V A R I A
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A1700 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 24⏐⏐16. Juni 2006
Die Rechtsprechung des Bun- desgerichtshofs (BGH), die den Anspruch von Patienten auf Einsicht in ihre Kranken- unterlagen grundsätzlich auf objektive Befunde beschränkt und einen so genannten the- rapeutischen Vorbehalt aner- kannt hat, kann im Einzelfall nicht anwendbar sein. Im ent- schiedenen Fall gilt dies, weil es hier nicht um ein privat- rechtliches Arzt-Patienten- Verhältnis ging, sondern um die Reichweite des Informati- onsanspruchs eines im Maß- regelvollzug Untergebrach- ten (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 9. Januar 2006, Az.: 2 BvR 443/02).
Der Kläger wurde 1990 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe ver- urteilt. Gemäß § 63 Strafge- setzbuch wurde seine Unter- bringung im Maßregelvollzug angeordnet. In dem psychiatri-
schen Krankenhaus, in dem er sich befand, wurden ihm zuvor genehmigte Vollzugslockerun- gen, wie Ausgänge und Urlau- be, widerrufen. Um die Gründe dafür nachvollziehen zu kön- nen und um zu prüfen, inwie- weit es in den letzten Jahren Therapieerfolge gegeben hat- te, bat die Verteidigerin des Klägers um Einsicht in die voll- ständigen Krankenunterlagen.
Dies wurde ihr von der Klinik mit dem Hinweis verweigert, man könne nur die „harten“
Fakten wie objektive Befunde (EEG, EKG, Labordaten) zur Verfügung stellen, nicht aber die in der Dokumentation ent- haltenen subjektiven Einschät- zungen,Arbeitshypothesen und diagnostischen Überlegungen, die auch auf das Verhalten an- derer Patienten und auf inter- ne Angelegenheiten des Hau- ses Bezug nähmen.
Nach der Rechtsprechung hat auch der in einem psych- iatrischen Krankenhaus Un- tergebrachte grundsätzlich ein Recht auf Einsicht in die Kran- kenunterlagen, jedoch nicht un- beschränkt. So bleibt nach An- sicht des BGH die Entschei- dung darüber, ob therapeuti- sche Bedenken gegen eine un- eingeschränkte Akteneinsicht bestehen, dem Arzt überlas- sen. Die Verfassungsbeschwer- de des Klägers war nach Auf- fassung des Bundesverfas- sungsgerichts aber begründet, da der Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf in- formationsbezogene Selbstbe- stimmung und personale Wür- de gemäß Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Ab- satz 1 Grundgesetz verletzt sei.
In einem Bereich, der wie der Maßregelvollzug durch ein besonders hohes Macht- gefälle zwischen den Beteilig- ten geprägt ist, seien die Grundrechte der Betroffenen naturgemäß besonderer Ge- fährdung ausgesetzt. Nur durch Akteneinsicht habe der Be-
troffene die Möglichkeit, sei- nen Anspruch auf Löschung oder Berichtigung falscher In- formationen durchzusetzen.
Der Zugang zu diesen Unter- lagen hat zudem Bedeutung für die Effektivität des Recht- schutzes in Vollzugs- und Vollstreckungsangelegenhei- ten. Persönlichkeitsrechte der Therapeuten könnten dage- gen hinreichend dadurch ge- schützt werden, dass diese die Dokumentation in den Akten beschränken könnten.
Soweit jedoch rechtliche Ge- sichtspunkte der Gewährung vollständiger Akteneinsicht (Probleme möglicher Vortäu- schung eines Krankheitszu- standes) entgegenstünden, ist nach Auffassung des Gerichts zu prüfen, ob eine weiter- gehende als die seitens der Klinik zugestandene Einsicht nicht durch Herausnahme oder Schwärzung von Akten- bestandteilen möglich ge- macht werden kann. (Bundes- verfassungsgericht, Beschluss vom 9. Januar 2006, Az.: 2
BvR 443/02) Be
Verlangen nach Akteneinsicht
Im Maßregelvollzug sind besondere Abwägungen geboten.
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