Mehrstufige Gefährdungsanalyse
physischer Belastungen am Arbeitsplatz
baua: Bericht
Forschung Projekt F 2333
MEGAPHYS
Mehrstufige Gefährdungsanalyse physischer Belastungen am Arbeitsplatz
Gemeinsamer Abschlussbericht der BAuA und der DGUV
Band 1
1. Auflage 2019 Dortmund/Berlin/Dresden
torinnen und Autoren.
Fachliche Betreuung: FG Prävention arbeitsbedingter Erkrankungen Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin Titelfoto: AndreyPopov/iStock.com
Umschlaggestaltung: Susanne Graul
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doi:10.21934/baua:bericht20190821 (online) www.baua.de/dok/8820522
Kurzreferat Band 1 9
Abstract Volume 1 10
Vorwort 11
1 Einleitung 14
1.1 Ausgangssituation und gesundheitspolitischer Hintergrund zu
physischen Belastungen in der Arbeitswelt 14 Bedeutung der Betrachtung physischer Belastungen in der
1.1.1
Arbeitswelt 14
Angaben zu Häufigkeiten von physischen Belastungen 15 1.1.2
Arbeitsunfähigkeit aufgrund von Muskel-Skelett-Erkrankungen 16 1.1.3
Beziehungen von physischen Belastungen zu Beschwerden und 1.1.4
Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems 19
Zusammenhang zwischen berufsbedingten Belastungen und 1.1.5
Erkrankungshäufigkeiten des Rückens 22
Zusammenhang zwischen berufsbedingten Belastungen und 1.1.6
Erkrankungshäufigkeiten der oberen Extremitäten 25 Zusammenhang zwischen berufsbedingten Belastungen und
1.1.7
Erkrankungshäufigkeiten der unteren Extremitäten 28 Beziehungen von physischen Belastungen zu Beschwerden und
1.1.8
Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems 31
Rechtliche Aspekte der Beurteilung von physischen Belastungen in 1.1.9
der Arbeitswelt 32
1.2 Belastungs-Beanspruchungs-Konzept und Methoden der
Gefährdungsbeurteilung bei physischer Belastung 34 Belastungs-Beanspruchungs-Konzept bei physischen Belastungen 34 1.2.1
Methoden zur Bewertung, Beurteilung und Gestaltung von 1.2.2
physischen Belastungen in der Arbeitswelt 36 1.3 Das Projekt MEGAPHYS: Zielsetzung, Konzepte, Projektpartner und
Arbeitspakete 38
Ziele des Projekts 38
1.3.1
Konzept der Methodenebenen 38
1.3.2
Weiterentwicklung des Methodeninventars 44
1.3.3
Arbeitspakete, Laufzeit, Projektpartner 47
1.3.4
2 Risikokonzept und Arten physischer Belastungen
(Belastungsarten) 51
2.1 Risikokonzept als Grundlage der Beurteilung von Belastungen 51
2.2 Belastungsarten 54
Vorbemerkungen zu Belastungsarten 54
2.2.1
Belastungsart: manuelles Heben, Halten und Tragen von Lasten 55 2.2.2
Belastungsart: Manuelles Ziehen und Schieben von Lasten 59 2.2.3
Belastungsart: Manuelle Arbeitsprozesse 63
2.2.4
Belastungsart: Ganzkörperkräfte 67
2.2.5
Belastungsart: Körperzwangshaltung 72
2.2.6
Belastungsart: Körperfortbewegung 78
2.2.7
3.2 Methodik 81
Durchführung der Erhebung 81
3.2.1
Mitwirkende Unfallversicherungsträger 83
3.2.2
Beschäftigtenzahlen zum Stichtag 30.06.2011 83 3.2.3
Präsentationsreihenfolge 84
3.2.4
3.3 Ergebnisse der Expertenbefragungen 85
Übersicht zur Datenbasis 85
3.3.1
Aufbereitung der Datenbasis 87
3.3.2
Berufsgruppen mit deutlichen Beschäftigtenanteilen bei erhöhten 3.3.3
und/oder stark erhöhten Expositionen 89
Resultierende Berufsgruppenlisten 91
3.3.4
Belastungsart Körperfortbewegung 97
3.3.5
Weitere Auswertungen 98
3.3.6
Beschreibung der Datensätze mit Beispielen für besonders 3.3.7
belastende Tätigkeiten 102
Diskussion der Ergebnisse 103
3.3.8
3.4 Datenbank „Physische Belastungen von Tätigkeiten und Berufen in
Deutschland“ 103
Klassifizierung einer Tätigkeit 105
3.4.1
Dokumentation der Belastungsarten (1. Ebene) 108 3.4.2
Dokumentation der Belastungsarten (2. Ebene) 108 3.4.3
Dokumentation der Belastungsarten (3. Ebene) 109 3.4.4
Datenübernahme 111
3.4.5
Auswertungen 119
3.4.6
4 Konzeption der Methoden des Speziellen Screenings 122
4.1 Methodische Grundlagen 122
Allgemeine Vorbemerkungen zum Entwicklungsprozess der 4.1.1
Leitmerkmalmethoden 122
Entwicklung der Methodenvorentwürfe, Zugrunde gelegte Modelle 4.1.2
und Auswahl der Einflussfaktoren 123
4.2 Methodenentwürfe zur Validierung 125
Aufbau der Bewertungsmöglichkeiten 125
4.2.1
Prinzipien zur Bewertung von Arbeitsplätzen mit ggfs. verschiedenen 4.2.2
Teil-Tätigkeiten 128
Formeller Aufbau 130
4.2.3
Zeitwichtungen in den Leitmerkmalmethoden 131 4.2.4
Berücksichtigung von Geschlecht und Lebensalter in den 4.2.5
Leitmerkmalmethoden 135
Zugrunde gelegte Modelle, Auswahl der Merkmale/Einflussfaktoren 148 4.2.6
4.3 Erprobung der Arbeitsentwürfe der Leitmerkmalmethoden, Stand
2015 152
Vorbemerkungen 152
4.3.1
Fragestellung und Methodik 154
4.3.2
Anwenderkollektiv 154
4.3.3
Eingesetzte Erhebungsmethoden (qualitativ/quantitativ) 155 4.3.4
Ergebnisse 156
4.3.5
Einschätzung der Ergebnisse, Diskussion, Ausblick 159 4.3.6
Vorbemerkungen 161 4.4.1
Spezielles Screening „manuelles Heben, Halten und Tragen von 4.4.2
Lasten“ (Entwurf 2017/2018) 162
Spezielles Screening „manuelles Ziehen und Schieben von Lasten“
4.4.3
(Entwurf 2017/2018) 172
Spezielles Screening „manuelle Arbeitsprozesse“ (Entwurf 4.4.4
2017/2018) 184
Spezielles Screening „Ganzkörperkräfte“ (Entwurf 2017/2018) 195 4.4.5
Spezielles Screening „Körperzwangshaltung“ (Entwurf 2017/2018) 206 4.4.6
Spezielles Screening „Körperfortbewegung“ (Entwurf 2017/2018) 217 4.4.7
4.5 Erweiterte Analyseverfahren (LMM „E-Version“) 229
Zielstellung 229
4.5.1
Anwendungserfahrung LMM-MA „E“ 2011 229
4.5.2
Erläuterung des rechnergestützten erweiterten Analyseverfahren am 4.5.3
Beispiel „Manuelle Arbeitsprozesse“ (LMM-MA-E) 230 Unterschiede in den E-Versionen für die verschiedenen
4.5.4
Belastungsarten 233
5 Bestimmung der Gütekriterien der Methodenentwürfe des
Speziellen Screenings 2017 235
5.1 Evaluierungskonzept für die Methodenebene Spezielles Screening 235
Zielsetzung 235
5.1.1
Fragestellungen 235
5.1.2
Arbeitshypothesen 236
5.1.3
5.2 Konzeption der Feldstudie (Stichprobe & Rekrutierungsstrategie) als Basis für die Bewertung der Kriteriumsvalidität und in Teilen zur der Bewertung der Konvergenzvalidität der Methoden des Speziellen
Screenings 237
5.3 Arbeitsplatzbewertung im Rahmen der Feldstudie mit Hilfe der
Methoden des Speziellen Screenings 240
Spezielles Screening „Manuelle Arbeitsprozesse“ (MA) 243 5.3.1
Spezielles Screening „Manuelles Heben, Halten und Tragen von 5.3.2
Lasten“ (HHT) 248
Spezielles Screening „Körperfortbewegung“ (KB) 266 5.3.3
Spezielles Screening „Manuelles Ziehen und Schieben von Lasten“
5.3.4
(ZS) 270
Spezielles Screening „Ganzkörperkräfte“ (GK) 275 5.3.5
Spezielles Screening „Körperzwangshaltung“ (KH) 282 5.3.6
5.4 Kriteriumsvalidität der Methoden des Speziellen Screenings
(Fragestellung/Arbeitshypothese 1) 295
Fragestellung/Hypothesen 295
5.4.1
Operationalisierung von Fragestellung/Arbeitshypothese 1 296 5.4.2
Methodik der Bewertung der Kriteriumsvalidität 301 5.4.3
Verfügbarkeit der Befragungs- und Untersuchungsdaten 316 5.4.4
Ergebnisse zur Kriteriumsvalidität der LMM-HHT 2017/2018 329 5.4.5
Ergebnisse zur Kriteriumsvalidität der LMM-MA 2017/2018 362 5.4.6
Ergebnisse zur Kriteriumsvalidität der LMM-ZS 2017/2018 391 5.4.7
Ergebnisse zur Kriteriumsvalidität der LMM-KB 2017/2018 422 5.4.8
2017/2018 484 Ergebnisse zur Kriteriumsvalidität der LMM-KH Teil B (Schulter/Arm)
5.4.11
2017/2018 518
Ergebnisse zur Kriteriumsvalidität der LMM-KH Teil C (Knie/Beine) 5.4.12
2017/2018 550
5.5 Konvergenzvalidität der Methoden des Speziellen Screenings
(Fragestellung/Arbeitshypothese 2) 580
Vorbemerkungen 580
5.5.1
Operationalisierung von Fragestellung/Arbeitshypothese 2 581 5.5.2
Testung der Konvergenzvalidität der Leitmerkmalmethode 5.5.3
„manuelles Heben, Halten und Tragen von Lasten“ (Entwurf
2017/2018) 583
Testung der Konvergenzvalidität der Leitmerkmalmethode 5.5.4
„manuelles Ziehen und Schieben von Lasten“ (Entwurf 2017/2018) 604 Testung der Konvergenzvalidität der Leitmerkmalmethode „Manuelle
5.5.5
Arbeitsprozesse“ (Entwurf 2017/2018) 643
Testung der Konvergenzvalidität der Leitmerkmalmethode 5.5.6
„Ganzkörperkräfte“ (Entwurf 2017/2018) 657
Testung der Konvergenzvalidität der Leitmerkmalmethode 5.5.7
„Körperzwangshaltung“ (Entwurf 2017/2018) 658 Testung der Konvergenzvalidität der Leitmerkmalmethode
5.5.8
„Körperfortbewegung“ (Entwurf 2017/2018) 700 5.6 Reliabilität der Methoden des Speziellen Screenings
(Fragestellung/Arbeitshypothese 3) 701
Operationalisierung von Fragestellung/Arbeitshypothese 3 701 5.6.1
Methodik 701
5.6.2
Reliabilitäts-Testung der Leitmerkmalmethode „manuelles Heben, 5.6.3
Halten und Tragen von Lasten“ (Entwurf 2017/2018) 704 Reliabilitäts-Testung der Leitmerkmalmethode „manuelles Ziehen
5.6.4
und Schieben von Lasten“ (Entwurf 2017/2018) 706 Reliabilitäts-Testung der Leitmerkmalmethode „manuelle
5.6.5
Arbeitsprozesse“ (Entwurf 2017/2018) 711
Reliabilitäts-Testung der Leitmerkmalmethode „Ganzkörperkräfte“
5.6.6
(Entwurf 2017/2018) 713
Reliabilitäts-Testung der Leitmerkmalmethode 5.6.7
„Körperzwangshaltung“ (Entwurf 2017/2018) 716 Reliabilitäts-Testung der Leitmerkmalmethode „Körperfortbewegung“
5.6.8
(Entwurf 2017/2018) 720
Einschätzung der Ergebnisse, Diskussion, Ausblick 723 5.6.9
5.7 Objektivität der Methoden des Speziellen Screenings
(Fragestellung/Arbeitshypothese 4) 725
Vorbemerkungen 725
5.7.1
Operationalisierung von Fragestellung/Arbeitshypothese 4 725 5.7.2
Methodik 725
5.7.3
Ergebnisse zur Objektivität der Leitmerkmalmethode „manuelles 5.7.4
Heben, Halten und Tragen von Lasten“ (Entwurf 2017/2018) 726 Ergebnisse zur Objektivität der Leitmerkmalmethode „manuelles
5.7.5
Ziehen und Schieben von Lasten“ (Entwurf 2017/2018) 727
Ergebnisse zur Objektivität der Leitmerkmalmethode 5.7.7
„Ganzkörperkräfte“ (Entwurf 2017/2018) 730
Ergebnisse zur Objektivität der Leitmerkmalmethode 5.7.8
„Körperzwangshaltung“ (Entwurf 2017/2018) 731 Ergebnisse zur Objektivität der Leitmerkmalmethode
5.7.9
„Körperfortbewegung“ (Entwurf 2017/2018) 733 Einschätzung der Ergebnisse, Diskussion, Ausblick 735 5.7.10
5.8 Diskussion der Gütekriterien 736
6 Konzeptentwurf Mischbelastung 2018 für die Ebene Spezielles
Screening 739
6.1 Vorbemerkungen 739
Verwendung der Ergebnisse der LMM-Bewertungen 741 6.1.1
Zusammenwirken verschiedener Belastungsarten – regionale 6.1.2
Beanspruchung 742
6.2 Methodenbeschreibung 743
Konventionen für eine Matrix regionaler Beanspruchungen durch 6.2.1
Mischbelastungen 743
Matrix des Zusammenwirkens der Belastungen 744 6.2.2
Basisbelastung und Mischbelastung 744
6.2.3
Zuschlag weiterer Belastungen – Kombinationsstärke 744 6.2.4
Zeitlicher Geltungsbereich der Bewertungen von Mischbelastungen 745 6.2.5
6.3 Die Leitmerkmalmethode der Mischbelastung (LMM-MB) 746 Ableitung einer Matrix der Belastungsarten und Zielregionen 746 6.3.1
Berechnungsprinzipien der Mischbelastung 746 6.3.2
Paradigmen des Verfahrens der LMM-MB 747
6.3.3
Berechnungsbeispiel Nacken und oberer Rücken 747 6.3.4
Umsetzung, Erprobung und Abgleich mit einem 6.3.5
Tabellenkalkulationsprogramm 748
Prüfung der Robustheit des Tabellenkalkulationsprogramms für die 6.3.6
Erfüllung der Paradigmen 749
6.4 Zusammenfassung – Einschätzung der Methodenentwicklung 750 6.5 Anwendungsbeispiel zur Leitmerkmalmethode Mischbelastung 752 7 Zusammenfassung und Ausblick zu den neu- und
weiterentwickelten Speziellen Screeningmethodnen
(Leitmerkmalmethoden) 754
7.1 Wichtigste Ergebnisse 754
7.2 Kritikpunkte 755
7.3 Ausblick 756
8 Literaturverzeichnis 758
9 Abkürzungsverzeichnis Band 1 772
Anhang 1 773
Anhang 2 777
Anhang 3 798
Anhang 4 803
Anhang 7 818
Anhang 8 823
Anhang 9 828
Anhang 10 837
Anhang 11 891
Anhang 12 899
Anhang 13 906
Anhang 14 918
Anhang 15 935
Anhang 16 944
Anhang 17 979
Danksagung und Autorenliste 986
MEGAPHYS – Mehrstufige Gefährdungsanalyse physischer Belastungen am Arbeitsplatz
Kurzreferat Band 1
Beschwerden und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems gehören zu den häu- figsten Gründen für Arbeitsausfall in Deutschland. Physische Fehlbelastungen im Be- ruf sind Ursache, Mitursache und Moderator einer Reihe solcher Beschwerden und Erkrankungen. Durch Analyse, Bewertung und Beurteilung von Tätigkeiten und der daraus resultierenden Festlegung und Umsetzung präventiver Maßnahmen können Fehlbelastungen vermieden oder minimiert werden. Hierzu sind geeignete Methoden für die Gefährdungsbeurteilung erforderlich.
Im Rahmen des Gemeinschaftsprojektes MEGAPHYS der Bundesanstalt für Arbeits- schutz und Arbeitsmedizin (BAuA) und der Deutschen Gesetzlichen Unfallversiche- rung (DGUV) wurden Gefährdungsbeurteilungsmethoden mit unterschiedlichem De- taillierungsgrad entwickelt (Methodenebenen: Spezielles Screening, Experten- Screening, Messtechnische Analysen, Labormessungen/Simulation). Die Ergebnisse werden in zwei Bänden veröffentlicht.
Der vorliegende Band 1, herausgegeben von der BAuA, beinhaltet das gemeinsame Konzept zur Schätzung des Risikos für gesundheitliche Beeinträchtigungen und die Definition der vorherrschenden Belastungsarten einschließlich ihrer möglichen Wir- kungen auf verschiedene Regionen des Körpers. In Expertenbefragungen und Aus- wertungen verschiedener Quellen konnte der Bedarf an Gefährdungsbeurteilungs- methoden für diese Belastungsarten bestätigt werden. Für die Methodenebene „Spe- zielles Screening“ erarbeitete die BAuA in Kooperation mit dem Institut für Arbeits- medizin, Sicherheitstechnik und Ergonomie e.V. (ASER), der Ergonomieberatung Ulf Steinberg (Ebus) sowie der ArbMedErgo-Beratung Prof. Bernd Hartmann sechs Leitmerkmalmethoden als Neu- bzw. Weiterentwicklungen. Diese wurden in Vorstu- dien in 40 Unternehmen erprobt und daraufhin nochmals modifiziert: manuelles He- ben, Halten und Tragen von Lasten, manuelles Ziehen und Schieben von Lasten, manuelle Arbeitsprozesse, Ganzkörperkräfte, Körperfortbewegung und Kör- perzwangshaltung. Den breitesten Raum nehmen in Band 1 die Ergebnisse der um- fangreichen Testungen der Gütekriterien für die Leitmerkmalmethoden ein (Objektivi- tät, Reliabilität, Konvergenz- und Kriteriumsvalidität). Hierfür wurde eine Quer- schnittsstudie in Unternehmen (Feldstudie) durchgeführt, deren erhobene Daten ebenfalls für die Prüfung der Kriteriumsvalidität auf den Methodenebenen „Experten- Screening“ und „Messtechnische Analyse“ verwendet wurden. Außerdem fanden mehrere Workshops zur Erprobung der neu- und weiterentwickelten Leitmerkmalme- thoden mit Anwendern statt. Ergänzend liegt ein Konzept für eine mögliche Bewer- tung von Mischbelastungen über die gesamte Arbeitsschicht vor.
Das wichtigste Ergebnis der Entwicklungsarbeiten auf der Methodenebene des Spe- ziellen Screenings besteht darin, dass mit Abschluss des Projektes sechs neu- und weiterentwickelte Leitmerkmalmethoden zur Verfügung stehen, die die umfangreiche Prüfung der Gütekriterien durchlaufen haben und zur Anwendung und Testung in der Praxis empfohlen werden. In einigen Aspekten besteht weiterhin Erprobungsbedarf.
Die Erfahrungen aus der Praxistestung werden zur Weiterentwicklung der Methoden beitragen.
Schlagwörter: Gefährdungsbeurteilung, Arbeitsgestaltung, Leitmerkmalmethoden
MEGAPHYS – Multilevel risk assessment of physical workload
Abstract Volume 1
Musculoskeletal disorders and diseases are the most common reasons for sick leave in Germany. High physical workload causes and modifies such disorders and diseas- es and maybe reduced by risk analysis, risk evaluation and determination of appro- pri-ate preventive measures and their implementation. For this purpose, appropriate risk assessment methods are required.
Within the framework of the MEGAPHYS joint project, the Federal Institute for Occu- pational Safety and Health (BAuA) and the German Social Accident Insurance (DGUV) cooperated to develop a set of methods at different levels of risk assessment of physical workload (screening level, expert level, measurement-based analysis, la- boratory measurements and simulation). The results are published in two volumes.
Volume 1 – published by the BAuA – contains the consensus-derived approach of as-sessment of work-related risk of adverse health effects as well as the description of the prevalent archetypes of workload including the relation to the main outcome re- gions.
Expert consultations as well as a literature review and analysis of data bases con- firmed the demand of risk assessment methods for these archetypes of workload.
Within the multi-level-method approach, the BAuA, the Institute of Occupational Health, Safety and Ergonomics e.V. (ASER), the ArbMedErgo Consultant B. Hart- mann, and the Ergonomics Consultant U. Steinberg (ebus) redesigned and newly de- veloped six Key Indicator Methods (KIM) as screening methods. The methods have been tested and modified during pre-studies in 40 companies: manual lifting, holding and carrying of loads; manual pulling and pushing of loads; manual handling opera- tions; whole-body forces; awkward body postures; and body movement.
In Volume 1, the major part deals with the comprehensive examination of different quality criteria (face validity, reliability, convergent validity, criterion validity or content validity regarding hypotheses testing). For this purpose, a cross sectional field study was carried out in different companies. The data were also used for analyzing the cri- terion validity on the level of expert screening and measurement-based analysis. In addition, users tested the KIM in several workshops. A draft for risk assessment of combined exposures of physical workload during the entire working shift completes the methods.
Six redesigned and newly developed KIMs are available as the main result of devel- opment as screening methods. They passed the comprehensive examination of qua- li-ty criteria, and they are approved for the use in practice. There is additional need of proving with regard to few aspects. The experience from practical application in work- places will contribute to further development of the methods.
Key words: risk assessment, work design, key indicator methods
Vorwort
Mit den technischen Entwicklungen in der Arbeitswelt ergeben sich neue Möglichkei- ten in der Arbeitsgestaltung, die zu einer Verbesserung der Prävention von gesund- heitlichen Beeinträchtigungen bei körperlicher Arbeit beitragen können. Allerdings ist nicht davon auszugehen, dass physische Belastungen dadurch im Rahmen der Arbeitsgestaltung vernachlässigbar werden. So gab in der BIBB/BAuA Erwerbstäti- genbefragung 2018 jeder Vierte an, häufig schwer heben oder tragen zu müssen und jeder Fünfte, häufig in Zwangshaltungen zu arbeiten. Weiterhin berichtete etwa die Hälfte der Befragten, während der Arbeit häufig zu stehen oder mit den Händen Arbeiten auszuführen, die hohe Geschicklichkeit, schnelle Bewegungsabfolgen oder größere Kräfte erfordern. Physische Belastungen können kurz- und langfristig zu Be- einträchtigungen der Gesundheit führen, insbesondere zu Beschwerden und degene- rativen Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems, auf die, laut Bericht Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit 2017, fast ein Viertel der 669 Millionen Arbeitsunfähig- keitstage in Deutschland zurückgeht. Sie gehören damit zu den häufigsten Gründen für Arbeitsausfall und verursachen hohe volkswirtschaftliche Kosten durch Produkti- onsausfall. Hinzu kommen Ausgaben beispielsweise für medizinische Versorgung, Rehabilitation, Frühverrentung und Entschädigung.
Vor diesem Hintergrund ist die Prävention von Muskel-Skelett-Erkrankungen seit 2013 ein Schwerpunkt der Deutschen Gemeinsamen Arbeitsschutzstrategie (GDA).
Weiterhin verfolgt die europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (EU-OSHA) im Zeitraum 2020 bis 2022 das Ziel, Instrumente bereitzu- stellen und Lösungen anzubieten, die auf Arbeitsplatzebene zur Prävention arbeits- bedingter Muskel-Skelett-Erkrankungen beitragen können.
Die Gefährdungsbeurteilung bei physischer Belastung am Arbeitsplatz trägt wirksam zur Prävention arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren bei. Sie umfasst die Analyse und Beurteilung der Arbeitsbedingungen, die Ableitung und Durchführung der jeweils notwendigen Maßnahmen sowie deren Wirksamkeitskontrolle. Es gibt verschiedene Methoden zur Gefährdungsbeurteilung, die unterschiedlich detailliert sind. Das Spektrum der Instrumente reicht von Grobscreenings wie der Checkliste aus der DGUV Information 250-453, über Spezielle Screenings wie den Leitmerkmalmetho- den und Experten-Screenings, wie dem Ergonomic Assembly Worksheet (EAWS), bis hin zur messtechnischen Analyse im Betrieb mit dem CUELA-System oder im Labor mit der Möglichkeit von Belastungsschätzungen auf Grundlage biomechani- scher Modelle (wie z. B. dem Simulationsmodell „Der Dortmunder“). Alle dargestell- ten Ebenen der Gefährdungsbeurteilung weisen ihre spezifischen Anwendungsberei- che auf, sprechen unterschiedliche Zielgruppen an (betriebliche Praktiker, Ergono- mie-Experten, Wissenschaftler) und decken in ihrer Kombination ein breites Feld an Belastungen, Arbeitsbereichen und notwendigen Bewertungsintensitäten ab.
Ein Defizit besteht darin, dass die verfügbaren Methoden überwiegend parallel ent- wickelt wurden und sich daher teilweise hinsichtlich der Bewertungsprinzipien und Schätzung des Risikos für gesundheitliche Beeinträchtigungen unterscheiden. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) und die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) sahen daher gemeinsam die Notwendigkeit, auf Grundlage vorhandener Instrumente ein aufeinander abgestimmtes Methodenin- ventar zu entwickeln. Dieses sollte Gefährdungsbeurteilungsmethoden mit unter- schiedlichem Detaillierungsgrad enthalten, um unterschiedlichen Anforderungen der Praxis an den Erhebungsaufwand und die Genauigkeit der ermittelten Belastung ent-
sprechen zu können. Dazu vereinbarten die BAuA und die DGUV das Kooperations- projekt „MEhrstufige GefährdungsAnalyse PHYSischer Belastungen am Arbeitsplatz MEGAPHYS“. Die fachliche Arbeit erfolgte in Zusammenarbeit mit Projektpartnern aus den Bereichen Arbeitsmedizin, Ergonomie, Biomechanik, Arbeitsphysiologie und Arbeitswissenschaft. In einer Feldstudie wurden hierzu an rund 200 Arbeitsplätzen die Belastungsbedingungen analysiert und die Risiken für Beeinträchtigungen der Gesundheit auf Basis von Speziellen Screenings und Experten-Screenings sowie messtechnischen Analysen bewertet. Gleichzeitig wurden über 800 Beschäftigte be- fragt und medizinisch untersucht.
Die Ergebnisse des MEGAPHYS Projekts sind in zwei Bänden publiziert.
In Band 1 werden die Ausgangssituation und die im Projekt eingesetzten Methoden beschrieben. Dazu gehört eine Zustandsanalyse physischer Belastungen in Deutsch- land und das Konzept zur Schätzung des Risikos für gesundheitliche Beeinträchti- gungen. Darüber hinaus fokussiert Band 1 auf die Ergebnisdarstellung der Neu- und Weiterentwicklungen und Evaluierung der Methoden des Speziellen Screenings.
Band 2 umfasst die Ergebnisdarstellung der Neu- und Weiterentwicklungen und Eva- luierung der Methoden des Experten-Screenings, der Messtechnischen Analyse und der Laborsimulation. Ferner werden die paarweisen Vergleiche der Belastungsbe- wertungen der im Feld eingesetzten Methoden Spezielles Screening, Experten- Screening und Messtechnische Analyse präsentiert.
In MEGAPHYS erarbeitete die BAuA in Kooperation mit dem Institut für Arbeitsmedi- zin, Sicherheitstechnik und Ergonomie (ASER), der Ergonomieberatung Ulf Stein- berg (Ebus), und mit ArbMedErgo Prof. Bernd Hartmann, für die Ebene „Spezielles Screening“ sechs Leitmerkmalmethoden als Neu- bzw. Weiterentwicklung:
Heben/Halten/Tragen, Ziehen/Schieben, manuelle Arbeitsprozesse, Ganzkörperkräf- te, Körperfortbewegung, Körperzwangshaltung. Die in der Feldstudie vorzunehmen- den medizinischen Untersuchungen der Beschäftigten wurden vom Institut für Ar- beitsmedizin, Sozialmedizin und Versorgungsforschung (IASV) der Universität Tü- bingen in Zusammenarbeit mit Kern Medical Engineering (KME) durchgeführt. Die Firma Er-go.det (Detlef Trippler) unterstützte zusätzlich bei der Arbeitsplatzanalyse.
Das Institut für Arbeitsschutz der DGUV (IFA) koordinierte im Rahmen des MEGAPHYS-Projekts die Kooperationspartner Institut für Arbeitswissenschaft der Technischen Universität Darmstadt (IAD) und das Leibniz-Institut für Arbeitsfor- schung an der TU Dortmund (IfADo). Im Rahmen dieser Zusammenarbeit wurden vom IAD Experten-Screeningverfahren weiterentwickelt und deren Anwendungsbe- reiche erweitert. Das IFA entwickelte das CUELA-Messverfahren derart weiter, dass nun wesentliche Risikofaktoren für die Körperregionen Nacken/Halswirbelsäule, Schultern/Oberarme, Ellenbogen/Unterarme, Handgelenke/Hände, unterer Rü- cken/Lendenwirbelsäule, Hüfte und Knie sowie hinsichtlich des Herz-Kreislauf- Systems und des Energieumsatzes quantifiziert und bewertet werden können. Das IfADo koppelte das dort entwickelte biomechanische Menschmodell Der Dortmunder mit dem CUELA- Verfahren, um die Anwendung in der betrieblichen Praxis zu verein- fachen. Weiterhin überarbeitete das IfADo den Bewertungsansatz Dortmunder Richtwerte. Daneben erfolgte ein Vergleich der Bewertung nach den Screening- Methoden mit Modellrechnungen des Dortmunders (lumbale Bandscheibendruckkräf- te, Laborsimulation).
Mit dem Projekt wird Praktikern ein sowohl wissenschaftlich fundiertes als auch prak- tisch erprobtes Methodeninventar zur Analyse physischer Belastung zur Verfügung gestellt. Das Methodeninventar soll dabei unterstützen, ungünstige Arbeitsbedingun- gen besser zu identifizieren und somit den präventiven Arbeitsschutz zu verbessern.
Damit können Planungen und Ist-Zustände von Arbeitssystemen analysiert werden, um Belastungsschwerpunkte zu erkennen. Mit den unterschiedlich detaillierten Me- thoden ist die Beurteilung von einfachen bis hin zu komplexen Arbeitsvorgängen möglich. Das Inventar erlaubt damit, eine in ihrem Detaillierungsgrad der jeweiligen praktischen Problemstellung angemessene Methode auszuwählen.
Wir danken allen, die so zahlreich und engagiert an diesem Projekt mitgewirkt haben.
Insbesondere gilt unser Dank den Betrieben, die unser Projekt mit Interesse beglei- tet, den Zugang zu ihren Arbeitsplätzen gewährt und die Befragung und medizinische Untersuchung der Beschäftigten möglich gemacht haben. Weiterhin danken wir dem Projektbeirat, der uns von Anfang an mit seinem Fachwissen zur Seite stand.
Unser Dank gilt auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der BAuA und des IFA der DGUV ohne deren kompetenten und engagierten Einsatz der erfolgreiche Ab- schluss dieses Projekts nicht möglich gewesen wäre.
Isabel Rothe Dr. Stefan Hussy
Präsidentin der Bundesanstalt Hauptgeschäftsführer der
für Arbeitsschutz und Deutschen Gesetzlichen
Arbeitsmedizin (BAuA) Unfallversicherung (DGUV)
1 Einleitung
1.1 Ausgangssituation und gesundheitspolitischer Hinter- grund zu physischen Belastungen in der Arbeitswelt
André Klußmann1), Bernd Hartmann2), Falk Liebers3), Hansjürgen Gebhardt1), Matthias Jäger4), Dirk Ditchen5), Andrea Sinn-Behrendt6)
1) Institut für Arbeitsmedizin, Sicherheitstechnik und Ergonomie e.V. (ASER), Corne- liusstraße 31, 42329 Wuppertal
2) ArbMedErgo, Hamburg, Steinbeker Grenzdamm 30d, 22115 Hamburg
3) Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), Nöldnerstraße 40–42, 10317 Berlin
4) Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund (IfADo), Ardeystraße 67, 44139 Dortmund
5) Institut für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (IFA), Alte Heerstraße 111, 53757 Sankt Augustin
6) Institut für Arbeitswissenschaft der Technischen Universität Darmstadt (IAD), Otto - Berndt - Straße 2, 64287 Darmstadt
Bedeutung der Betrachtung physischer Belastungen in der 1.1.1
Arbeitswelt
Ein wesentliches Ziel von Arbeitswissenschaft und Arbeitsmedizin ist es, die Ge- sundheit der Beschäftigten so gut wie möglich zu erhalten und zu fördern sowie si- cherzustellen, dass Beschäftigte infolge ihrer Tätigkeit keinen Schaden an ihrer Ge- sundheit nehmen. Für die Beurteilung der Arbeitsbedingungen und die Ableitung von Schutzmaßnahmen sind valide Methoden erforderlich, mit denen Belastungen objek- tiviert und die Wahrscheinlichkeit einer Überlastung und in deren Folge von arbeits- bedingten Beschwerden und Erkrankungen abgeschätzt werden können. Die Be- trachtung der Belastungen in der Arbeitswelt sowie die Abschätzung möglicher Fol- gen sind aus verschiedenen Gründen von besonderer Bedeutung:
1. Es besteht hierzu eine gesetzliche Verpflichtung. Nach dem Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG, 1996) und der Unfallverhütungsvorschrift „Grundsätze der Prävention“
(DGUV, 2013) sind alle Arbeitgeber dazu verpflichtet, eine Beurteilung der Ar- beitsbedingungen im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung durchzuführen.
2. Überbelastungen der Beschäftigten können zu Beschwerden und Erkrankungen sowie in der Folge zu Arbeitsunfähigkeit, Berufskrankheiten und/oder Frühverren- tungen führen und damit hohe betriebliche wie auch volkswirtschaftliche Kosten verursachen.
3. Aus der Beurteilung der arbeitsbedingten Belastungen lassen sich Maßnahmen für eine gute Arbeitsgestaltung ableiten, die nicht nur primärpräventiv (Reduktion bzw. Vermeidung von Überlastungen und damit von Beschwerden und Erkran- kungen), sondern auch sekundär- (Vermeidung von Erkrankungsfortschritt und -verschlimmerung) und tertiärpräventiv (Vermeidung von Folgeschäden und Rückfällen) wirken können.
Die demografische Entwicklung führt in der Regel dazu, dass der Anteil älterer Be- schäftigter in vielen Bereichen der Arbeitswelt steigt. Daher sollte eine alters- und al- ternsgerechte Gestaltung und Organisation der Arbeit sich auf eine Reduktion der Belastungen des Muskel-Skelett-Systems und somit auch der damit verbundenen Beschwerden und Erkrankungen fokussieren, um auch diejenigen Erwerbstätigen
einschließen zu können, die in ihrer Tätigkeit hohen physischen Belastungen ausge- setzt sind. Entsprechend ist die Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie (GDA) in ihrem Arbeitsprogramm (2013 bis 2018) u. a. auf die Prävention von Mus- kel-Skelett-Erkrankungen als eines von drei Arbeitsschutzzielen ausgerichtet.1
Angaben zu Häufigkeiten von physischen Belastungen 1.1.2
Physische Belastungen sind in der Arbeitswelt trotz erheblicher Veränderungen in der Volkswirtschaft durch Entwicklungen der Industriestruktur, der technischen Un- terstützung bei der Fertigung und bei den Transportprozessen weiterhin vorhanden.
Sie sind der wichtigste Faktor für arbeitsbezogene Muskel-Skelett-Erkrankungen.
Regelmäßig erhobene Daten zur körperlichen Belastung an einer repräsentativen Stichprobe der Erwerbsbevölkerung in Deutschland (Beschäftigtenbefragung) zeigen für Vollerwerbstätige (BAuA, 2012; BMAS & BAuA, 2016), dass
durch das Heben und Tragen schwerer Lasten ein Viertel der Männer und sogar fast zwei Drittel der befragten Frauen häufig betroffen sind,
jeder 5. Mann und jede 6. Frau häufig von Zwangshaltungen betroffen ist,
Arbeiten im Stehen mehr als die Hälfte der befragten Männer und Frauen häufig betreffen und
besondere Anforderungen an Kraft, Geschicklichkeit oder Repetition bei Handar- beiten bei ca. 45 % der Befragten häufig vorkommen.
Diese Faktoren lassen sich hinsichtlich der Zahl der betroffenen Personen auf eine Stufe mit den zum Vergleich in der Tabelle 1.1 mit aufgeführten Belastungen durch Lärm oder durch starken Termin- und Leistungsdruck stellen. Zu beachten ist hierbei, dass sich die Angaben darüber, ob man sich belastet fühlt, auf Befragungsergebnis- sen beruhen, die sich nach persönlichen Maßstäben richten. Somit kann nicht zwi- schen Komfortstörung, Akzeptanz und ermüdender oder ggf. überlastender sowie er- krankungsinduzierender Beanspruchung unterschieden werden.
Neben Befragungsdaten wie aus der hier zitierten BIBB/BAuA-Studie liegen auch ob- jektiv erhobene betriebliche Belastungsdaten vor. Beispielhaft ist eine Auswertung der physischen Belastungen der Beschäftigten in der Fertigung eines Unterneh- menskonzerns mit über 40 Betrieben der Chemie-, Metall- und Elektroindustrie in Deutschland aufzuführen (Mühlemeyer et al., 2014). Unter den 19.000 Beschäftigten dort in der Fertigung (betrachtet wurden die „gering qualifizierten manuellen Berufe“
und die „qualifizierten manuellen Berufe“, Kap. 1.1 6) wurde untersucht, wie viele von ihnen unter wesentlich erhöhten oder sogar hohen physischen Belastungen arbeiten.
Dies sind beispielsweise bei „manuellen Lasthandhabungen“ 14 %, bei „dynamischer Muskelarbeit“ 8 % und bei „manuellen Arbeitsprozessen“ 1,5 % der Beschäftigten (Mühlemeyer et al., 2014).
1 http://www.gda-portal.de/DE/GDA/Arbeitsprogramme/Arbeitsprogramme_node.html
Tab. 1.1 Häufigkeiten physischer Arbeitsbelastungen bei unbefristet beschäftig- ten Männern und Frauen – Angaben der BIBB/BAuA-Befragung 2011–
2012 aus „Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit 2012“ Tabelle TE 3 (BMAS & BAuA, 2016)
Angaben in %
Männer (n = 7.579) Frauen (n = 6.257) häufig
betroffen
davon fühlen sich belastet
häufig betroffen
davon fühlen sich belastet Heben und Tragen schwerer Lasten
(Männer >20 kg, Frauen >10 kg) 24,7 49,6 64,2 22,8 Arbeit unter Zwangshaltungen 19,8 47,0 15,3 56,5
Arbeit im Stehen 58,7 29,9 51,6 30,9
Arbeit mit Händen
(Kraft, Geschicklichkeit, schnelle Abfolge) 45,4 19,2 42,7 20,9
Arbeiten unter Lärm 33,7 44,7 16,9 65,3
Starker Termin- und Leistungsdruck 55,4 63,1 50,2 68,5
Arbeitsunfähigkeit aufgrund von Muskel-Skelett-Erkrankungen 1.1.3
Dass physische Belastungen eine besondere Relevanz aufweisen, lässt sich aus den Daten zur Arbeitsunfähigkeit ableiten. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Ar- beitsmedizin (BAuA) wertet jährlich die Arbeitsunfähigkeitstage der Beschäftigten in Deutschland aus. Im Jahr 2014 waren in Deutschland rund 39,9 Millionen Menschen erwerbstätig. Unter 100 Mitgliedern der gesetzlichen Krankenversicherung waren durchschnittlich 122,5 Arbeitsunfähigkeitsfälle zu verzeichnen. Die einzelne Arbeits- unfähigkeit dauerte durchschnittlich 12,2 Tage. Hochgerechnet ergibt sich damit ein Volumen von 543 Millionen Arbeitsunfähigkeitstagen in Deutschland. Die BAuA schätzt darüber
hinaus die daraus entstehenden volkswirtschaftlichen Produktionsausfälle auf insge- samt 57 Milliarden Euro bzw. den Ausfall an Bruttowertschöpfung auf 90 Milliarden Euro (BMAS & BAuA, 2016).
Von den 543 Millionen Arbeitsunfähigkeitstagen entfallen etwa 126 Millionen (etwa ein Viertel) auf Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes (BMAS & BAuA, 2016). Sie gehören damit zu den häufigsten Gründen für Arbeits- ausfall in Deutschland. Die durch Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems beding- ten Arbeitsunfähigkeitstage waren seit dem Jahr 2000 rückläufig, nehmen jedoch seit dem Jahr 2011 wieder zu (Abb. 1.1)2.
Abb. 1.1 Arbeitsunfähigkeitstage in Deutschland aus den Jahren 1998 bis 2014 (eigene Auswertung, Datengrundlage: BMAS & BAuA (2016))
Dabei ist insbesondere bei den Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes eine altersabhängige Zunahme zu beobachten, die bei Männern stei- ler verläuft als bei Frauen (Abb. 1.2 und 1.3).
2 Hinweis zur Interpretation: Die Schwankungen über die Jahre sind auch Abbild der Beschäftigten- zahlen, mit besonderem Einfluss der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise, die ihren Höhe- punkt in den Jahren 2008 bis 2011 hatte.
Abb. 1.2 Arbeitsunfähigkeitstage je 100 Versicherungsjahre von Männern nach Alter und Diagnosegruppen bundesweit im Jahr 2014 (eigene Auswer- tung, Datenquelle: Grobe et al. (2015))
Abb. 1.3 Arbeitsunfähigkeitstage je 100 Versicherungsjahre von Frauen nach Al- ter und Diagnosegruppen bundesweit im Jahr 2014 (eigene Auswer- tung, Datenquelle: Grobe et al. (2015))
Das Spektrum der Ursachen für Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE) ist breit. Es ist anzunehmen, dass nicht alle der oben beschriebenen Arbeitsunfähigkeitstage auf die
Arbeitsbedingungen zurückzuführen sind. Die Zahlen zu den Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes sind teilweise auch auf Verletzun- gen und Erkrankungen, die in der Freizeit erworben wurden (z. B. Sportunfälle o. ä.), oder altersentsprechende Veränderungen zurückzuführen. Studien zur Verteilung der Arbeitsunfähigkeitstage im Hinblick auf berufliche und nichtberufliche Anteile liegen nicht vor. Allerdings wurde der Zusammenhang zwischen physischen Belastungen am Arbeitsplatz und verschiedenen Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems durch systematische Reviews belegt (Bernard, 1997; Buckle & Devereux, 1999; da Costa & Vieira, 2010).
Die Bedeutung der arbeitsbedingten physischen Belastungen wird ebenfalls anhand der Berufskrankheiten (BK) deutlich, auch wenn sie als so genannte Versicherungs- fälle der gesetzlichen Unfallversicherung nicht die gesamte Breite arbeitsbezogener Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems durch erhöhte physische Belastungen bei der Arbeit abbilden. In der Liste der Berufskrankheiten sind derzeit 14 Krankheitsbil- der aufgeführt, für deren Entstehung mechanische Einwirkungen ursächlich sein können. Diese Liste wird fortlaufend aktualisiert. Neue Erkrankungen werden aufge- nommen, wenn eine wissenschaftliche Begründung zur Berufskrankheit (BK) vorliegt.
Im Jahr 2016 ist in Deutschland der Verdacht von 11.057 Berufskrankheiten durch mechanische Einwirkungen angezeigt worden (13,8 % aller Anzeigen) und es sind 1.458 Fälle als BK anerkannt worden (6,5 % aller Anerkennungen). Vier BK bestim- men mit insgesamt 81 % die Rangliste der Anerkennungen: Die BK 2108 (Band- scheibendingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch das Heben oder Tragen schwerer Lasten …), die BK 2113 (Karpaltunnelsyndrom …), die BK 2102 (Menis- kusschäden …) und die BK 2112 (Gonarthrose …) (BMAS & BAuA, 2017). Weitere Ursachenzusammenhänge, wie z. B. Arthrose des Hüftgelenks durch Heben und Tragen schwerer Lasten oder Muskel-Skelett-Erkrankungen der Schulter (Läsion der Rotatorenmanschette) werden gegenwärtig durch den Ärztlichen Sachverständigen- beirat Berufskrankheiten des BMAS geprüft.3
Beziehungen von physischen Belastungen zu Beschwerden und 1.1.4
Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems
Die Beziehungen von physischen Belastungen zu Beschwerden und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems erhalten in jüngerer Zeit, u. a. mit der Diskussion um den demographischen Wandel und Fachkräftesicherung, wieder vermehrt an Bedeu- tung. Es herrscht jedoch ein Mangel an fundierten Studien, und für viele Zusammen- hänge zwischen physischen Belastungen und Erkrankungen besteht nur eine be- grenzte Evidenz. Erst im letzten Jahrzehnt liegen vermehrt Ergebnisse vor, die das Zusammenspiel anlagebedingter, verhaltensabhängiger und besonderer physischer Belastungen bei der Verursachung von Erkrankungen erklären können.
Grundsätzlich sind nur solche Einflüsse aus der Arbeitswelt als Risikofaktoren zu be- zeichnen, die in der Arbeit als Belastungsmerkmale
nach Art, Stärke, Dauer und zeitlicher Verteilung identifiziert und
durch den Bezug zu medizinischen Befunden gekennzeichnet sind und/oder
durch den Vergleich mit Erkenntnissen aus anderen Ebenen der Wirkungsfor- schung (experimentelle und klinische Medizin, Biomechanik, Arbeitsphysiologie,
3 https://www.bmas.de/DE/Themen/Soziale-Sicherung/Gesetzliche-Unfallversicherung/der- aerztliche-sachverstaendigenbeirat-berufskrankheiten.html
Arbeitspsychologie) als wahrscheinlich kausale Faktoren (Ursachen) oder als Kofaktoren verifiziert werden können.
Risikofaktoren für das Auftreten von Muskel-Skelett-Erkrankungen sind darüber hin- aus alle anlagebedingten Voraussetzungen und alle äußeren Einwirkungen aus der gesamten Lebensweise über die Arbeit hinausgehend, die dazu beitragen, dass Muskel-Skelett-Erkrankungen stärker als im Durchschnitt der Normalbevölkerung auftreten und dass bestimmte Lokalisationen von Erkrankungen am Muskel-Skelett- System besonders stark betroffen sind.
Das umfassendste epidemiologische Review zu arbeitsbezogenen Muskel-Skelett- Erkrankungen hat bislang das NIOSH (National Institute of Occupational Safety and Health) in den USA im Jahr 1997 unter dem Titel „Musculoskeletal Disorders and Workplace Factors – A Critical Review of Epidemiologic Evidence for Work-Related Musculoskeletal Disorders of the Neck, Upper Extremity, and Low Back” (Bernard, 1997) publiziert. Es prüft die Evidenz möglicher Risikofaktoren und schließt die we- sentlichen Regionen des Muskel-Skelett-Systems mit Ausnahme der unteren Extre- mitäten ein. Die Studie von Bernard (1997) wurde im Jahr 2010 durch da Costa &
Vieira (2010) aktualisiert (Tab. 1.2), wobei hier auch die unteren Extremitäten einbe- zogen worden sind. Generell können derartige Reviews nur jene Beziehungen dar- stellen, für die qualitativ hochwertige Primärstudien vorliegen, was auf Grund der ho- hen Komplexität des Ursachengeflechts von Muskel-Skelett-Erkrankungen derzeitig nicht in vollem Umfang gegeben ist.
Wie die Tabelle 1.2 zeigt, fanden sich entsprechend den Erhebungen von da Costa &
Vieira bei keinem Belastungsfaktor eine gute, bei wichtigen physischen Belastungs- faktoren jedoch eine mäßige Evidenz für das Auftreten von Muskel-Skelett- Erkrankungen im unteren Rücken durch Zwangshaltungen, schwere körperliche Ar- beit und Heben von Lasten. Dieses auf reversible Rückenbeschwerden und Rücken- schmerzen bezogene Ergebnis unterscheidet sich von dem Ergebnis der sogenann- ten Deutschen Wirbelsäulenstudie (DWS) (Bolm-Audorff et al., 2007) mit Bezug auf irreversible degenerative Erkrankungen mit lumbalem Radikulärsyndrom im unteren Rücken: In der DWS fand sich eine Dosis-Wirkung-Beziehung zwischen kumulativen beruflichen Wirbelsäulenbelastungen durch Lastenhandhabung sowie Körperhaltun- gen mit Rumpfneigung und -verdrehung und der Entwicklung eines Bandscheiben- vorfalls bzw. einer fortgeschrittenen Bandscheibenhöhenminderung in der Lenden- wirbelsäule bei Männern und Frauen. In der nachfolgenden DWS-Richtwertestudie (Seidler et al., 2012), einer vertiefenden Re-Analyse der Daten der DWS, wurden statistisch signifikant erhöhte Risiken für bandscheibenbedingte Erkrankungen bestä- tigt. Dieser Dosis-Wirkung-Nachweis gilt auch für Belastungen unterhalb der gegen- wärtigen Kriterien der Berufskrankheit Nr. 2108 BKV. Somit ist für die Entität band- scheibenbedingter Lumbalerkrankungen eine gute Evidenz für einen Zusammenhang mit Lastenhandhabung und belastungsintensiven Körperhaltungen auch ohne Las- tenhandhabung zu unterstellen.
Tab. 1.2 Evidenz physikalischer Risikofaktoren für das Auftreten von Muskel- Skelett-Erkrankungen (Auszug eines Reviews von da Costa & Vieira (2010), Übersetzung des Autors)
Betroffene
Körperregion gute
Evidenz mäßige Evidenz unzureichende Evidenz
Nacken keine
psychosoziale Faktoren, Rauchen
Geschlecht Haltung Komorbidität
schwere körperliche Arbeit Heben
Sitzarbeit höheres Alter
hoher BMI
unterer
Rücken keine
Zwangshaltungen schwere körperliche Arbeit
Heben
psychosoziale Faktoren jüngeres Alter
hoher BMI
Geschlecht
„Rasse“
Rauchen Komorbidität
obere Extremitäten
generell keine Komorbidität
psychosoziale Faktoren höheres Alter
Rauchen
schwere körperliche Arbeit hoher BMI
Schulter keine schwere körperliche Arbeit psychosoziale Faktoren
repetitive Arbeit höheres Alter
hoher BMI Sitzarbeit
Ellenbogen/Unterarm keine
Zwangshaltungen Komorbidität repetitive Arbeiten
höheres Alter
hoher BMI
schwere körperliche Arbeit weibliches Geschlecht
monotone Arbeit
verbunden mit anderen Erkrankungen der oberen Extremitäten
Handgelenk/Hand keine
langdauernde Computerar- beit
schwere körperliche Arbeit hoher BMI
höheres Alter weibliches Geschlecht
Zwangshaltungen repetitive Arbeiten
Rauchen Komorbidität psychosoziale Faktoren
untere
Extremitäten generell keine keine
Komorbidität psychosoziale Faktoren
Rauchen hoher BMI
Hüfte keine Heben
schwere körperliche Arbeit repetitive Arbeit psychische Faktoren Knie keine
Zwangshaltungen Heben repetitive Arbeiten
Komorbidität
Rauchen
schwere körperliche Arbeit hoher BMI
Fibromyalgie und
unspezifische MSD keine keine
Komorbidität psychologische Faktoren
repetitiver Arbeit Zwangshaltungen Krankheitsverhalten
Zusammenhang zwischen berufsbedingten Belastungen und 1.1.5
Erkrankungshäufigkeiten des Rückens
Eine Längsschnittstudie aus Dänemark (van Oostrom et al., 2012) hat die Entste- hung von Rückenschmerzen durch Muskel-Skelett-Belastungen ausgewertet. In der sog. Doetinchem-Kohortenstudie, einer Bevölkerungsstudie zur gesundheitlichen Entwicklung, wurden ab 1993 bis zum Jahr 2007 in zwei Fünfjahresschritten die Ein- flüsse beruflicher körperlicher Belastungen auf die Entstehung von Rückenschmer- zen von mindestens 3 Monaten Dauer im Jahr vor der Untersuchung analysiert. Es wurden 4.378 Personen über den gesamten Beobachtungszeitraum einbezogen (Al- ter 25–35 Jahre = 17,5 % / 35–45 Jahre = 33,8 % / 45–55 Jahre = 29,6 % / 55–65 Jahre = 19,1 %), darunter 46,6 % Männer. An chronischen Rückenschmerzen litten zum Zeitpunkt t1 20,6 %, t2 18,1 % und t3 (Endpunkt nach 10 Jahren) 20,6 %.
Die Ergebnisse für den 10-Jahreszeitraum zeigt die Tabelle 1.3. Dabei wurden die Daten
im Modell 3 nach Geschlecht, Alter, beruflicher Tätigkeit, Übergewicht, Rauchen und physischer Aktivität,
im Modell 4 zusätzlich nach allen körperlichen Aktivitätsvariablen adjustiert.
Tab. 1.3 Beziehungen (OR) zwischen physischen Belastungen im Zeitraum der Beobachtung und chronischen Rückenschmerzen nach van Oostrom et al. (2012), dort Tabelle 2)
Belastungsform Einwirkungszeitraum Modell 3 Modell 4 OR 95 %-KI OR 95 %-KI mechanische
Schwingungen (Vibration)
niemals 1,00 1,00
vor 10 Jahren 1,24 0,68–2,25 1,03 0,54–1,95 vor 5 Jahren 1,45 0,83–2,56 1,30 0,71–2,37 vor 10 und 5 Jahren 0,99 0,61–1,61 0,79 0,48–1,32
Zwangshaltungen
niemals 1,00 1,00
vor 10 Jahren 1,62 1,16–2,26 1,44 1,05–1,98 vor 5 Jahren 1,67 1,22–2,28 1,75 1,21–2,54 vor 10 und 5 Jahren 1,66 1,24–2,23 1,72 1,14–2,60
langzeitig gleiche Haltung
niemals 1,00 1,00
vor 10 Jahren 1,25 0,95–1,65 1,10 0,79–1,51 vor 5 Jahren 1,32 0,95–1,83 1,21 1,87–1,67 vor 10 und 5 Jahren 1,33 1,01–1,76 1,19 0,84–1,68
kurze repetitive Bewegungen
niemals 1,00 1,00
vor 10 Jahren 1,36 0,95–1,94 1,17 0,82–1,67 vor 5 Jahren 1,09 0,80–1,47 0,95 0,70–1,29 vor 10 und 5 Jahren 1,36 1,03–1,79 1,09 0,75–1,57
Tab. 1.3 (Fortsetzung)
Belastungsart Einwirkungszeitraum Modell 3 Modell 4 OR 95 %-KI OR 95 %-KI
Beugen oder Verdrehen
niemals 1,00 1,00
vor 10 Jahren 1,24 0,90–1,71 0,94 0,66–1,33 vor 5 Jahren 1,02 0,77–1,35 0,87 0,63–1,21 vor 10 und 5 Jahren 1,16 0,90–1,49 0,80 0,55–1,16 langzeitiges Ver-
drehen des Rumpfes
niemals 1,00 1,00
vor 10 Jahren 1,34 0,98–1,83 1,13 0,83–1,55 vor 5 Jahren 1,11 0,76–1,61 0,96 0,64–1,44 vor 10 und 5 Jahren 1,42 1,01–2,00 1,11 0,73–1,71
Arme erhoben
niemals 1,00 1,00
vor 10 Jahren 1,19 0,87–1,62 1,11 0,59–1,43 vor 5 Jahren 1,09 1,77–1,53 0,96 0,67–1,41 vor 10 und 5 Jahren 1,39 0,93–2,06 1,11 0,64–1,68
Knien oder Ho- cken
niemals 1,00 1,00
vor 10 Jahren 1,39 0,85–2,26 1,06 0,69–1,66 vor 5 Jahren 1,29 0,87–1,93 1,13 0,73–1,76 vor 10 und 5 Jahren 1,09 0,67–1,77 0,80 0,46–1,39
Heben, Tragen, Ziehen, Schieben
niemals 1,00 1,00
vor 10 Jahren 1,48 1,01–2,18 1,34 0,93–1,92 vor 5 Jahren 1,00 0,72–1,40 0,96 0,67–1,36 vor 10 und 5 Jahren 1,18 0,91–1,53 1,02 0,74–1,40
Nur die Zwangshaltungen haben einen dauerhaft signifikanten Einfluss auf chroni- sche Rückenschmerzen (ca. 1,7fache Rate), der auch nach Adjustierung der übrigen körperlichen Belastungsformen konstant erhalten bleibt, wogegen andere Belastun- gen offensichtlich mit den Zwangshaltungen verknüpft auftreten. Die Konstanz des Faktors „Zwangshaltungen“ wird auch bei Aufteilung der Effekte in die Inzidenz bei ursprünglich schmerzfreien und die Persistenz der ursprünglich unter Schmerzen lei- denden Personen offensichtlich.
Im Rahmen der niederländischen „Study on Musculoskeletal disorders, Absenteeism and Health“ (SMSH), einer prospektiven Kohortenstudie, wurden im Jahr 1990 2.048 Beschäftigte untersucht. In einer Teilstudie zur Verursachung von Rückenschmerzen (Coenen et al., 2013) wurden die Belastungen und Beschwerden von 1.086 Beschäf- tigten (759 Männer/327 Frauen) ermittelt. Aus den Belastungsangaben bei der Arbeit wurde ein kumulativer Belastungsindex ermittelt, der in der Tabelle 1.4 für die Zeit der Beobachtung von durchschnittlich 9,6 Jahren und auf der Grundlage von Be- obachtungen, Videoanalysen und biomechanischen Berechnungen der Belastung bestimmt wurde. Zusätzlich wurde das Risiko getrennt nach den einzelnen Belas- tungsanteilen von Lastenhüben pro Tag generell, Lastenhübe ≥25 kg/Tag und Zeiten in gebeugter Körperhaltung ermittelt.
Tab. 1.4 Beziehungen von früher ermittelten körperlichen Belastungen zum Risi- ko tiefer Rückenschmerzen nach Coenen et al. (2013), dort Tabelle 5)
Belastungskategorie Grad der Belastung OR 95 %-KI
Zeit in gebeugter Haltung
≤5 % Zeit in ≥30° 1,00 5–10 % Zeit in ≥30° 1,15 0,74–1,78
>10 % Zeit in ≥30°
oder ≤5 % Zeit in ≥60° 0,91 0,57–1,46
>5 % Zeit in ≥60° 1,45 0,77–2,73
Zahl der Hebevorgänge
keine 1,00 keine mit ≥10 kg/Tag 0,69 0,45–1,06 keine mit ≥25 kg/Tag 0,77 0,51–1,17 1–15 x ≥25 kg/Tag 0,73 0,44–1,19
>15 x ≥25 kg/Tag 1,60 0,88–2,92 Zahl der Hübe ≥25 kg/Tag
keine 1,00 1–15 x/Tag 0,92 0,63–1,34
>15 x/Tag 2,03 1,23–3,36
Kumulativer Belastungsindex adjustiert nach Zeit in gebeugter Haltung
1. Quintil 1,00
2. Quintil 1,06 0,70–1,59 3. Quintil 0,83 0,51–1,33 4. Quintil 1,03 0,60–1,78 5. Quintil 1,89 1,04–3,45
Kumulativer Belastungsindex adjustiert nach Hüben in 8-Stunden-Tag
1. Quintil 1,00
2. Quintil 0,97 0,62–1,51 3. Quintil 0,88 0,55–1,41 4. Quintil 1,05 0,62–1,76 5. Quintil 1,96 1,15–3,36
Kumulativer Belastungsindex adjustiert nach Hüben ≥25 kg in 8-Stunden-Tag
1. Quintil 1,00
2. Quintil 1,06 0,71–1,60 3. Quintil 0,85 0,56–1,31 4. Quintil 0,99 0,62–1,57 5. Quintil 1,85 1,17–2,92
Unter den betrachteten Einzelbelastungen übt nur das Heben von Lasten häufiger als 15 x ≥25 kg/Tag einen signifikanten Einfluss auf Rückenschmerzen aus. Bei den kumulativen Belastungsindices weist nur das jeweilige 5. Quintil ein statistisch signi- fikant erhöhtes Risiko auf, welches dann aber etwa doppelt so hoch ist. Damit ist er- klärt, dass es erst erheblich erhöhter Belastungen bedarf, um deutliche arbeitsbe- dingte Risikosteigerungen auszulösen und dass für geringere körperliche Belastun- gen nachteilige Wirkungen nicht erhoben wurden (statistisch gesichert). Das dürfte auch auf Konstellationen anderer Studien zu übertragen sein, bei denen die symp- tomatischen degenerativen Erkrankungen der Bandscheiben der Lendenwirbelsäule hinsichtlich der Verursachung durch das Heben und Tragen schwerer Lasten beur- teilt werden sollen.
Zusammenhang zwischen berufsbedingten Belastungen und 1.1.6
Erkrankungshäufigkeiten der oberen Extremitäten
Insbesondere im Bereich der oberen Extremitäten sind eine Vielzahl von Erkrankun- gen in der Berufskrankheiten-Verordnung aufgeführt (überwiegend Mononeuropa- thien – IDC-10 G56, Tenosynovitis der oberen Extremität ICD-10 M65.8 oder Epico- ndylitiden – ICD-10 M77). Als arbeitsbedingte Ursachen für Erkrankungen des Hand- Arm-Systems werden neben Vibrationsbelastungen insbesondere lang anhaltende und/oder häufig wiederkehrende dynamische Belastungen des Finger-Hand-Arm- Bereiches als Ursache von Beschwerden und Erkrankungen der oberen Extremitäten genannt, und zwar allein oder in Kombination mit statischer Halte- und Haltungsar- beit. Dies findet sich in Übersichtsarbeiten wie z. B. Bernard (1997); Buckle &
Devereux (1999); da Costa & Vieira (2010); van Rijn et al. (2010); Hoehne-Hückstädt et al. (2007), und wird in biomechanischen Modellen zur Pathogenese spezifischer Erkrankungen der oberen Extremitäten berücksichtigt (Armstrong et al., 1993; Moore, 2002). Schwerpunkte sind dabei Schmerzempfindungen und Funktionseinschrän- kungen durch direkte Fehl- und Überbeanspruchung von Muskeln, Sehnen, Seh- nengleitgewebe, Gelenkstrukturen und Nerven im Bereich der Hände, der Unterar- me, Ellenbogen, Schultern und indirekte Wirkungen, wie Verspannungen in der Schulter-Nacken-Muskulatur (Sluiter et al., 2001a; Sluiter et al., 2001b). Die häufigste durch Kompression bedingte Mononeuropathie der oberen Extremität stellt mit ca.
55 % das Karpaltunnel-Syndrom dar (Davidoff et al., 1991).
Das berufsspezifische Risiko für das Auftreten von Arbeitsunfähigkeit durch Muskel- Skelett-Erkrankungen und Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems wurde anhand von Krankenkassendaten aus dem Jahr 2008 untersucht (Liebers et al., 2016). Be- trachtet wurde u. a. der Zusammenhang zwischen Mononeuropathien der oberen Extremität (ICD-10 G56) und verschiedenen Berufen, grob zugeordnet nach Blossfeld (1985) sowie detaillierter nach dem Schlüssel „Klassifikation der Berufe“
(Bundesanstalt für Arbeit, 1988). Im Jahr 2008 wurden unter den betrachteten 26,2 Mio. Versicherten (13,7 Mio. Männer, 12,5 Mio. Frauen) insgesamt 106.552 Fälle von Arbeitsunfähigkeit (AU) aufgrund der Diagnose „Mononeuropathien der oberen Ext- remität“ erfasst.
Als Effektschätzer wurde die altersstandardisierte Morbiditätsratio (Standard Mortality Ratio – SMR) mit 99,9 %-Konfidenzintervall (KI) für Arbeitsunfähigkeit berechnet.
Hierbei weisen die Gruppen der „gering qualifizierten manuellen Berufe“ (Männer:
SMR 3,04; KI: 2,94–3,13; Frauen: SMR 3,26; KI: 3,14–3,38) und der „qualifizierten manuellen Berufe“ (Männer: SMR 2,82; KI: 2,73–2,91; Frauen: SMR 2,90; KI: 2,74–
3,07) die meisten AU-Fälle auf (grobe Berufszuordnung nach Blossfeld (1985)), (Abb. 1.4 und 1.5).
Abb. 1.4 Morbiditätsratio (SMR und 99,9 %-KI) für das Auftreten von AU-Fällen aufgrund der Diagnose „Mononeuropathien der oberen Extremität“, Deutschland 2008, Männer (Liebers et al., 2016)
Abb. 1.5 Morbiditätsratio (SMR und 99,9 %-KI) für das Auftreten von AU-Fällen aufgrund der Diagnose „Mononeuropathien der oberen Extremität“, Deutschland 2008, Frauen (Liebers et al., 2016)