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Belastungs-Beanspruchungs-Konzept und Methoden der Gefährdungsbeurteilung bei physischer Belastung

André Klußmann1), Falk Liebers2), Bernd Hartmann3), Hansjürgen Gebhardt1), Matthias Jäger4), Dirk Ditchen5), Andrea Sinn-Behrendt6)

1) Institut für Arbeitsmedizin, Sicherheitstechnik und Ergonomie e.V. (ASER), Corne-liusstraße 31, 42329 Wuppertal

2) Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), Nöldnerstraße 40–42, 10317 Berlin

3) ArbMedErgo, Hamburg, Steinbeker Grenzdamm 30d, 22115 Hamburg

4) Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund (IfADo), Ardeystraße 67, 44139 Dortmund

5) Institut für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (IFA), Alte Heerstraße 111, 53757 Sankt Augustin

6) Institut für Arbeitswissenschaft der Technischen Universität Darmstadt (IAD), Otto - Berndt - Straße 2, 64287 Darmstadt

Belastungs-Beanspruchungs-Konzept bei physischen 1.2.1

Belastungen

Das von Rohmert et al. (1975) vorgeschlagene Belastungs-Beanspruchungs-Konzept beschreibt, dass es sich bei der Belastung ausschließlich um objektive, von außen her auf den Menschen einwirkende Größen und Faktoren handelt, wobei de-ren Auswirkung im Menschen oder auf den Menschen unberücksichtigt bleibt. Im Gegensatz hierzu kennzeichnet die Beanspruchung die Summe aller Auswirkungen von Belastungen im Menschen, abhängig von den individuellen Eigenschaften und Fähigkeiten. Insbesondere Alter, Geschlecht und physiologische Anpassungsfähig-keit beeinflussen, wie stark ein Mensch von den Belastungsfaktoren tatsächlich be-ansprucht wird.

In Bezug auf die Gesamtheit aller physischen Anforderungen (Belastung) im Beruf und in der Freizeit wird davon ausgegangen, dass der belastete Mensch nicht nur passiv „Opfer“ einer Belastung ist. Er reagiert auf die physische Anforderung, indem er einerseits versucht, die Beanspruchung zu verringern: Die Ausführung einer Tätig-keit kann z. B. durch verbesserte Koordination des Bewegungsablaufs optimiert wer-den, so dass die Beanspruchung sinkt. Der Mensch passt sich funktionell an die Auf-gabe an. Die Fähigkeit zur Bewältigung der Belastung kann durch Training die Aus-dauer und die Kraft der beteiligten Muskeln und des Herz-Kreislauf-Systems verbes-sern sowie andere Strukturen wie Gelenke, Knochen, Sehnen und Bänder optimieren und damit die Beanspruchung mindern. Das Muskel-Skelett-System (MSS) lebt von der Beanspruchung. Alle körperlichen Voraussetzungen für das Bewältigen von An-forderungen benötigen ein ständiges Training, um sie wenigstens zu erhalten oder sie zu verbessern bzw. zu fördern. Das gilt nicht nur für Muskeln, sondern auch für Knochen, Sehnen und den Gelenkknorpel: Das biologische Prinzip dynamisch-physiologischer Gleichgewichte kann durch die U-Kurve des Belastungs-Beanspruchungs-Zusammenhangs beschrieben werden (Abb. 1.8; in Anlehnung an Hartmann et al. (2013)).

Aus physiologischer Sicht können grob folgende Belastungsbereiche unterschieden werden (Abb. 1.8):

Bereich 1: Optimalbereich der Beanspruchung: In einem mittleren Bereich der Belas-tung ist die Beanspruchung optimal, weil sie ständig erhaltende Reize setzt, aber keine nachteiligen Effekte auf die Funktionen und Strukturen des MSS zur Folge hat.

Bereich 2: Überfordernde Beanspruchung bei zumutbarer Belastung: Eine Bean-spruchung kann individuell zu hoch sein, weil die individuelle Anpassung des MSS an physische Belastungen unzureichend ist. Dieses Anpassungsdefizit bemisst sich an den alters- und geschlechtsspezifischen Normen der Erwerbsbevölkerung. Ursa-chen sind u. a. dauerhafte körperliche Unterforderung durch Schonung, physisch in-aktiven Lebensstil, Arbeit mit Bewegungsmangel. Belastungen treffen auf ungenü-gend vorbereitete Strukturen und führen zu Überforderungen. Das Gesundheitsrisiko steigt.

Bereich 3: Überfordernde Beanspruchung bei hoher Belastung: Übersteigen die Ar-beitsbelastungen ein Niveau, welches unter soziokulturellen Rahmenbedingungen als akzeptabel oder als eben noch tolerabel einschätzt wird, so steigt für die meisten Menschen die Beanspruchung erheblich an. Bei der Überschreitung akzeptabler Be-lastungen ist eine Überbeanspruchung auch für „normal belastbare Personen“ mög-lich. Bei Überschreitung der Schwelle tolerabler zu intolerablen Belastungen gelten die Belastungen für die meisten Beschäftigten als gesundheitsgefährdend.

Bereich 4: Unterforderung durch dauerhaft geringe Beanspruchung: Für viele Be-schäftigte besteht heute nicht mehr die Gefahr der körperlichen Überforderung, da für sie körperlich leichte Bildschirmarbeiten bei teils hohen psychomentalen Belas-tungen aus der Arbeit und ihren Bedingungen typisch sind. Ausgeprägte körperliche Unterforderung über viele Stunden aller Arbeitstage mit geringem Spielraum sponta-ner Mobilität und Bewegung (z. B. sogenannte aktenlose Arbeit in Verwaltungen) be-seitigt Belastungsreize, die zur Erhaltung der Gesundheit dienen können. Die Unter-forderung wird im Gegensatz zu ÜberUnter-forderungen nicht direkt als nachteilig und zeit-weilig sogar als komfortabel erlebt. Ihre Folgen stellen sich mittelfristig ein über eine Dekonditionierung durch Trainingsmangel mit Überforderungen bei zumutbaren Be-lastungen (s. o.) und in Form von Beschwerden im körperlichen Bereich (muskuläre Verspannungen und Dysbalancen, abnehmende Belastungstoleranz von Muskeln und Gelenken, erhöhte Stresssensibilität etc.).

Die in Freizeit und Arbeitswelt vorkommenden physischen/motorischen Anforderun-gen beinhalten so immer Anteile, die zum Erhalt und Aufbau der motorischen und kardio-pulmonalen Fähigkeiten und der Beanspruchbarkeit des Muskel-Skelett-Systems notwendig sind. Andererseits führen physische Anforderungen bei entspre-chender Intensität und Häufigkeit des Auftretens sowohl kurz- als auch langfristig zu Fehlbeanspruchungen und zu gesundheitlichen Problemen bzw. charakteristischen Erkrankungen. Zu unterscheiden sind jedoch physische Anforderungen bei sportli-chen oder anderen körperlisportli-chen Aktivitäten in der Freizeit und der Arbeitswelt. Im Sport werden beispielsweise physische Anforderungen zum Training der Kraft, Aus-dauer und Koordination bewusst ausgewählt, über kurze Zeiten, mit relativ hohen In-tensitäten, im Training kontrolliert und sicher sowie mit den notwendigen Erholungs-zeiten ausgeführt. Im Setting Arbeit dagegen ergeben sich physische Anforderungen aus der Arbeitsaufgabe, werden über lange Zeiträume (Arbeitsschicht, Arbeitswoche, Arbeitsleben) und ohne Trainingskontrolle ausgeführt. Pausen- und Erholungszeiten sind durch Arbeitsschicht, Wochenrhythmus sowie Urlaube vorgegeben. Das vorlie-gende Projekt bezieht sich auf physische Anforderung der Arbeitswelt und geht

da-her davon aus, dass für definierte physische Anforderungstypen (Heben und Tragen von Lasten, Ziehen und Schieben von Lasten, repetitive Arbeit, Ganzkörperkräfte, Körperfortbewegung, Körperzwangshaltungen) mit zunehmender Häufigkeit und In-tensität der Anforderungen auch kontinuierlich das Risiko für das langfristige Auftre-ten von Fehlbeanspruchungen und damit gesundheitlichen Risiken steigt. Näheres wird in Kapitel 2 bei der Vorstellung des zugrundeliegenden Risikokonzepts und der Belastungsarten dargestellt.

Abb. 1.8 U-Kurve des Zusammenhangs zwischen physischer Belastung und Be-anspruchung im Bereich von Optimum, Überforderung und Unterforde-rung (in Anlehnung an Hartmann et al. (2013)). Legende: Bereich 1:

Optimalbereich der Beanspruchung, Bereich 2: Überfordernde spruchung bei zumutbarer Belastung, Bereich 3: Überfordernde Bean-spruchung bei hoher Belastung, Bereich 4: Unterforderung durch dau-erhaft geringe Beanspruchung Abbildung wurde im Vergleich zum Stu-dienprotokoll leicht modifiziert

Methoden zur Bewertung, Beurteilung und Gestaltung von 1.2.2

physischen Belastungen in der Arbeitswelt

International existiert eine Reihe von Verfahren, mit denen sich physische Belastun-gen – mit dem Schwerpunkt auf biomechanischen BelastunBelastun-gen – beurteilen lassen.

Takala et al. (2010) führten eine umfangreiche Recherche zu dieser Thematik durch.

In einem systematischen Review recherchierten sie in wissenschaftlichen Datenban-ken und im Internet Beobachtungsmethoden, die zwischen den Jahren 1965 bis 2008 veröffentlicht wurden. Eine Methode wurde in das Review aufgenommen, wenn es sich in erster Linie um eine systematische Beobachtungsmethode mit dem Fokus auf den auf die Beschäftigten einwirkenden Belastungen handelte und die Methode eindeutig in der Literatur beschrieben wurde. Analysiert wurden die Methoden insbe-sondere hinsichtlich der folgenden Gütekriterien:

1. Kriteriumsvalidität (Korrelation des Bewertungsergebnisses [z. B. Risikoscore]

mit Muskel-Skelett-Beschwerden),

2. Konvergenzvalidität (Korrelation der Ergebnisse mit anderen Verfahren) sowie 3. Intra- und/oder Inter-Rater-Reliabilität (Ausmaß der Übereinstimmungen der

Be-urteilungsergebnisse bei unterschiedlichen Beobachtern bzw. zweimaliges Ein-schätzen durch den gleichen Beobachter zu unterschiedlichen Zeitpunkten).

Takala et al. (2010) identifizierten 30 Beobachtungsmethoden, welche die o. g. Ein-schlusskriterien ihrer systematischen Recherche erfüllten. Davon wurden 19 Metho-den mit mindestens einem anderen Verfahren verglichen (Prüfung der Konver-genzvalidität). Hierbei ergaben sich moderate bis gute Übereinstimmungen. Bei le-diglich 12 der 30 Methoden wurde eine Assoziation zwischen dem Bewertungser-gebnis und den Beschwerden im Bereich des Muskel-Skelett-Systems berichtet, wel-che in Querschnittsstudien erhoben wurden, darunter bei zwei Methoden zusätzlich in Längsschnittstudien.

Über Intra- und Inter-Rater-Reliabilität wurde in 7 bzw. 17 Methoden berichtet und meist mit „mäßig“ oder „gut“ beurteilt. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass Methodenanwender mit gutem Training konsistente Ergebnisse erreichen können.

Zwar existiert eine Vielzahl von Beobachtungsmethoden, allerdings ist keine der be-trachteten Methoden wirklich überlegen und erfüllt alle genannten Gütekriterien zu-friedenstellend (Takala et al., 2010).

Somit besteht die Notwendigkeit, bei zukünftigen Methodenentwicklungen Gütekrite-rien wie die Konvergenz mit anderen Verfahren, die Intra- und Interrater-Reliabilität und den Zusammenhang mit gesundheitlichen Outcomes wie Beschwerden oder Di-agnosen zu prüfen.

1.3 Das Projekt MEGAPHYS: Zielsetzung, Konzepte,