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Archiv "Von der Züchtung zur Gentechnologie: Wie Medizin und Gentechnik auf das Erbgut einwirken" (24.11.1988)

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arztzentriert" sein (ein für viele Ärzte unzutref- fender Vorwurf!). Einer der führenden amerika- nischen Medizintheoretiker, Engel, hat sein bio- medizinisches Konzept (3) abgelöst durch ein

„biopsychosoziales" (4) Krankheitsmodell.

3. Illness

Illness ist nach der überwiegenden Meinung der Literatur das, worunter der Kranke leidet.

Wir haben im Deutschen den ausgezeichneten Ausdruck „Leiden". Wir müssen ihn nur meta- phorisch verändern von der häufigen Vorstel- lung einer chronischen, mehr oder minder bela- stenden Krankheit zum rein subjektiven Erle- ben, akut oder chronisch. Dann würden wir uns auch in vollständiger oder doch weitgehender Übereinstimmung mit dem englischen Wortsinn befinden. Nach Barondess (1) ist „illness" kein biologisches, sondern ein anthropologisches Phänomen. Es besteht aus einem Mißverhältnis zwischen der Person und ihrem inneren bezie- hungsweise äußeren Milieu. Der Prozeß des Verstehens der Bedeutung von „illness" ist da- her nicht wissenschaftlich im konventionellen Sinn (16).

Van der Steen und Thung (15) schätzen, daß fünfzig Prozent aller Krankheiten aus solchen Mißverhältnissen bestehen, deren Grundlage einerseits eine Krankheit im Sinne von „dis- ease" sein kann, andererseits existentielle Pro- blem sein können (15). Das deckt sich weitge- hend mit meinen Erfahrungen in einer internisti- schen Sprechstunde: zwanzig bis dreißig Prozent der Zugänge hatten nachweisbare organische Struktur- oder Funktionsstörungen, weitere fünfzig Prozent Verbindungen mit leichten — für andere Menschen subjektiv bedeutungslosen — organischen Veränderungen, der Rest war rein psychsomatisch. Selbstverständlich ist das Ver- hältnis in den Kliniken und Krankenhäusern an- ders, fast umgekehrt. Die Ursache ist eine Art von „Vorsortierung" . Auch diese Kranken kön- nen unter ihrer (objektivierbaren) Krankheit mehr oder minder leiden: Die Reihenfolge ist dann somato-psychisch.

Es ist von größter Wichtigkeit, diese Zusam- menhänge nicht nur im Prinzip zu kennen (was für die meisten Ärzte auch zutrifft), sondern auch auf den einzelnen anzuwenden (was viel- fach in der Hektik des Krankenhaus- oder Pra- xisbetriebes unterlassen wird). Dies erfordert Zeit, Einfühlungsvermögen, Empathie. Man muß einen Teil davon mit auf Welt bringen, um zum Arzt berufen zu sein, den Rest in ständiger Übung vertiefen. Auch in England sollen die überwiegend von erfahrenen Klinikern, Spezia-

listen oder Subspezialisten ihres Faches getrage- nen, „disease"-orientierten Fortbildungen überwiegen, die „illness"-orientierten zu kurz kommen (1). Schon Max Bürger sagte: „Wir ha- ben viele Spezialisten für Herzleiden, aber nur wenige für Herzeleid" (zitiert bei 6).

4. Synthesen

Ein Entweder-Oder-Standpunkt ist unreali- stisch. Es lassen sich aber Schwerpunkte setzen, etwa in der folgenden Einteilung:

• Organische Krankheit ohne Kenntnis oder Leidensdruck;

• organische Krankheit mit Leidensdruck,

• keine organische Krankheit, aber Leiden.

Ausbildung, Fortbildung, Anwendung soll- ten — unter Betonung der jeweils dominanten Seite — das „Sowohl — als auch" herausheben.

Die seit der Schule von Kos und der Schule von Knidos fortbestehende Alternative (6): „Es gibt nur Kranke — es gibt nur Krankheiten" könnte in unseren Tagen ihre Auflösung finden, indem eine Vielzahl von Ärzten sich beiden Aspekten des Krankseins zuwendet: dem naturwissen- schaftlichen und dem anthropologischen.

Literatur

1. Barondess, J. A.: Disease and Illness — a crucial distinction.

Am. J. Med. 66 (1976) 375

2. Caplan, A.; Engelhardt, H. T.; Cartney, J. J. (Edit.): Con- cepts of Health and Disease. London, Addison-Wesley, 1981 3. Engel, G. L.: The need for a new model: a challenge for bio-

medicine. Science 196 (1977) 129

4. engel, G. L.: The clinical application of the biopsychosocial model. J. Med. Philos. 6 (1981) 101

5. Feinstein, A. R.: Clinical judgement. Baltimore, William and Wilkins, 1967

6. Gross, R.: Medizinische Diagnostik, Berlin, Springer 1969 7. Gross, R.: Kranke, Krankheiten und Syndrome. E. W. Baa-

der Gedächtnisvorlesung, Verh. Dtsch. Ges. Arbeitsmed. 1 (1987) 25

8. Gross, R.: Kausalität und Finalität in der Medizin. Med.

Welt. 37 (1986) 1044

9. Gross, R.; Wichmann, H. E: Was ist eigentlich normal? Med.

Welt 30 (1979) 2

10. Jacob, W.: Kranksein und Krankheit, Heidelberg, Hulthig, 1978

11. Kräupl-Taylor, F.: The concepts of illness, disease and mor- bus. Cambridge Univ. Press 1979

12. Kuhn, Th. S.: The structure of scientific revolution, in: Intern.

Eccycloped of Unilied Science, Univ. of Chicago Press, 1970 13. Rothschuh, K. E.: Was ist Krankheit? Darmstadt, Wissensch.

Verlagsges. 1975

14. Rothschuh, K. E.: Naturheilbewegung, Reformbewegung, Alternativbewegung. Stuttgart, Hippokrates, 1983

15. Van der Steen, W. J.; Thung, P. J.: Faces of Medicine, Dord- recht, Holland, Kluwer 1988

16. McWhinney, I. R.: Are we an the blink of a major transfor- mation of clinical method? Cmaj Vol. 135 (1986) 873

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Dr. h. c. Rudolf Gross Herbert-Lewin-Straße 5

5000 Köln 41 A-3352 (60) Dt. Ärztebl. 85, Heft 47, 24. November 1988

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DEUTSCHES

ÄRZTEBLATT

DAS FORUM

Qeit einiger Zeit werden die Ge- müter durch die Probleme der Gentechnik nicht minder erregt als durch die der Kerntechnik. In der Tat haben die zwei einiges gemein- sam, schon weil es bei der einen um den Kern der lebenden Zelle geht, bei der anderen um den Kern des Atoms. Auch eine praktische Aus- wirkung hat die Spaltung des Atom- kerns auf den Zellkern, denn die Strahlen, die dabei entstehen, erzeu- gen in den Genen des Zellkerns erbliche Veränderungen, und das sind oft unerwünschte Mutationen.

Wenn jetzt die Gentechnik so heftig diskutiert wird, geht es jedoch zu- meist um die Möglichkeiten der Übertragung von Genen aus einer Tier- oder Pflanzenart in eine ande- re, um das Erbgut solcherart gezielt zu verändern. Und man diskutiert auch schon die vorläufig noch nicht realisierbare Möglichkeit, sonst nicht vorhandene Gene in das menschliche Erbgut einzuimpfen.

Bei der einen oder anderen Tier-, Pflanzen- und Bakterienart ist das Einimpfen fremder Gene schon gelungen. Warum steht man dem so kritisch gegenüber ? Wer solche Ein- griffe in die genetische Konstitution einer Art verurteilt, stützt sich vor allem auf das Argument, dadurch werde die natürliche Evolution der Art zunichte gemacht, und man kön- ne nicht vorhersehen, wie ein sol- cherart verändertes Lebewesen, ob Tier oder Pflanze oder Bakterium, die Umwelt beeinflussen werde.

Es ist richtig, daß nicht voraus- gesagt werden kann, wie sich die Entstehung und Verbreitung neuar- tiger Geschöpfe auf das gesamte Okosystem auswirken wird. Das gilt aber auch für die Veränderungen, die auf andere Weise als auf gen- technologischem Wege durch den Menschen in unzähligen Arten her- vorgerufen wurden.

In allen Arten, auch im Men- schen selbst, entstehen nämlich dau- ernd Veränderungen im Erbgut, al- so genetische Mutationen, und seit Anbeginn seiner kulturellen Ent- wicklung hat der Mensch in den Tie- ren und Pflanzen, die er domesti- zierte, diese Mutanten gezüchtet und damit die Arten nach seinem Geschmack und Gutdünken verän- dert. Man braucht bldß all die Hun- derassen zu betrachten, die ganz oh- ne Gentechnik entstanden sind. Ihre Entstehung ist der spontanen Muta- tion zuzuschreiben und dann der Kreuzung verschiedener Mutanten durch menschliche Zuchtwahl. Wöl- fe, auf die alle unsere Hunde ur- sprünglich zurückzuführen sind, gibt es in den meisten Ländern nicht mehr. Aber die Doggen und Dachs- hunde und Pekinesen und Pudel und so weiter und so fort sind um uns herum, und wir pflegen und vermeh- ren diese Tiere, die ihre Existenz al- lein dem Menschen verdanken

Um konsequent zu sein, müßten die Gegner einer durch Gentechno- logie hervorgerufenen Veränderung auch eine durch Züchtung hervorge- rufene Veränderung bekämpfen.

Derart konsequente Gegner allen menschlichen Eingreifens in die na- türliche Evolution gibt es tatsäch- lich, aber sie werden verständlicher- weise ignoriert, weil eine Umwelt, in die der Mensch nicht dauernd ein- greift, gar nicht mehr vorstellbar ist.

Was hier für die Hunde gesagt wur- de, gilt ja ebenso für alle anderen Haustiere, ob Katzen oder Hühner oder Schweine oder Rinder oder Schafe mit all deren verschiedenen Rassen, und fast alle sind entstan- den, bevor die Genetik in diesem Jahrhundert eine so ausschlaggeben- de exakte biologische Wissenschaft wurde. Auch die meisten Spielarten in allem Gemüse und Obst und Ge- treide, womit wir uns täglich ernäh- ren, sind vorher entstanden. Und das gleiche gilt für die Bakterien und Hefen und Pilze, die wir in vielerlei Variationen allerlei Zwecken zufüh- ren, ob wir Joghurt oder Brot essen oder Bier oder Wein trinken oder uns mit Penizillin oder anderen An- tibiotika kurieren. Und nicht anders ist es bei all den Blumen, die wir in unseren Gärten hegen. Zwar gibt es all dies dank Eingreifens des Men- schen, aber nichts von alledem ist durch Gentechnik entstanden, es sei denn, man gibt dem, was wir bisher Züchtung nannten, einen neuen Na- men. Jedoch sollte man unter Gen- technik oder Gentechnologie nur die Genübertragung verstehen, die nicht durch Befruchtung zustande kommt, sondern durch Einimpfung.

Genaueres darüber, wie diese Ein- impfung bewerkstelligt werden kann, ist nachzulesen in dem zusam- menfassenden Bericht von Walter Doerfler: „Grundlagen und Anwen- dung der Gentechnologie", Deut- sches Ärzteblatt (1980) 1021-1029.

Bei der Diskussion um die Gen- technologie muß man sich jedenfalls darüber im klaren sein, daß die Er- schaffung neuartiger Lebewesen durch eine Einpflanzung fremder Gene nur einen Bruchteil dessen ausmachen kann, was der Mensch auf andere Weise seit Jahrtausenden getan hat und womit er fast die gan-

Von der Züchtung zur Gentechnologie

Wie Medizin und

Gentechnik auf das Erbgut einwirken

Klaus Mampell

I Vom Wolf zum Pekinesen

Dt. Ärztebl. 85, Heft 47, 24. November 1988 (65) A-3353

(3)

ze Erde verändert hat und weiter verändert, ohne vorher zu wissen, ob es auf die Dauer Veränderungen zum Guten oder zum Schlechten sind. Man hat sich immer nur da- nach gerichtet, was gleich von Vor- teil war, und dabei nicht vorausse- hen können, ob sich daraus auch einmal ein Nachteil ergeben würde.

I Segen Katastrophen und

Nehmen wir als Beispiel einmal unser Verhältnis zu einer Pflanze, die nicht durch Gentechnologie, sondern durch Züchtung erschaffen wurde: Der Mais ist das genetisch besterforschte Lebewesen neben dem Menschen und der Taufliege Drosophila. Im Mais gibt es mehr genau bekannte Gene und Variatio- nen als in irgendeiner anderen Pflan- ze. Der Mais wurde von den India- nern schon vor zehntausend Jahren als Kulturpflanze angebaut, und es gibt den Mais überhaupt nur in Ver- bindung mit dem Menschen; man findet ihn nirgends in der Natur, und von welchen wild wachsenden Pflan- zen er ursprünglich abstammt, läßt sich nicht mehr bestimmen. Durch die Entdeckung Amerikas wurde der Mais den Europäern bekannt und auch in Europa kultiviert, und er verbreitet sich weiter über die an- deren Kontinente. Das verändert unsere Ernährung und die Ernäh- rung unserer domestizierten Tiere.

Zum Beispiel enthält das Maispro- tein nicht die Aminosäure Tyrosin wie das Weizenprotein, und das mag Folgen haben auch in medizinisch- diätetischer Hinsicht. Diese lassen sich aber jetzt noch nicht erkennen.

Was für den Mais gilt, das gilt ähnlich für andere Kulturpflanzen, die uns seit der Entdeckung Ameri- kas bekannt geworden sind, also Ge- müsepflanzen wie Kartoffeln, Boh- nen, Tomaten, Kürbisse, Paprika, Erdnüsse, Ölpflanzen wie Sonnen- blumen, Früchte wie Avocados und Ananas, Genußmittelpflanzen wie Kakao und Tabak. Hier geht es nicht nur darum, wie die letztge- nannte Pflanze, also der Tabak, schließlich die Gesundheit der Be- völkerung stark beeinträchtigte und

dadurch für die Medizin zu großen Problemen führte, sondern einige dieser Pflanzen veränderten auch im einen oder anderen Land die Ernäh- rung der Bevölkerung, so daß bei- spielsweise in Irland, wo die Kartof- fel schon früh eingeführt wurde, die Landwirtschaft großenteils auf de- ren Anbau umgestellt wurde. Das war von großem Vorteil für die Er- nährung der irischen Bevölkerung, bis Mitte des vorigen Jahrhunderts die Kartoffelkrankheit die Ernten vernichtete. Dadurch brach in Irland eine Hungersnot aus, welche die Be- völkerung dezimierte, und viele Iren flüchteten vor dem Hunger nach Amerika, woher die Kartoffel ur- sprünglich kam. Dieses Beispiel zeigt, wie segensreich der Anbau ei- ner neuartigen Kulturpflanze sein kann und wie sich dergleichen un- vorhersehbar in einen Fluch verwan- deln kann Und diese ohne Gentech- nik hervorgerufene irische Katastro- phe erforderte viel mehr Opfer als beispielsweise die durch Kerntech- nik hervorgerufene Katastrophe von Tschernobyl.

Könnte es nun durch die Gen- technik zu einer noch größeren Ka- tastrophe kommen? — Da wir das nicht wissen können, mögen den gentechnischen Methoden in einem Land gesetzliche Grenzen gesetzt werden, aber in einem anderen Land wird das nicht so sein, und was hier nicht getan werden darf, das wird dort mit Sicherheit getan wer- den. Wir können die technologische Entwicklung nicht aufhalten, auch die gentechnologische nicht, wie wir insgesamt die Forschung in der Ge- netik oder in irgendeiner anderen Wissenschaft nicht aufhalten kön- nen. Als zum ersten Mal gezeigt wurde — und das ist nun Jahrzehnte her —, daß Gene nicht nur durch den Zellkern des Ovums und des Sper- miums übertragen werden, sondern daß sie wie ein Virus durch Anstek- kung von einem Individuum in ein anderes und von einer Spezies in ei- ne andere gelangen können (Klaus Mampell: „Genie und nongenic transmission of mutator activity", Genetics [1946] 31: 589-597), war nicht vorauszusehen, daß einmal be- stimmte Gene aus einer Spezies iso- liert und in eine andere eingeimpft

und da zur Vermehrung gebracht würden, wie das inzwischen in der pharmazeutischen Industrie zur Routine geworden ist.

Kern- und Plasmagene

Wohlgemerkt, bei dieser Routi- ne handelt es sich um eine Übertra- gung beispielsweise des Insulinmole- küls in das Bakterium Escherichia coli, in welchem das Insulin sich dann wie ein Virus vermehrt, so daß es besonders bei Menschen einge- setzt werden kann, die an erblichem Diabetes mellitus leiden, die also das Gen, welches für die normale In- sulinproduktion im Körper verant- wortlich ist, in ihrem Erbgut nicht haben. Nach wie vor aber wird die- ses Insulin nur als Medikament zu- geführt, ohne daß man dabei erwar- tet, es könne das Erbgut der Betrof- fenen verändern. Es ist zwar mög- lich geworden, Gene aus einem Zell- kern herauszusezieren, aber sie in einen Zellkern einzupflanzen, das heißt, sie in einen DNS-Strang ein- zukitten, ist allenfalls vorstellbar, aber noch nicht möglich. Allerdings muß bei der Erwägung einer geziel- ten Veränderung des Erbgutes be- rücksichtigt werden, daß es nicht nur die in den Chromosomen befind- lichen Kerngene gibt, sondern auch Plasmagene, nämlich Partikeln au- ßerhalb des Zellkerns, deren Ver- mehrung nicht von den Kerngenen gesteuert wird, und diese Plasmage- ne werden sowohl durch das Ovum als auch durch das Spermium ver- erbt. Das Zytoplasma ist äußeren Einflüssen viel zugänglicher als der Kern. Die Kerngene aber drücken sich bei einem veränderten Plasma anders aus, und es konnte gezeigt werden, daß dieser veränderte Aus- druck von Generation zu Genera- tion fortbesteht (Klaus Mampell:

„Differentiation and extragenic transmission of modified gene ex- pression" , Genetica [1968] 39:

553-566). Es ist also auch vorstell- bar, daß eingeimpfte Kerngene sich an Plasmapartikeln anhängen wie an die Plasmiden in Escherichia coli, um wie Viren im Plasma vermehrt und durch die Keimzellen vererbt zu werden.

A-3354 (66) Dt. Ärztebl. 85, Heft 47, 24. November 1988

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Ob das Erbgut nun auf die eine oder auf die andere Weise früher oder später manipuliert werden kann, es wird jetzt schon die Frage gestellt: Darf sich die Medizin über- haupt das Ziel setzen, das Erbgut zu verändern, auch wenn es dabei um die schlimmsten Erbkrankheiten geht? Bei der Beantwortung dieser Frage muß man sich vergegenwärti- gen, daß die Medizin schon längst auf das Erbgut der Bevölkerung ei- nen starken Einfluß nimmt Es wer- den ja immer mehr Kinder, die vor- mals wegen einer angeborenen Schwäche eines frühen Todes star- ben, nun durch medizinische Be- treuung am Leben erhalten, und da- bei geht es zunehmend um eine Kompensation für allerlei Erbkrank- heiten. In der Bevölkerung steigt deshalb die Zahl derjenigen, die mit einer Erbkrankheit behaftet sind, fortwährend an, und es ist kaum möglich, gegen diese Tendenz anzu- gehen.

Wie entstehen Erbkrankheiten?

— Die Gene in unserem Erbgut kön- nen sich plötzlich verändern. Eine solche Veränderung oder Mutation führt meistens zu einem Zustand, der sich als Krankheit ausdrückt.

Beispielsweise kann das normale Gen, welches für die Erzeugung des Fibrins im Blut verantwortlich ist, zum anomalen Zustand mutieren, wodurch das Fibrin nicht mehr gebil- det wird, so daß eine kleine Verlet- zung durch nachfolgende Verblu- tung zum Tode führen kann. Wenn ein solcherart mutiertes Gen durch das Ovum an ein Kind männlichen Geschlechts vererbt wird, dann lei- det dieses unter der Hämophilie.

Solche Mutationen normaler Gene zum anomalen Zustand treten in der Bevölkerung mit einer bestimmten Häufigkeit auf. Sie können einen je- den betreffen, also die Eizellen einer jeden Frau oder die Samenzellen ei- nes jeden Mannes Die Häufigkeit der Mutation wird zwar erhöht durch Bestrahlung, also auch durch Strahlen, die von Kernkraftwerken ausgehen wie bei dem Unfall von Tschernobyl, aber die Mutations- häufigkeit wird auch durch eine Vielzahl von Chemikalien erhöht, und allgemein läßt sich sagen, daß alles, was karzinogen ist, auch muta-

gen ist. Doch selbst ohne jeden äu- ßeren Einfluß kommt es im Erbgut gelegentlich zu Mutationen, und verhindern läßt sich diese spontane Mutation nicht.

Mutationen sind nicht unbe- dingt schädlich, aber die meisten sind letal oder subletal, das heißt, ein solches Gen kann schon in einem frühen Stadium der Entwicklung tödlich wirken, so daß bereits der Embryo oder der Fetus stirbt und daß es zu einer Totgeburt kommt, oder es kann in den ersten Monaten oder Jahren nach der Geburt zum Tode führen. Jedoch werden nun immer mehr solcher Krankheiten, die sich nach der Geburt entwickeln, medizinisch erfolgreich behandelt, und hierfür gibt es unzählige Bei- spiele. Um hier nur eines zu nennen, bei dem es sich um eine Erbkrank- heit handelt, die mit bekannter Häu- figkeit in der Bevölkerung auftritt:

die Mukoviszidose, die einem rezes- siven Gen zuzuschreiben ist. Ohne medizinische Behandlung beträgt die durchschnittliche Lebenserwar- tung um die sieben Monate. Mit ent- sprechender Behandlung, die so gro- ße Probleme für die Eltern wie für die Kinder aufwirft, kann die Le- benserwartung zwanzig Jahre und auch mehr betragen, so daß die Be- troffenen nach Erreichung der Ge- schlechtsreife das Gen weiter ver- breiten können. Um das zu vermei- den, kann man zwar den homozygo- ten und auch den heterozygoten Genträgern eine Sterilisation nahe- legen, aber die Sterilisation steht in schlechtem Ruf in den meisten Län- dern.

Wir wollen noch ein krasses Bei- spiel für eine letale Mutation anfüh- ren. Es gibt ein Gen, das ein Reti- noblastom erzeugt. Es ist ein domi- nantes Gen, das heißt, wenn ein sol- ches Gen durch Mutation in den männlichen oder weiblichen Keim- zellen entstanden ist und nun an ein Kind vererbt wird, drückt sich dieses Gen so aus, daß das Kind in den er- sten drei Lebensjahren einen Tumor

im Auge entwickelt. Ohne Opera- tion dringt der Tumor ins Gehirn vor, und es kommt zu einem qual- vollen Tod. Wenn das Auge opera- tiv entfernt wird, tritt allenfalls kein weiterer Tumor auf, und das betrof- fene Kind kann einäugig weiterle- ben; allerdings tritt der Tumor in ei- nem Fünftel der Fälle beidseitig auf, so daß es zu völliger Blindheit kommt, weil beide Augen operativ entfernt werden müssen. So oder so wird nun das zeugungsfähige Alter erreicht, und wenn die Betroffenen selber Kinder zeugen, erben die Hälfte ihrer Kinder das Gen und, da es ein dominantes Gen ist, das also in einer Dosis wirksam ist, bekom- men sie ein Retinoblastom. So wird ein letales Gen, das sich sonst durch den Tod der Genträger lange vor dem zeugungsfähigen Alter von sel- ber ausgemerzt hätte, durch die me- dizinische Betreuung erhalten und in der Bevölkerung verbreitet. Jedoch hat die Medizin keine andere Wahl, als so zu handeln. Sie ist dazu ver- pflichtet, Leben zu erhalten, wo im- mer es möglich ist, selbst wenn es dem Erbgut der Bevölkerung scha- det.

Auf diese Weise also trägt die Medizin jetzt und schon seit langem zur Veränderung des Erbgutes der Bevölkerung bei. Es ist eine Ent- wicklung in einer Richtung, und eine Umkehr wäre nur möglich, wenn es uns gelänge, kranke Gene durch ge- sunde zu ersetzen, wie es durch gen- technische Methoden denkbar ge- worden ist. Dann könnte die Medi- zin das Erbgut selbst gesunden las- sen. Aber einstweilen ist die Gen- technik noch nicht auf den Men- schen anwendbar, und wann sie an- gewendet werden kann, ist noch nicht abzusehen. Abzusehen ist vor- läufig nur, daß sich das Erbgut der Bevölkerung dank den Fortschritten der Medizin von Generation zu Ge- neration verschlechtert, und um dem entgegenzuwirken, müssen wir unsere Hoffnung darauf setzen, daß uns die Gentechnik eines Tages zu einer Umkehr dieser Entwicklung verhilft.

Anschrift des Verfassers:

Dr. Klaus Mampell

7997 Immenstaad am Bodensee

I Die Unterdrückung der Selektion

Dt. Ärztebl. 85, Heft 47, 24. November 1988 (69) A-3355

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