M E D I Z I N
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A2808 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 4324. Oktober 2003
Folgen einer zu niedrigen Sektionsrate
Die Folgen einer zu geringen Sektions- zahl (1,2,4,6,8–10,13–16) wirken sich auf die Allgemeinheit und die Hinterbliebe- nen negativ aus.
>Die knappen Ressourcen werden falsch verteilt, weil die Todesursachen- und Krankheitenstatistik nicht stimmen.
>Bei vergeblichen Reanimations- versuchen der Rettungs-/Notarztdienste wird zu selten seziert. Dabei würde eine regelmäßig ausgeführte Sektion die auf- wendig betriebenen Rettungssysteme noch effizienter machen und öfter als bis- her auch einen unnatürlichen Tod erken- nen lassen.
>Die Hinterbliebenen erfahren in vielen Fällen nicht die eigentliche Ur- sache, die zum Tode des Verstorbenen geführt hat, und es werden ihnen die durch eine berufsbedingte Schädigung der Verstorbenen zugewachsenen Ver- sorgungsansprüche und -leistungen vor- enthalten. Auch werden sie möglicher- weise nicht vor einer Infektion oder ei- ner sonstigen äußeren Gefährdung – wie durch Gifte oder unverträgliche Medi- kamente, speziell Medikamentenkombi- nationen – rechtzeitig geschützt und er- fahren nichts von einer bis dato unbe- kannten, gegebenenfalls auch sie betref- fenden vererbbaren Erkrankung.
>Es bleiben Selbstvorwürfe und Schuldzuweisungen oder Vorbehalte ge- genüber Dritten bei den Hinterbliebe- nen und bei den behandelnden Ärzten bestehen, die durch eine Sektion hinfällig oder wenigstens relativiert würden.
>Die studentische Ausbildung, die fachärztliche Weiterbildung und die all- gemeine ärztliche Fortbildung wie auch das rechtzeitige Erkennen eines Wan- dels bekannter Krankheitsbilder und Auftretens neuer Krankheiten werden beeinträchtigt. Eine der Autopsie inne- wohnende ganzheitliche, intellektuelle und kommunikative Betrachtungswei- se wird besonders in der Pathologie, aber auch der klinischen Medizin, nicht mehr intensiv genug betrieben. Es wer- den zukünftig nicht mehr Pathologen verfügbar sein, die genügend oft eine klinische Sektion ausführen könnten und die den heute in den hoch speziali- sierten klinischen Fächern auch bei der Autopsie differenzierter und diffiziler
Seit längerem ist bekannt, dass es bei chronisch entzündlichen Darmerkran- kungen unter der Einnahme von Aspi- rin und nichtsteroidalen Antirheumati- ka (NSAR) zu einer Aktivierung des Entzündungsprozesses kommen kann.
Die Autoren von der Kanalinsel Jer- sey, die über eine stabile Population von 90 000 Einwohnern verfügt, berichten über eine Fallkontrollstudie bei 105 Pa- tienten mit Kolitis, von denen 78 (74 Prozent) vor Aufflackern ihrer Erkran- kung NSAR oder Aspirin eingenom- men hatten. In einer alterskorrelierten Kontrollgruppe lag die Einnahme mit
20 Prozent signifikant niedriger, bei Pa- tienten im Krankenhaus mit 30 Prozent ebenfalls deutlich unter den genannten Werten. Die Autoren errechneten ein um den Faktor 6,2 beziehungsweise 9,1 erhöhtes Risiko der Entwicklung einer Kolitis unter einer Behandlung mit
Aspirin oder NSAR. w
Gleeson MH, Davis A J M: Non-steroidal anti-inflamma- tory drugs, aspirin and newly diagnosed colitis: a case- control study.Aliment Pharmacol Ther 2003; 17: 817–825.
Dr. M. H. Gleeson, Department of Gastroenterology, The General Hospital, St. Helier, Jersey, Channel Islands. JE2 3QS, UK. E-mail: C.McLennan@gov.je
Kolitis durch Aspirin oder NSAR
gewordenen diagnostischen Anforde- rungen gewachsen wären.
>Ein wesentliches Mittel der Quali- tätssicherung in der klinischen Medizin, für das Absichern und den Beleg eines therapeutischen Fortschritts oder Versa- gens und – nach Meinung des Erstautors – ein Instrument der Kostendämpfung wären nicht mehr verfügbar.
Ausblick und Erwartung
Die öffentliche Meinung, die Gesund- heitspolitik, die Administration und die klinische Ärzteschaft müssen den Wert der klinischen Sektion kennen. Und wenn es noch genügend viele sekti- onstüchtige Pathologen gibt, wird eine klinische Sektion auch wieder genügend oft ausgeführt werden, zum Wohle der Allgemeinheit. Eine heute neu aufzule- gende wissenschaftliche Untersuchung würde erbringen,dass die von Georgii (6) und Hübner (8) aus der Literatur recher- chierten Sektionsergebnisse noch heute richtig sind (1, 15). Dies würde bedeuten, dass bei einer Rate der Obduktionen von mehr als 40 Prozent der Verstorbenen die Rate schwerwiegender Organfehl- diagnosen unter 30 Prozent fallen würde.
Ferner hätten zwischen 10 Prozent und 30 Prozent der Verstorbenen eine andere Behandlung benötigt. Damit würde zu-
gleich H. Franzki (3) bestätigt: „Die Zahl der (klinischen) Fehldiagnosen ist umge- kehrt proportional zur Zahl der durchge- führten Sektionen“. Dies dürfte gerade heute auch allgemeinpolitisch und öko- nomisch von Belang sein. Es müsste je- den Arzt und Gesundheitspolitiker nach- denklich stimmen und auf eine Abhilfe sinnen lassen. Hierzu wäre aus Sicht des Erstautors durch die (Gesundheits-)Poli- tik, die Ressortministerien und die Ärz- teschaft für eine klinische Sektion öffent- lich zu werben und ihre Ausführung auch für die Zukunft personell und materiell sicherzustellen.
M. Stolte, Bayreuth sowie den Gutachtern und der Fachre- daktion von Deutsches Ärzteblatt verdanken wir wertvolle, vor allem redaktionelle Hinweise zur Gestaltung des Ma- nuskriptes, C. J. Kirkpatrick, Mainz, die Übertragung der Zu- sammenfassung ins Englische.
Der Artikel ist Georg Dhom, Homburg/Saar gewidmet.
❚Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2003; 100:A 2802–2808 [Heft 43]
Referiert
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literatur- verzeichnis, das beim Verfasser erhältlich oder im Internet unter www.aerzteblatt.de/lit4303 abrufbar ist.
Anschrift für die Verfasser:
Prof. Dr. med. Ernst-Wilhelm Schwarze Pathologisches Institut, Klinikum Mitte Klinikum Dortmund gGmbH Beurhausstraße 40, 44123 Dortmund