eine Abteilung zur Diagnostik und Therapie von 72 Heft 41 vom 14. Oktober 1983 80. Jahrgang DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ausgabe A

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