Tabelle 1: Volumen intestinaler Gase I
Bedell et al. (1956) 115 ± 127 ml (Gesunde)
116 ± 125 ml (Patienten mit pulmonalen Erkrankungen)
Greenwald et al. (1969) 111 ml
Levitt (1971) 90 ± 54 ml (x ± SD; R = 30-200 ml)
Tabelle 2: Volumen intestinaler Gase II: Patienten mit irritablem Kolon a) basal
Lasser et al. (1975) 199 ± 131 ml (SEM) Kontrollpersonen (n = 10) 176 ± 28 ml (SEM) irritables Kolon (n = 12) b) postprandial
Lasser et al. (1976) 150 ± 23 ml (SEM) Kontrollpersonen (n = 12) 125 ± 19 ml (SEM) irritables Kolon (n = 12) DEUTSCHES
Fel i 11 &IJ il ;1 11 1 1 1 1 lrffl
Leitsymptom: Meteorismus
Meteorismus gilt allgemein in erster Linie als Symptom des Reizdarm-Syndroms, das heißt funktioneller Beschwerden.
Die Feststellung, daß Patienten mit Reizdarm-Syndrom und starken Blähungsbeschwerden keineswegs vermehrte Darmgasvolumina aufweisen, muß in diesem Zusammen- hang überraschend erscheinen. Was wissen wir heute wirk- lich über die vermehrte Entstehung oder Empfindung von Darmgasen, und welche therapeutischen Anhaltspunkte er- geben sich hieraus?
Bernhard Lembcke
M
eteorismus steht syn- onym für eine abnor- me Gasansammlung im Magen-Darm-Trakt.Diese Definition setzt im Kern eine zuverlässige subjektive Empfindung für intestinale Gasvolumina voraus, die nicht existiert, oder klinisch-dia- gnostische Methoden, die eine Zu- nahme des Darmgasgehaltes objekti- vieren können. Quantitativen Anga- ben des Darmgasvolumens beim Menschen liegen unterschiedliche experimentelle Methoden zugrunde (unter anderem Ganzkörperpletys- mographie, Argon-Auswaschtech- nik); die Ergebnisse zeigen jedoch ein weitgehend übereinstimmendes Bild (Tabelle 1) (2, 8, 17). Von einem geübten Radiologen können diese Darmgasmengen anhand einer Ab- domenübersichtsaufnahme mit einer Fehl -größe von etwa ± 20 Prozent abgescnätzt werden.
Eine metrische Erfassung des Darmgasvolumens ist jedoch routi- nemäßig weder durchführbar noch zweckmäßig, da das Symptom Me- teorismus
❑ bei Patienten mit Blähungsbe- schwerden gar nicht mit der tatsäch- lichen Darmgasmenge korreliert (Tabelle 2) und überdies
❑ häufig ist,
❑ oft intermittierend auftritt und Abteilung Gastroenterologie (Leiter:
Professor Dr. med. Wolfgang F. Caspary), Zentrum der Inneren Medizin, Johann Wolf- gang Goethe-Universität Frankfurt am Main
❑ meistens als sogenannte funktio- nelle Störung, das heißt — quoad vi- tal — als harmlos betrachtet werden kann.
Dessen ungeachtet beinhaltet das Symptom Meteorismus zumeist für den Patienten eine nicht uner- hebliche Beeinträchtigung des Ge- sundheitsgefühls und eine Beunruhi- gung, die ihn zum Arzt führen.
Nach Hafter (9) handelt es sich beim Meteorismus um das dritthäu- figste Darmsymptom, nach abdomi- nellen Schmerzen und Obstipation.
Diese Symptome finden wir auch als charakteristische Trias im Rahmen
des Syndroms des irritablen Kolons bei der Mehrzahl der Patienten in ei- ner gastroenterologischen Fachpra- xis. Das Symptom Meteorismus steht hier synonym zu der Empfindung von Blähungsbeschwerden.
Die Vorstellung, daß eine ver- mehrte Darmgasmenge bei diesen Patienten für die Beschwerdesym- ptomatik verantwortlich ist, wurde vor wenigen Jahren experimentell überprüft (12, 13). Diese Daten be- ruhen auf Untersuchungen mit der Argon-Auswaschtechnik, wobei Ar- gon (45 ml/min.) am Treitzschen Band in den Darmkanal insuffliert
A-3846 (58) Dt. Ärztebl. 87, Heft 48, 29. November 1990
Substrat
H2O Osmotischer
Ausgleich 4—>
4-->
Volumen = Dehnungsreiz Passagezeit-
verkürzung
bakterielle Fermentation
—>osmotische Teilchenzahl t
Gasbildung (H 2 , 00 2 )
Volumenüberladung des Kolons Resorption
(H 2 0, SOFA, Elektrolyte)
Diarrhoe wurde und die rektal ausgewasch-
enen Darmgase quantitativ aufge- fangen und analysiert wurden. Da- nach ist das Darmgasvolumen bei Patienten mit irritablem Kolon, die über Blähungsbeschwerden klagten, weder nüchtern noch postprandial erhöht (Tabelle 2).
Abweichend vom Verhalten bei Kontrollpersonen war aber bei die- sen Patienten eine Beeinträchtigung der koordinierten Motorik des obe- ren Verdauungstraktes festzustellen, kenntlich am Reflux eines inerten Markergases (SF6) in den Magen, die abdominelle Beschwerden her- vorrief. Blähungsbeschwerden und Darmgasgehalt korrelieren mithin nicht verläßlich. Die genannten Un- tersuchungen haben überdies keine Hinweise dafür ergeben, daß beim irritablen Kolon Veränderungen der Zusammensetzung der Intestinalga- se gegenüber der Kontrollgruppe be- stehen; beim Menschen dominieren als Darmgase N2, CO2, H2, CH4 und 02 (14).
Eine sichtbare Distension des
„geblähten" Abdomens wird vor- nehmlich von Patientinnen, die auch über Menstruationsstörungen und Migräne klagen, durch eine unwill- kürlich verstärkte Lendenlordose und Tiefstellen des Zwerchfells vor- getäuscht; in der älteren Literatur finden sich Hinweise, daß derartige, als psychogene Störung aufgefaßte
„Blähungen" des Abdomens („hyste- rical abdominal proptosis") durch Allgemeinanästhesie aufgehoben werden können (20).
Im folgenden soll näher auf Be- dingungen eingegangen werden, die zu einer Vermehrung dieser Darm- gase und damit zum Symptom Me- teorismus führen können, hierbei sind vorwiegend organische Erkran- kungen zu berücksichtigen.
1. Aerophagie
Der Eintritt atmosphärischer Luft in den Verdauungskanal durch Verschlucken von Luft ist physiolo- gisch, worauf bereits Quincke (1889) und Bouveret (1891), auf den die Be- zeichnung „Aerophagie" zurückgeht, hingewiesen haben (19, 11), kommt jedoch selten auch als abnorme Ver-
Abbildung 1: Meteorismus als Störfaktor der abdominellen Sonographie bei bettlägeri- gen Patienten: Luftsicheln in den Haustren des rechtsseitigen Kolons
haltensweise und Ursache von Me- teorismus vor. Durch den einzelnen Schluckakt gelangen 2 bis 3 ml Luft in den Magen; bei tiefer Inspiration, hier insbesondere unter verstärkter emotioneller Anspannung, treten et- wa 1 bis 2 ml Luft durch Senkung des
Abbildung 2: Patho- physiologie der bak- teriellen Gasbildung im Kolon bei der Kohlenhydratmalab- sorption. Es wird deutlich, daß bakte- rielle Gasbildung, die mit der Metaboli- sierung der malab- sorbierten Kohlenhy- drate einhergeht, auf- treten kann, bevor es zu Durchfällen kommt, da das Kolon einen beträchtlichen Teil der (osmotisch wirksamen) kurzketti- gen Fettsäuren resor- bieren kann
intraösophagealen Druckes in den Magen ein (18). Als Hauptbestand- teil dieser atmosphärischen Luft kann dementsprechend Stickstoff (N2) nachgewiesen werden.
Die Luft kann bei aufrechter Po- sition den Magen unwillkürlich auch wieder verlassen; in liegender Hal- tung erweist sich der gastro-duode- nale Übergang jedoch als Ventilme- chanismus, analog dem Wasser- schloß des Siphons eines Waschbek- kens. Magenluft, die in den Darm gelangt ist, kann dadurch nicht in den Magen zurück; da Stickstoff (N 2) im Darmkanal zudem sehr schlecht diffusibel ist (23), verbleibt der größ- te Teil verschluckter atmosphäri- scher Luft im Verdauungstrakt. Dies hat praktische Konsequenzen inso- fern, als — eben aus diesem Grunde — zum Beispiel bei der Sonographie bettlägeriger Patienten häufiger mit einer Erschwerung der Untersu- chung infolge Meteorismus zu rech- nen ist (Abbildung 1).
Während die Rückenlage in der angegebenen Weise den Luftüber- tritt in den Darm begünstigt, erleich- tern die Bauchlage, aber auch ei- ne halbaufrechte, vornübergebeugte Position, die wir vom Aufnehmen
Dt. Ärztebl. 87, Heft 48, 29. November 1990 (61) A-3849
der Säuglinge kennen, das Aufsto- ßen verschluckter Luft (10, 11).
2. Neutralisation
Kohlendioxyd (CO 2) erreicht im Duodenum postprandial vorüberge- hend Partialdrucke von 300 bis 480 mm Hg und stellt dann den Haupt- bestandteil der Duodenalluft (22).
Das Gas entsteht durch die Neutrali- sierung des Magensafts mit dem Bi- karbonat des Pankreas-, Galle- und Darmsekretes. Im Jejunum kann CO2 in beträchtlichen Mengen durch die Neutralisation freier Fettsäuren gebildet werden. CO2 ist im Dünn- darm sehr gut diffusibel (23); ent- sprechend sinkt der duodenale CO 2- Partialdruck rasch. Vorübergehend können die großen Mengen des bei der Neutralisation entstehenden Kohlendioxyds nach opulenten Mahlzeiten, das heißt stark stimu- lierter Säure- und Bikarbonatsekre- tion, jedoch zu Meteorismus führen.
3. Darmgasbildung durch Nahrungsmittel
Nahrungsmittel können in viel- förmiger Weise zu Meteorismus füh- ren (14-16, 21, 24). Eine Reihe von Nahrungsmitteln enthält Luft als na- türlichen oder zugesetzten Bestand- teil. Ein Apfel enthält zum Beispiel 20 Prozent Luft, Eierschnee beinhal-
Abbildung 3: Kohlen- hydrat-Malabsorption nach oraler Verabrei- chung von 25 g Fruk- tose; Nachweis durch Messung der endexpiratorischen Wasserstoff(H2)-Kon- zentration, Ein H 2-An- stieg > 20 ppm (parts per million) zeigt hier das Vorlie- gen einer Malab- sorption an
tet 5:1 (v/w) Teile Luft, und 170 ml Cola setzen bei raschem Trinken 500 ml CO2 frei. Auf die CO 2-Entste- hung im Rahmen von Neutralisie- rungsvorgängen wurde bereits einge- gangen.
Darüber hinaus führt ein Über- tritt von Kohlenhydraten in den Dickdarm zu verstärkter bakterieller Gasbildung. Dies ist der Fall a) bei der sogenannten „physiologischen Kohlenhydratmalabsorption", b) bei der Ingestion unverdaulicher Koh-
lenhydrate, c) bei der Kohlenhy- drat-Malabsorption als pathophysio- logischer Störung.
Unter den Darmgasen sind Was- serstoff (H 2) und Methan (CH4) obli- gat bakteriellen Ursprungs; dieser Umstand ermöglicht die Erfassung einer Kohlenhydrat-Malabsorption durch Messung der Wasserstoff-Ex- halation in der Alveolarluft (H2- Atemtest) (14). Derartige, sehr sen- sitive Messungen haben gezeigt, daß beim Menschen eine physiologische
Abbildung 4a: Lokaler Meteorismus bei stenosierendem M. Crohn des Dünndarms. Sonographische Darstellung des stenosierten Darmsegmentes im Querschitt (oben) mit prästenostischer Dilata- tion, luminaler Flüssigkeits- und Darmgasansammlung, freie Flüs- sigkeit im Abdomen
A-3850 (62) Dt. Ärztebl. 87, Heft 48, 29. November 1990
Abbildung 4 b: Meteorismus bei stenosierendem M. Crohn im rechtsseitigen C. transversum. Sonogramm des röhrenförmigen ste- nosierten Segmentes im Längsschnitt; deutliche relative prästenoti- sche Erweiterung und Luftansammlung (DD meteoristischer Be- schwerden zu gleichzeitig bestehender Cholezystolithiasis)
Tabelle 4: Symptomorientierte Forschung heute: Meteorismus Z. Gastroenterol. 1980 bis 1987 (5992 Seiten)
Anzahl Stichwort-Nennungen
Stichwort 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 Meteorismus 0
Blähungen 0 Flatulenz 0 Darmgase 0
0 0
0 0
0 0
0 0
0 0 0
0 0 0
0 0 0
0 0 0
0 0 0 Malabsorption von Weizenstärke
vorkommt, die auf die Anwesenheit von Gluten in der natürlichen Ge- treidemehl-Matrix zurückzuführen ist und die — bei Gesunden — subjek- tiv unbemerkt bleibt (1).
Bei Patienten mit irritablem Ko- lonsyndrom kann diese geringe und physiologische Darmgasbildung je- doch bereits Anlaß zu Blähungsbe- schwerden geben, wie Untersuchun- gen der Readschen Arbeitsgruppe mit einem radioaktiv markierten Testmahl gezeigt haben (3). Der Be- griff des „Reizdarmes" findet in die- ser besonderen Sensitivität eine pa- thophysiologisch noch nicht hinrei- chend charakterisierte Entsprechung (15).
Unverdauliche Kohlenhydrate wie die Oligosaccharide Stachyose und Raffinose, die die Ursache des Meteorismus im Gefolge einiger be- kanntlich blähender Nahrungsmittel wie Bohnen, Linsen oder Pflaumen darstellen, führen dagegen — dosis- abhängig — auch beim Darmgesun- den zu einem durch Meteorismus ge- prägten Beschwerdebild (24). In ähnlicher Weise können verschiede- ne Ballaststoffe (Rohfaser) bakteri- ell verstoffwechselt werden und da- durch Anlaß zu Meteorismus geben (4).
Klinisch stellt Meteorismus ein Leitsymptom der Kohlenhydrat-Mal- absorption dar (Abbildung 2), zum Beispiel bei Patienten mit einheimi- scher Sprue, also einer preferentiel- len Störung der Digestion und Re- sorption, bei Patienten mit einem Laktasemangel (isolierte Störung der Digestion) und bei der Einnah- me nicht resorbierbarer Di- oder Monosaccharide, deren Auswahl vielfach auf ärztlichen Rat zurück- geht (zum Beispiel Laktulose, Fruk- tose, Sorbit).
Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß Fruktose in relativ geringen Mengen resorbiert werden kann (Abbildung 3), Fruchtsäfte heu- te aber zunehmend mit Fruktose statt Saccharose gesüßt werden, so daß bei verstärkter Fruktose-Zufuhr mit Blähungen zu rechnen ist. (15).
Bei der einheimischen Sprue fin- den wir alle Hydrolasen der apikalen Enterozytenmembran („brush bor- der") drastisch reduziert; die Ver-
Tabelle 3: Basisdiagnostik bei Meteorismus und Flatulenz
1. ausführliche und präzise Anamnese inkl. Diätana- mnese
2. körperliche Untersuchung 3. „Stuhlvisite" (Inspektion,
Gewicht, Test auf okkultes Blut)
4. BSG, Blutbild, GPT, Biliru- bin, Elektrophorese 5. Malassimilationsparameter
(Laktose-Toleranztest, (3-Karotin, Stuhlfettanalyse) 6. abdominelle Sonographie 7. Abdomenübersichtsauf-
nahme
8. Osophago-Gastro-Duode- noskopie mit Duodenal- biopsie
9. Colo-Ileoskopie / Kolon- kontrasteinlauf
10. Enteroklysma nach Sellink 11. gezielte Funktionsprüfun-
gen, Manometrie 12. Angiograp hie
minderung der Dünndarmoberfläche bewirkt zudem eine Resorptionsstö- rung. Patienten mit einheimischer Sprue klagen häufig über Meteoris- mus, bisweilen stellt das Symptom die einzige klinische Symptomatik dar. Bei der Zöliakie des Kleinkindes tritt das Symptom oft als charakteristi- scher Blähbauch im Verein mit lauten Darmgeräuschen und mit hypopro- teinämischer Aszitesbildung auf.
Bei der Laktose-Malabsorption auf dem Boden eines selektiven Lak- tasemangels (der im Erwachsenenal- ter bei der Mehrheit der Weltbevöl- kerung besteht; Prävalenz in Deutschland um 15 Prozent) führt die Aufnahme von Laktose dosisab-
hängig zu Blähungen, Flatulenz und Durchfällen, wobei Meteorismus be- reits dann das Bild prägen kann, wenn Durchfälle noch fehlen (Abbil- dung 2). Der kausale Zusammen- hang der Beschwerden mit dem Milchzucker-Konsum wird dabei vom Patienten erstaunlich oft selbst dann nicht erkannt, wenn es sich um die Ingestion reiner Laktose als
„Stuhlregulans" (zum Beispiel Edel- weiß®-Milchzucker) handelt.
Eine bakterielle Gasbildung liegt auch der verstärkten Darmgas- bildung beim Blindsacksyndrom zu- grunde, wobei Stasebezirke in Form multipler Divertikel die Proliferation der Keime begünstigen. In ähnlicher Weise ist auch die Gasansammlung vor intestinalen Stenosen/Strikturen, zum Beispiel beim M. Crohn (Abbil- dung 4) oder der seltenen chroni- schen intestinalen Pseudoobstrukti- on des Dünn- und Dickdarmes (Ab- bildung 5) partiell eine Folge bakteri- eller Substratvergärung; hier kommt jedoch eine intermittierende oder permanente Störung der Passage verschluckter Luft hinzu.
4. Behinderung des Gasaustausches
Die Phänomene des intestinalen Gasaustausches unterliegen weitge- hend den physikalischen Gesetzmä- ßigkeiten der Diffusion (7, 23).
Pfortaderstauung („le vent vient avant la pluie") bei der Leberzirrho- se (Abbildung 6), eine Rechtsherzin- suffizienz oder fokale intestinale Zir- kulationsstörungen (Bridenileus, In- vagination, Volvulus) verursachen daher Störungen der Darmgasre- sorption, die insbesondere dann aus- geprägte Formen annehmen, wenn —
A-3852 (64) Dt. Ärztebl. 87, Heft 48, 29. November 1990
Abbildung 6:
„Froschbauch" durch erheblichen Aszites und meteoristisch geblähte bauchdek- kennahe Darmschlin- gen bei alkoholtoxi- scher, dekompen- sierter Leberzirrhose („le vent vient avant la pluie")
wie im Fall der genannten chirurgi- schen Krankheitsbilder — die Darm- passage ebenfalls behindert ist, wo- bei sich die bakterielle Gasbildung (Nahrungsreste) im betroffenen Seg- ment zusätzlich negativ auswirkt.
Im Rahmen eines derartigen Krankheitsgeschehens, aber auch beim paralytischen Ileus, führt spä- ter eine Atonie der Darmwand zu- dem zur Senkung der Gas-Partial- drucke im Lumen, so daß die Mög- lichkeit einer Diffusion vom Gewebe in das Lumen als zusätzlicher patho- genetischer Faktor für den lokalen Meteorismus diskutiert wird. Bei der chronischen intestinalen Pseudo- obstruktion besteht primär eine (neurogene oder myogene) Passage- behinderung; der Meteorismus kann hier — wie im Fall der Abbildung 5
—dramatische Ausmaße annehmen und indiziert dann mitunter eine akute chirurgische Intervention.
Abbildung 5: Massiv geblähte Dünn- und Dickdarmschlingen bei einem 38jährigen Patienten mit ausge- prägtem Meteoris- mus seit über einem Jahr. Klinisch (Ver- lauf), manometrisch und operativ bestä- tigte chronisch inte- stinale Pseu- deoobstruktion (pri- märe Form). Wegen dramatischer Be- schwerdesymptoma- tik in Verbindung mit einem Anstieg der Kreatin-Kinase (CK) als Ausdruck der Dannwandschädi- gung wurde die An- lage eines doppel- läufigen Anus praeter erforderlich. Der Pa- tient bedarf seit ei- nem Jahr kontinuierli- cher parenteraler Er- nährung
5. Diagnostik
Die Ziele der Diagnostik bei Pa- tienten mit Meteorismus lassen sich charakterisieren als
1. Zuordnung von Beschwerden und Befund zu intestinalen bezie- hungsweise extraintestinalen organi- schen Ursachen vermehrter Gasbil- dung respektive zum Symptomen- komplex funktioneller Beschwerden.
2. Erfassung oder Ausschluß or- ganischer Grunderkrankungen unter den Aspekten therapeutischer Kon- sequenzen und Dringlichkeit.
3. Erkennen von Verhaltensstö- rungen.
Entsprechend dem Spektrum der wesentlichen, zum Auftreten von Meteorismus beitragenden Umstän- de, Störungen und Erkrankungen sollten diagnostische Maßnahmen (Tabelle 3) gezielt eingesetzt werden.
Die Differentialdiagnose umfaßt da- bei so heterogene Erkrankungen wie funktionelle Beschwerden ohne Darmgasvermehrung beim irritablen Kolon, Malabsorptionssyndrome, chronische intestinale Pseudoob- struktion, Leberzirrhose, Meteoris- mus bei Angina abdominalis, Herz- insuffizienz und Kolonkarzinom oder diätetisch verursachte Be- schwerden.
Die Indikation zu einer weiter- gehenden Diagnostik (Ösophagoga- stroduodenoskopie mit tiefer Duo- denalbiopsie, Enteroklysma nach Sellink, hohe Koloskopie, Funktions- prüfungen, Motilitätsuntersuchun- gen) wird daher in entscheidendem Maße von allgemeinen klinischen, nicht schematisierbaren, für Arzt und Patient individuellen Erwägun- gen geleitet. Dabei gilt nach wie vor, daß neu auftretende Beschwerden oder ein Symptomwechsel besondere Aufmerksamkeit verlangen, anderer- seits aber weder eine pittoreske Schilderung des Beschwerdebildes noch langjährige ärztliche „Kennt- nis" der geklagten Beschwerden bei einem Patienten eine unter Umstän- den gravierende organische Ätiolo- gie des Meteorismus ausschließen.
6. Therapeutische Konsequenzen
Den unterschiedlichen ätiologi- schen Gesichtspunkten entspricht ei- ne Vielzahl therapeutischer Emp- fehlungen
zur Verminderung gasbe-
dingter Beschwerden. Für Patienten mit Meteorismus im Rahmen funk- tioneller Beschwerden stellen das Ernstnehmen der Symptome, die Dt. Ärztebl. 87, Heft 48, 29. November 1990 (65) A-3853
sorgfältige Diagnostik und das erläu- ternde Gespräch mit dem Arzt häu- fig, aber leider nicht immer, bereits die entscheidende therapeutische Maßnahme dar.
Empfohlene Allgemeinmaßnah- men ohne gesicherte Wirkung bei Patienten mit erkennbarer verstärk- ter Darmgasansammlung umfassen die Vermeidung stark blähender Speisen und begaster Getränke, Be- wegung und abdominelle Wärmean- wendung. Ursachen vermehrten Luftschluckens werden neben situa- tiven, psychischen Reaktionen auf Spannung, Angst oder Schmerzen in hastigem Essen und Trinken, Kau- gummikauen, Bonbonlutschen und starkem Rauchen gesehen; diese können durch Verhaltensänderun- gen beeinflußt werden.
Karminativa (Extrakte volatiler Öle), wie sie in Zimt, Nelke, Ingwer, Kümmel und Pfefferminze enthalten sind, sollen das Aufstoßen erleich- tern und — ebenso wie Alkohol („Di- gestif") — die Gasresorption durch ei- ne Hyperämie fördern. Diese Vor- stellungen sind, abgesehen von einer Erschlaffung des unteren Ösopha- gussphinkters nach Pfefferminzöl- Gabe, nicht experimentell belegt, ha- ben aber zum Teil Eingang in Kü- chentraditionen gefunden; so stellt zum Beispiel Kümmel einen häufi- gen Bestandteil von Kohlspeisen dar.
Carl Anton Ewald (1910) äußert über die „ganze Sippe der Carmina- tiva": „Bei der Wertschätzung der Carminativa ist wohl stets der Wunsch der Vater des Gedankens gewesen" (6). Unbewiesen ist auch die Gabe von Adsorbentien (Kohle, Kaolin, Kreide) oder Antazida. Na- triumbikarbonat wird unter anderem wegen der starken CO 2-Entwicklung nicht mehr eingesetzt.
Oberflächenaktive Substanzen wie Methylpolysiloxan führen zur Bildung größerer Luftblasen, die ra- scher eliminiert werden sollen; die Wirksamkeit dieser symptomati- schen Maßnahme wird unterschied- lich beurteilt (5). Bei Meteorismus aufgrund experimenteller Kohlenhy- drat-Malabsorption erwies sich die Gabe von Dimethylpolysiloxan nicht als ausreichend effektiv. Die Elimi- nation von Gas soll durch Metoclo- pramid beschleunigt werden, das
auch in Kombination mit Dimethyl- polysiloxan gegeben wird; diese Kombination mit einem motilitäts- fördernden Prinzip erscheint insbe- sondere vor dem Hintergrund des eingangs beschriebenen duodeno- gastrischen Refluxes sinnvoll.
Die bakterielle Gasbildung kann durch Substratentzug (Elementar- diät; sogenannte „Astronautenkost") oder Antibiotika reduziert werden.
Beide Verfahren spielen für prak- tisch-therapeutische Überlegungen zur symptomatischen Therapie des Meteorismus kaum eine Rolle. Die intestinale Gasbildung bei der Koh- lenhydratmalabsorption läßt sich durch Elimination des nicht resor- bierten Zuckers aus der Diät verhin- dern. In sehr seltenen Fällen kann eine adaptative Anpassung der Ko- lonflora auch zu verstärkter Gasbil- dung nach anderen Speisen führen, so daß ein individuelles Austesten verträglicher Speisen erforderlich sein kann (25).
Als diagnostisches und thera- peutisches Problem für Patient und Arzt ist das Symptom Meteorismus so alt wie die medizinische Literatur.
Das Corpus hippocraticum widmet den Darmgasen eine ganze Vorle- sung unter dem Titel „die Winde".
Carl Anton Ewald, Vorsitzender der ersten Tagung der Deutschen Ge- sellschaft für Verdauungs- und Stoff- wechselkrankheiten vor 75 Jahren, und R. Schoen (23) haben sich kli- nisch-wissenschaftlich beziehungs- weise experimentell mit dem Meteo- rismus auseinandergesetzt; in der ak- tuellen inländischen, wissenschaftli- chen gastroenterologischen Literatur spielt dieser praxisnahe Themen- komplex trotz ungelöster Fragen je- doch keine Rolle (Tabelle 4); — war- um eigentlich?
Die Zahlen in Klammem beziehen sich auf das Literatunerzeichnis im Sonder- druck, anzufordern über den Verfasser.
Anschrift des Verfassers:
Privatdozent
Dr. med. Bernhard Lembcke, Oberarzt
Zentrum der Inneren Medizin Abteilung Gastroenterologie Klinikum der Universität Theodor-Stern-Kai 7
W-6000 Frankfurt am Main 70
FÜR SIE REFERIERT
a-Fetoprotein auch bei
chronischer
Hepatitis erhöht
a-Fetoprotein gilt als zuverlässi- ger Tumormarker zum Nachweis ei- nes hepatozellulären Karzinoms, zum Beispiel bei Patienten mit einer Leberzirrhose. Zwar findet sich eine Erhöhung der AFP-Werte auch bei akuter und chronischer Hepatitis wie bei der Leberzirrhose, doch erlaubt die Höhe der AFP-Spiegel in der Regel eine Differenzierung.
Die Autoren von den National Institutes of Health in Bethesda führten eine retrospektive Auswer- tung der AFP-Werte bei 166 Patien- ten mit chronischer B-Hepatitis durch, die bis zu acht Jahre lang nachbeobachtet wurden. 22 Patien- ten wiesen insgesamt 29 Episoden ei- ner AFP-Erhöhung auf. In 25 Fällen lag gleichzeitig eine Exazerbation der Grundkrankheit vor, bei elf kam es anschließend zu einer Serokon- version des HBeAg und zu einer Re- mission der Krankheit, bei zwei Pa- tienten fand sich schließlich doch ein hepatozelluläres Karzinom. Erhöhte AFP-Spiegel führten häufiger zu Zirrhose, Tod im Leberversagen und hepatozellulärem Karzinom; in der Mehrzahl der Fälle ist jedoch der AFP-Anstieg Ausdruck einer Exa- zerbation der chronischen B-Hepati- tis mit oder ohne Verlust des HBeAg.
Bisceglie, A. M., J. H. Hoofnagle: Elevati- ons in serum alpha-fetoprotein levels in patients with chronic B-hepatitis. Cancer 64: 2117-2120, 1989.
Liver Diseases Section, Digestive Disease Branch, National Institute of Diabetes and Digestive and Kidney Diseases, National Institutes of Health, Bethesda, MD 20892, USA.
A-3856 (68) Dt. Ärztebl. 87, Heft 48, 29. November 1990