• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Ärzteprotest in Berlin: „Freiheit statt Sozialismus“" (29.09.2006)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Ärzteprotest in Berlin: „Freiheit statt Sozialismus“" (29.09.2006)"

Copied!
3
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 39⏐⏐29. September 2006 A2505

P O L I T I K

B

erlin-Mitte, Gendarmenmarkt, 22. September: In der warmen Mittagssonne schlendern Besucher über den Platz oder machen es sich an den Tischen der Cafés bequem.

Nur eine Bühne und einige wenige Stände signalisieren, dass noch Grö- ßeres geplant ist. Von 13 Uhr an soll die vierte Demonstration in diesem Jahr in Berlin mit Teilnehmern aus dem ganzen Bundesgebiet der Öf- fentlichkeit zeigen, dass der Unmut von Ärzten, Zahnärzten, Psychothe- rapeuten und Praxismitarbeiterinnen über die Gesundheitspolitik nach wie vor groß ist.

Kurz zuvor stimmen Vertreter der Allianz Deutscher Ärzteverbände, die rund 40 Organisationen reprä- sentiert, die Medien ein. „Der Ar- beitsentwurf atmet den Geist des Sozialismus. Er muss gestoppt wer- den“, verlangt der Präsident des Be- rufsverbands Deutscher Internisten, Dr. med. Wolfgang Wesiack. Dr.

med. Kuno Winn, Vorsitzender des Hartmannbunds, kritisiert an den

bisherigen Plänen zur Gesundheits- reform staatsmedizinische Tenden- zen und die auf 2009 verschobene Verbesserung der Honorarsituation:

„Wir sind betrogen worden.“

„Die niedergelassenen Ärzte sind in erster Linie enttäuscht über die Bundeskanzlerin“, ergänzt Dr. med.

Werner Baumgärtner, Vorsitzender von Medi Deutschland. Soll heißen:

Sie sind enttäuscht von der CDU.

Deswegen haben sie die vierte Pro- testveranstaltung in diesem Jahr un- ter das Motto „Freiheit statt Sozia- lismus“ gestellt, den alten Wahl- kampfslogan der Union aus dem Jahr 1976.

Reform „wie Gammelfleisch“

Baumgärtner weist darauf hin, dass die Rahmenbedingungen in der am- bulanten Versorgung schon lange nicht mehr stimmen: „Begrenztes Geld hat begrenzte Leistungen zur Folge. Die bereits bestehende Ratio- nierung wird künftig noch ver- schärft werden“, ist er überzeugt.

Wie andere Vertreter ärztlicher Ver- bände droht auch Baumgärtner da- mit, dass die niedergelassenen Ärzte ihrem Unmut demnächst durch län- gere Praxisschließungen Luft ma- chen würden, wenn sich nichts än- dere. Außerdem bereite Medi den Ausstieg aus dem System vor: „Wir werden nicht so lange bleiben, bis die Lichter ausgehen.“

In der Zwischenzeit hat sich der Gendarmenmarkt langsam, aber stetig gefüllt. Rund 12 000 Demon- stranten sind aus ganz Deutschland angereist. Viele tragen T-Shirts mit Slogans wie „Arzt (Ärztin) im Aus- nahmezustand“ oder „Der Name Freie Ärzteschaft ist Programm“.

Etliche halten Plakate hoch: „Geiz macht krank“ steht darauf oder

„Die Gesundheitspolitik ist wie Gammelfleisch – für alle ungenieß- bar“.

Für die ersten Redner gibt es viel Beifall. Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärzte- kammer, lobt: „Ich bin sehr stolz auf die Ärztinnen und Ärzte, dass sie, die über Jahrzehnte nie auf die Straße gegangen sind, die ihre Frei- zeit am Krankenbett verbracht ha- ben, jetzt endlich aufgestanden sind, um klarzumachen: ,So geht es nicht mehr weiter.‘ “ Das Zukunftsmodell einer auf Kapitaldeckung basieren- den Krankenversicherung werde de- montiert, um den Weg frei zu ma- chen für eine staatlich kontrollierte Einheitszwangsversicherung mit Zuteilungsmedizin und Abschaf- fung der Therapiefreiheit für Patien- ten und Ärzte.

Die Politik müsse wissen, dass eine Reform gegen Patienten und Ärzte keinen Bestand haben werde, betont Hoppe: „Wir bleiben nicht mehr ruhig.“ Am 24. Oktober wer- de die verfasste Ärzteschaft mit einem außerordentlichen Ärztetag ÄRZTEPROTEST IN BERLIN

„Freiheit statt Sozialismus“

Es war das Motto, mit dem die Union 1976 die SPD im Wahlkampf herausforderte.

30 Jahre später machen protestierende Ärzte bei ihrer vierten großen Demonstration damit klar, was sie von der Gesundheitspolitik vor allem der Union halten: nichts.

Widerstand:

„Wir werden uns mit aller Kraft dage- gen wehren, den Arztkittel gegen die Zwangsjacke des Staatsmediziners einzutauschen“:

Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bun- desärztekammer, vor 12 000 Demon- stranten.

(2)

A2506 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 39⏐⏐29. September 2006

P O L I T I K

„ein weiteres deutliches Zeichen setzen“.

Klare Worte wählt auch Dr. med.

Maximilian Zollner. Der Vorsitzen- de des NAV-Virchow-Bunds be- mängelt, dass die Große Koalition die Weichen in der Gesundheitspoli- tik in eine völlig falsche Richtung gestellt habe. Die Ergebnisse erin- nerten längst an eine rote Wander- düne: „Sie verschiebt sich immer weiter nach links, in Richtung mehr Gleichmacherei auf niedrigerem Ni- veau.“ Dass dies unter Beteiligung der bürgerlichen Mitte geschehe, sei der eigentliche Skandal.

Zur Teilnahme an Protesten hat auch die Deutsche Psychotherapeu- tenvereinigung aufgerufen. Sie un- terstütze „in wesentlichen Punkten die von der Kassenärztlichen Verei- nigung (KBV) und den KVen vorge- tragenen Argumentationen gegen Absichten der Gesundheitspolitik, die Budgetierung fortzusetzen“. Die Verteilung der Gesamtvergütung habe zu massiven Honorarunge- rechtigkeiten zulasten der Psycho- therapeuten geführt. Durch eine fortgeführte Budgetierung bleibe ei- ne Unterfinanzierung des Gesamt- systems von mehr als 30 Prozent über alle Fachgruppen bestehen.

Die KBV selbst begrüßt die De- monstration ebenfalls. Dass der Pro- test ursprünglich auch gegen sie ge- richtet sein sollte, weil die KBV sich im Sommer nicht uneingeschränkt für die Ablösung des Sachleistungs- prinzips durch eine Kostenerstat- tung einsetzte – das ist kein Thema.

Nun solidarisieren sich die beiden KBV-Vorstände Dr. med. Andreas Köhler und Ulrich Weigeldt: „Sie geben der Politik ein deutliches Sig- nal, dass eine verschärfte Budgetie- rung mit den Vertragsärzten nicht zu machen ist.“

„Ich begrüße unsere Chefs“, ruft auf dem Gendarmenmarkt Brigitte März vom Verband medizinischer Fachberufe. Von den neuerlichen Gesundheitsreformen, stellt sie klar, seien allein 500 000 Frauen betrof- fen, die in Arzt- und Zahnarztpraxen arbeiteten. Eine anhaltende Budge- tierung und Honorarverluste mach- ten sich bei den Praxismitarbeiterin- nen in Form von Lohnsenkungen

und Minijobs bemerkbar. Man solle aber nicht an Praxismitarbeiterinnen sparen, sondern besser mit ihrer Hil- fe Effizienzreserven heben, sagte März.

Erfolg durch Solidarität

„Ulla muss weg“, skandiert der De- monstrationszug auf seinem Weg durch Berlins Mitte. Routinierter als noch vor einigen Monaten treten auch die Demonstrationsredner der Abschlusskundgebung auf. Der er- fahrenste unter ihnen, Dr. med.

Frank Ulrich Montgomery, wird mit tosendem Applaus bedacht. Mo- natelang haben der Vorsitzende der Klinikärztegewerkschaft Marburger Bund und die Ärzte an Universitäts- kliniken und kommunalen Kranken- häusern mit den Tarifpartnern um mehr Gehalt und bessere Arbeitsbe- dingungen gerungen. „Unseren Er- folg verdanken wir auch der Solida- rität der niedergelassenen Kolle- gen“, sagt Montgomery. Gemein- Fantasievoll, aber

unversöhnlich:

Ärzte, Psychothera- peuten, Praxismitar- beiter und Patienten wehren sich gemein- sam gegen die jüng- sten Reformpläne.

(3)

Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 39⏐⏐29. September 2006 A2507

P O L I T I K

sam müssten nun alle Ärztinnen und Ärzte gegen die Gesundheitspolitik der Bundesregierung kämpfen.

Für Montgomery sind die ge- sundheitspolitischen Aussagen der Koalition nichts anderes als „Neu- sprech“. George Orwell bezeichnet damit in seinem Science-Fiction- Klassiker „1984“ eine von der Ob- rigkeit veränderte Sprache. Mit ihr sollen die eigentlichen Bedeutun- gen der Wörter verschleiert werden.

Nichts anderes sei das, was man von der Großen Koalition derzeit zur Gesundheitsreform höre. Schon ihr Name sei irreführend: „Wettbe- werbsstärkungsgesetz“. Dahinter verberge sich das Ende des Wettbe- werbs. Statt die Honorarbudgets der Vertragsärzte wie versprochen ab- zuschaffen, würden sie sogar noch erweitert. Und auch die private Krankenversicherung werde nicht gestärkt, sondern in Wirklichkeit ihrer wirtschaftlichen Grundlagen beraubt.

Etliche der demonstrierenden Ärzte empfinden dies ähnlich. „Die Politik sollte offen sagen, wo sie hin will“, meint ein junger Vertrags- arzt aus Nordrhein-Westfalen. Für Dr. med. Christian Wiese, Kinder- arzt aus Essen, gehen die Beschlüs- se der Politik gänzlich in die falsche Richtung. Vor allem die Fort- führung der Honorarbudgets sei ein Fehler. Eine Arzthelferin aus Rheinland-Pfalz bestätigt dies:

„Meinem Chef wird es schwer ge- macht, den Praxisalltag zu mei- stern. Und auch wir Mitarbeiter be- kommen den Druck der Politik zu spüren.“

Aber auch Patienten solidarisier- ten sich mit den protestierenden Ärzten und nähmen an der Demon- stration teil, sagt Gabi Thiess von der Fibromyalgie-Interessengemein- schaft. Praxisgebühr, Zuzahlungen und Einschränkungen von Verord- nungen belasteten vor allem chro- nisch Kranke. Viele von ihnen fühl- ten sich heute schon als Bittsteller vor ihren Ärzten. Darunter leide das Arzt-Patienten-Verhältnis. „Wir Pa- tienten haben keine Lobby. Deshalb wollen wir nicht länger schweigen“, begründet Thiess ihre Teilnahme an der Demonstration. Dabei sei es eigentlich ein Armutszeugnis, dass Ärztinnen und Ärzte gezwungen seien, für ihre legitimen Rechte auf die Straße zu gehen.

Ob hinter dem umstrittenen Vor- haben der Bundesregierung System steckt oder allenfalls Unvermögen, die gewaltigen Probleme adäquat zu lösen, vermag kaum ein Demon- strant zu beurteilen. Wenn es über- haupt einen roten Faden in den Re- formbestrebungen gibt, dann ist es der, den staatlichen Einfluss auf die Selbstverwaltungspartner weiter aus- zubauen.

„Der Staat will keine freiberuf- lich tätigen Ärzte mehr. Das ist ein Skandal“, sagt Martin Grauduszus, Präsident der Freien Ärzteschaft und Mitinitiator der Großdemon- stration. Seine Kritik richtet sich aber auch gegen die KVen, die er für die Misere mitverantwortlich macht.

Deshalb gibt es für ihn keine Alter- native zu einem System der Direkt- abrechnung zwischen Ärzten und Patienten.

Ähnlich kritisch äußert sich auch Dr. med. Tim Behme zur KV.

Mehr Sorgen bereitet ihm aber der eingeschlagene Weg der Politik in Richtung Staatsmedizin. Behme hält eine knallrote Fahne in der Hand, darauf die Konterfeis von Lenin, Marx, Engels und – Prof.

Dr. med. Karl Lauterbach, ehema- liger Regierungsberater und jetzi- ger SPD-Abgeordneter im Bun- destag. Für viele Ärzte ist Lauter- bach der Wegbereiter immer neuer Einschnitte des Staates in ihre Freiberuflichkeit.

Dass Ärzte im Auftrag der Krankenkassen die Praxisgebühr kassieren müssten, sei alleine schon Grund genug zu demonstrie- ren, sagt Behme. „Geht es mit der staatlichen Einflussnahme weiter, steht am Ende des Weges ein Ein- heitsgehalt für alle Ärzte“, warnt der Berliner Augenarzt.

Millionen auf die Straße Rund um den Gendarmenmarkt ver- folgen zahlreiche Zaungäste die Kundgebung. Eine Steuerfachange- stellte genießt auf einer Bank ihre Mittagspause. Ob sie Verständnis für die protestierenden Ärzte habe?

Sie antwortet mit einer Gegenfrage:

„Sind das Krankenhausärzte oder Niedergelassene? Mit Ärzten in ei- gener Praxis hatte ich beruflich zu tun. Da gibt es große Unterschiede.

Manchen geht’s gut, manchen schlecht. Insgesamt hat sich die Lage der Ärzte in den letzten Jahren sicher verschlechtert, zumindest kla- gen viele.“

Ein pensionierter Lehrer aus Ber- lin will von einem Polizisten wis- sen, wie viele Demonstranten es denn seien auf dem Gendarmen- markt. Und er hat Verständnis für die Ärzte. „Seit 20 Jahren wird an der Gesundheitsreform gebastelt, keine Regierung hat es geschafft, ein vernünftiges Gesetz zu machen.

Dieses Häuflein Ärzte wird auch nichts bewegen.“ Der Pensionär hält es nicht für aussichtsreich, wenn nur eine Berufsgruppe prote- stiert, und empfiehlt Frankreich als Vorbild: „Dort gehen Millionen auf die Straße, die können wirkliche Veränderungen bewirken.“ I Samir Rabbata, Sabine Rieser Schwere Last:

Die Ärzte wollen wei- ter ihren Patienten helfen, aber nicht im Übermaß die Lasten einer neuen Gesund- heitsreform tragen.

Fotos:Georg J.Lopata

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Während „La Presse“, die sich vorwiegend an Ärzte in Universitäts- kliniken richtet, 1946/47 häufig und ausführlich berichtete (und über die Motive rätselte, die Ärzte zu

dass Ärzte nicht mehr nach medizi- nischen Gesichtspunkten entschei- den können, dass sie keine Zeit mehr für menschliche Zuwendung haben, dann werden die Patienten unzufrieden –

Hinsichtlich der Auswirkungen der Telematik auf die Patient-Arzt- Beziehung wird festgestellt, dass zur Wahrung von Patientenautono- mie und ärztlicher Therapiefreiheit die

Hoppe: Viele diagnostische Eingriffe, die man früher zeitlich gestreckt hätte – nicht, weil man Geld verdienen, sondern weil man den Kranken nicht zu viel zumuten wollte – werden

Jörg-Dietrich Hoppe, Berlin Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages und Präsident der Ärztekammer

Sein dortiges Arbeitszimmer verrät mehr über den Menschen Hoppe, als die öffentliche Person normalerweise preisgibt: neben dem Mikroskop auf dem Schreibtisch eine abgegriffene

Hoppe: Man muss die Menschen fra- gen, ob sie wirklich wollen, dass unser Ge- sundheitssystem mit den heute zur Verfü- gung stehenden Mitteln auszukommen hat oder ob sie nicht

Der In- halt und Wert dieses Bildungsab- schnittes wäre ja durch die Klä- rung des Status völlig gleichwertig dem einer zweijährigen echten Weiterbildung im Sinne unserer