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Archiv "Serie - Alkoholismus: Psychische und soziale Folgen chronischen Alkoholismus" (19.10.2001)

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ei der Alkoholabhängigkeit handelt es sich um eine in aller Regel chro- nische oder chronisch rezidivieren- de Erkrankung, die nicht nur durch eine übersteigerte Trinkmenge, sondern ge- rade auch durch die körperlichen, soma- tischen und sozialen Folgeschäden cha- rakterisiert ist (18, 20, 21). So führen so- wohl ICD-10 (Diagnose: Abhängigkeits- syndrom F10.2) sowie das DSM-IV der American Psychiatric Association unter den diagnostischen Leitlinien psychische und soziale Folgeschäden als ein diagno- stisches Kriterium auf. Die ICD-10 nennt dazu unter anderem „fortschrei- tende Vernachlässigung anderer Ver- gnügen oder Interessen zugunsten des Substanzkonsums... anhaltender Sub- stanzkonsum trotz Nachweises eindeuti- ger schädlicher Folgen...“; das DSM-IV führt an: „Wichtige soziale berufliche oder Freizeitaktivitäten werden auf- grund des Substanzmissbrauchs aufge- geben oder eingeschränkt...“

Die einzelnen bei Alkoholkonsum auftretenden Folgeschäden sind so zahlreich, dass sie sich auch einer sum- marischen Aufzählung fast entziehen (3, 18, 20). Im Folgenden wird eine kur- ze Synopsis der wichtigsten sozialen und psychischen Folgen gegeben.

Psychische Folgen

Die durch Alkohol induzierten psychi- schen Verhaltensstörungen sind zahl- reich. Einige distinkte neuropsychiatri- sche Folgeschäden, wie sie bei Alkoho- lismus häufig auftreten, sind von komor- bid vorliegenden psychischen Störungen sowie eher generellen psychosozialen Folgen des Alkoholismus zu differenzie- ren. Zu nennen sind die verschiedenen Formen von Alkoholintoxikationen,

Entzugssyndrome mit und ohne Delir, Krampfanfälle, psychotische Störungen, durch Alkohol bedingte anamnestische Syndrome (Synonym: Korsakow-Syn- drom) sowie andere, seltener diagnosti- zierte Folgeschäden, wie zum Beispiel affektive Störungen oder kognitive Be- einträchtigungen. Die organpathologi- schen Veränderungen, die mit chroni- schem Alkoholismus einhergehen, wur- den bereits im Zuge dieser Serie in dem Beitrag „Alkoholassoziierte Organschä- den“ von Singer und Teyssen in Heft 33 dargelegt.

Komorbidität mit psychischen Störungen

Zur Frage der Komorbidität von Alko- holabhängigkeit mit psychischen Stö- rungen liegen eine Reihe recht genauer Untersuchungen vor. In der breit ange- legten US-amerikanischen „epidemiolo-

Serie: Alkoholismus

Psychische und

soziale Folgen chronischen Alkoholismus

Zusammenfassung

Psychische und soziale Schäden gehören zum klinischen Bild des chronischen Alkoholismus.

Zu den häufigsten Folgeschäden zählen neben einer hirnorganischen Leistungsminderung Be- einträchtigungen von Gedächtnis, Aufmerk- samkeit, kognitiver Leistungsgeschwindigkeit, visuell räumlicher Wahrnehmung und Abstrak- tionsvermögen sowie organische Persönlich- keitsveränderungen im Sinne einer zunehmen- den Entdifferenzierung und Nivellierung (De- privation). Häufig übersehen wird die Komorbi- dität von Alkoholismus mit psychischen Störun- gen, zum Beispiel affektiven Erkrankungen, Angsterkrankungen oder Schizophrenie. Die sozialen Auswirkungen betreffen insbesondere die Bereiche Familie, Arbeit und Öffentlichkeit.

Familien Alkoholkranker sind häufig zerrüttet;

den Kindern fehlen positive Leitfiguren. Neben alkoholassoziierten Arbeitsunfällen führt chro- nischer Alkoholismus im Berufsleben zu häufi- gen Krankheitstagen. Entlassungen und Ar- beitslosigkeit sind oft die Folge. Besonders mar- kant ist die Bedeutung des chronischen Alkoho-

lismus auf die Delinquenz, einschließlich Ver- kehrsdelikten. Etwa jede vierte Gewalttat und 17 Prozent der tödlichen Verkehrsunfälle erfol- gen unter Alkoholeinfluss. Zu einer effektiven Diagnostik und Therapie des Alkoholismus ist neben der Feststellung somatischer Befunde die Erfassung psychischer und sozialer Folgen, auch für die Langzeitprognose, bedeutsam.

Schlüsselwörter: Alkohol, Alkoholabhängig- keit, Arbeitswelt, psychische Schäden, Delin- quenz

Summary

Psychiatric and Social Consequences of Chronic Alcoholism

Psychiatric and social consequences of chronic alcoholism are frequent complications in the course of the disorder. Cognitive dysfunction with impairment of memory and attention, among others, and changes of personality with decline of personal integrity and deprivation are severe consequences of alcoholism as are the social consequences for family, employ-

ment, public and delinquency. The comorbidity of alcoholism with affectice disorder, anxiety or schizophrenia is frequently overlooked.

Both family members and collegues at the workplace may on one hand function as a co-alcoholic in a desperate effort to control the alcohol intake and avoid negative consequen- ces for the individual and on the other hand may suffer from the consequences of con- tinuous alcohol intake. Children of alcoholics often grow up in broken homes without orientation. Alcoholism has major impact on delinquency and traffic safety. Approximately every fourth violent act is committed under the influence of alcohol with significant higher rates for homicide and manslaughter. 17 per cent of fatal accidents are a result of alcohol intoxication. For diagnosis and treatment of alcoholism the detection of psychiatric and social consequences of alcoholism are of great importance. They are also of relevance for the patient’s prognosis.

Key words: alcohol, alcoholism, working place, psychiatric consequences, delinquency

Psychiatrische Klinik (Direktor: Prof. Dr. med. Hans-Jür- gen Möller) der Ludwig-Maximilians-Universität, Mün- chen

Michael Soyka

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gic catchment area (ECA) study“ wiesen 37 Prozent der Personen mit Alkohol- abhängigkeit oder -missbrauch eine ko- morbide psychische Störung auf (15).

Untersuchungen in klinischen Kollekti- ven ergaben vermutlich aufgrund eines Selektionsbias noch erheblich höhere Prävalenzraten für psychische Störungen (16). Klinisch relevant ist die Differenzie- rung in primäre (zeitlich dem Alkoholis- mus vorangehende) oder sekundäre psy- chische Störungen. Die retrospektive Einschätzung ist häufig schwierig. Einige Befunde deuten darauf hin, dass Depres- sionen bei Alkoholabhängigkeit häufig eher sekundär auftreten, Angststörun- gen dagegen öfter primär (2). Die Über- gänge sind aber fließend, und die Daten- lage ist sehr heterogen (10, 19).

Recht genaue Erkenntnisse zur Häu- figkeit psychischer Störungen bei Alko- holabhängigkeit lieferte die Münchener Follow-up-Studie (1), die auf einer ur- sprünglich 1974 gezogenen Bevölke- rungsstichprobe basiert. Ein Teil dieser Stichprobe wurde 1981 für eine zweite Untersuchung herangezogen (n=455).

Dabei ergaben sich folgende Häufigkei- ten für komorbide psychische Störun- gen bei Alkoholabhängigkeit: Phobien traten bei 14,7 Prozent der Alkoholab- hängigen auf, Panikstörungen bei 8,7 Prozent, Dysthymien bei 6,8 Prozent, majore Depressionen bei 9,8 Prozent, (andere) Substanzstörungen bei 5,9 Prozent, Somatisierungsstörungen bei 2,0 Prozent, Zwangsstörungen bei 1,0 Prozent. 29 Prozent der Personen mit Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit wiesen mindestens eine weitere psychi- sche Störung auf im Vergleich zu 22,5 Prozent der Kontrollen. Auffallend erhöhte Prävalenzen ergaben sich gegenüber den nichtalkoholkranken Personen insbesondere für Panik- störungen (Vergleichsgruppe 1,3 Pro- zent), Dysthymien (Vergleichgruppe 3,3 Prozent) und Substanzstörungen (Vergleichsgruppe 1,5 Prozent).

Andere Befunde deuten darauf hin, dass Patienten mit Schizophrenie ein überaus gesteigertes Risiko für Sub- stanzmissbrauch haben. Dies wurde so- wohl in klinischen Kollektiven als auch in epidemiologischen Untersuchungen wie zum Beispiel der oben erwähnten ECA-Studie gefunden. Dabei betrug die Prävalenzrate für Alkoholmiss-

brauch und -abhängigkeit bei Schizo- phrenen über 30 Prozent und war ge- genüber der übrigen Bevölkerung etwa vierfach erhöht. Auch andere klinische und epidemiologische Untersuchungen stützten diesen Befund (21).

Laufende Untersuchungen wie die Studie „early developmental stages of psychopathology (EDSP)“ in München sowie die Studie „transitions in alcohol consumption and smoking (Tacos) in Lübeck können weitere Erkenntnisse zur Komorbidität von Alkoholismus mit psychischen Störungen liefern.

Neben affektiven Störungen können eine Reihe von kognitiven Defiziten nach chronischem Alkoholkonsum auf- treten. Aus einer Vielzahl von Untersu- chungen ist bekannt, dass Alkohol zu ausgeprägten strukturellen und funk-

tionellen Veränderungen im Nervensy- stem führt, insbesondere zur Schädi- gung im Bereich des Großhirns, einer Volumenverminderung im Marklager und kortikalen Schädigungen, die sich auch neuroradiologisch (CCT, NMR) darstellen. Volumenminderungen im Marklager und Kortex korrelieren nur bis zu einem gewissen Umfang mit Ein- bußen der kognitiven Leistungen (11).

Bei ausgeprägten Schädigungen kön- nen Störungen des Gedächtnisses und der Feinmotorik auftreten. Die neuro- psychologischen Defizite sind keinem spezifischen Schädigungsmuster des Gehirns zuzuordnen. Die Summe der Befunde spricht für eine leicht- bis mäßig ausgeprägte eher globale Ver- schlechterung der Hirnfunktion („mild generalized dysfunction hypothesis“,

14). Kognitive und visomotorische De- fizite sind unter Abstinenzbedinungen, teilweise aber nicht immer, reversibel.

Dazu gehören zum Beispiel Gedächt- nisdefizite, Beeinträchtigungen von Aufmerksamkeit und kognitiver Lei- stungsgeschwindigkeit sowie Abstrakti- onsvermögen und visuell-räumliche Wahrnehmung (12, 14).

Einige andere bei Alkoholabhängig- keit vorliegende psychosoziale Folge- schäden lassen sich quantitativ nur schwer erfassen, spielen aber für die Prognoseeinschätzung und Therapie Alkoholkranker eine große Rolle. Da- zu gehören vor allem bei chronischen Alkoholikern eine zunehmende Depri- vation sowie Änderungen der Persön- lichkeit im Sinne einer zunehmenden Entdifferenzierung und Nivellierung

(„entkernte Persönlichkeit“). Chroni- sche Alkoholkranke fallen häufig durch eine Vielzahl von psychischen Verhal- tensänderungen auf, ohne dass zum Beispiel differenzierte testpsychologi- sche Untersuchungen klare Beeinträch- tigungen etwa im Bereich der Kogniti- on ergeben. Zu diesen typischen Ver- haltensmerkmalen gehören eine Einen- gung der persönlichen Interessen auf Aufrechterhaltung der Sucht, die be- reits angesprochene Vernachlässigung anderer Interessen und Vergnügen, De- fizite im Bereich Körperpflege und Hy- giene, eine affektive, mitunter auch se- xuelle Enthemmung, auch unabhängig von dem jeweiligen Grad der Intoxika- tion. Schließlich kann zu den psychi- schen Störungen im weitesten Sinne auch eine erkennbar gesteigerte Ag- Grafik 1

Täterkriterien beim aufgeklärten Fall: Alkoholeinfluss 1997 (aus 16)

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gressionsbereitschaft durch Verminde- rung hemmender psychischer Mecha- nismen sowie eine mehr oder weniger ausgeprägte Delinquenz kommen.

Soziale Auswirkungen

Soziale Störungen in Folge von Alko- holismus zeigen sich insbesondere in den Bereichen Familienleben, Arbeit, Öffentlichkeit und Delinquenz.

Familie

Die Wirkung eines chronischen Alko- holkonsums auf die Partnerbeziehung und die Familie insgesamt ist sehr kom- plex. Die Häufigkeit und das Ausmaß sozialer Störungen bei Abhängigen ist bislang vorwiegend in der Beratung und Behandlung Abhängiger themati- siert und untersucht worden, etwa im Kontext der Einleitung einer Rehabili- tationsmaßnahme, die der Wiederher- stellung der Arbeitsfähigkeit dient. Be- funde von Simon und Palazetti (17) zei- gen, dass 75 Prozent der weiblichen und 45 Prozent der männlichen Alkohol- kranken ein oder mehrere Kinder ha- ben, und dass in 45 Prozent beziehungs- weise 30 Prozent der Fälle diese Kinder auch im Haushalt der Betroffenen le- ben. 43 Prozent der Alkoholikerinnen und 37 Prozent der Alkoholiker sind verheiratet, 23 Prozent beziehungswei- se 19 Prozent geschieden.

Sichere Zahlenangaben zum Aus- maß psychischer Störungen bei Kin- dern von Alkoholkranken liegen nicht vor. Überträgt man skandinavische Schätzungen auf Deutschland so wür- den hier etwa 900 000 bis 1,6 Millionen Kinder alkoholkranker Eltern leben (16).

Partner und vor allem Partnerinnen Alkoholkranker, aber auch andere Fa- milienangehörige (Kinder, Eltern) übernehmen bei chronischen Abhän- gigkeitsentwicklungen oft die Führung und Verantwortung für die Familie.

Parallel zum Abhängigkeitsprozess des Betroffenen entwickeln die Partner häufig ein so genanntes Koverhalten (Koabhängigkeit, Koalkoholiker), in- dem sie das Verhalten des Betroffenen stützen, versuchen den Konsum zu kon- trollieren, eventuell auch mithelfen, das

tatsächliche Verhalten zu verschleiern und gegebenenfalls auch für den Part- ner lügen. Dies alles führt zu erhebli- chen Belastungen für die betroffenen Familienmitglieder und bedingt nicht selten eigene psychische und physische Erkrankungen der Angehörigen. Be- sonders betroffen sind Kinder Alkohol- kranker, die oft in einem Klima plötzli- cher Stimmungsumschwünge, chroni- scher Verunsicherung und Angst auf- wachsen und es schwer haben, eigene tragfähige Beziehungen aufzubauen, da ihnen das Erleben von Verlässlichkeit fehlt. Häufig werden die Kinder damit überfordert, indem sie früh Verantwor- tung für das betroffene Elternteil über- nehmen oder überhaupt in eine Er- wachsenenrolle hineingedrängt wer- den, der sie nicht gewachsen sind. Typi-

scherweise ist die Situation der Kinder Alkoholkranker geprägt durch Unsi- cherheit, soziale Isolation und einem Gefühl der Ohnmacht. Es muss nicht ei- gens betont werden, dass die eigentli- chen Erziehungsaufgaben von alkohol- kranken Eltern häufig nur ungenügend oder gar nicht wahrgenommen werden können. Nicht nur das innerfamiliäre Gefüge ändert sich, auch Freundschaf- ten gehen verloren, soziale Kontakte werden reduziert. Kontrollversuche, Enttäuschung und Misstrauen prägen die sozialen Interaktionen.

Familienangehörige Alkoholkran- ker sind zudem oft Opfer von Gewaltta-

ten. Sehr stark diskutiert wird in den letzten Jahren die Häufigkeit von sexu- ellem Missbrauch gerade in Familien von Suchtkranken. Dabei kann der se- xuelle Missbrauch später wiederum Be- deutung für einen Substanzmissbrauch oder andere psychische Störungen der Kinder haben. Gesichert ist, dass Alko- holkonsum häufig zur Enthemmung und vermehrter Aggression führt (8).

Mebes und Jeuck (13) nehmen an, dass 50 Prozent der Mädchen, die von sexuellem Missbrauch durch einen Mann in der Familie betroffen sind, gleichzeitigen Alkoholmissbrauch von Familienangehörigen erleben. Schät- zungen der Mitarbeiter der Suchtkran- kenhilfe zufolge sind 30 bis 35 Prozent der alkoholabhängigen Frauen auch se- xuell missbraucht worden. Die Daten- lage in diesem Bereich ist aber außerordentlich komplex.

Ein besonderes Problem stellt das fetale Alkoholsyn- drom (alkoholische Embryo- pathie) dar, das in westlichen Ländern mit Prävalenzraten zwischen 1:100 und 1:1 000 noch vor dem Down-Syn- drom die häufigste Ursache einer geistigen Retardierung darstellt. Das Risiko für Al- koholikerinnen, die während der Schwangerschaft trinken, ein Kind mit einer alkoholi- schen Embryopathie zur Welt zu bringen liegt bei 32 bis 43 Prozent, abhängig von der zu- geführten Alkoholmenge und dem Stadium der Chronizität (9). Leitsymptome der alko- holischen Embryopathie sind der pränatale Minderwuchs, verschie- dene körperliche Anomalien, insbe- sondere im Gesichtsbereich sowie ZNS- und Verhaltensstörungen, insbe- sondere eine geistige Retardierung, die häufig sehr ausgeprägt sein kann. Auf- grund eines hohen Informationsdefi- zits in der Öffentlichkeit, aber auch im ärztlichen Bereich ist davon auszuge- hen dass viele alkoholische Embryopa- thien nicht oder nicht rechtzeitig er- kannt werden. Für Deutschland wird nach Angaben des Gesundheitsbe- richts (16) seit 1998 mit immerhin 2 200 Kindern pro Jahr mit Alkoholembryo- pathie gerechnet.

Grafik 2

Alkoholunfälle mit Personenschäden – Vergleich alte versus neue Bundesländer und Ostberlin (aus 16)

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Arbeitswelt

Die Bedeutung des Alkoholkonsums für Störungen am Arbeitsplatz ist evident, und Arbeitslosigkeit ist ein häufiges Pro- blem für Alkoholkranke. Circa acht Pro- zent der Erwerbstätigen trinken täglich während der Arbeit Alkohol, vier bis sie- ben Prozent aller Berufstätigen sind al- koholabhängig (6). Es lassen sich auf- grund empirischer Studien einige Berufs- felder mit besonders hohem Risiko für die Entwicklung eines Alkoholismus de- finieren. Dabei handelt es sich zum einen um Berufe, die mit der Produktion und dem Vertrieb alkoholischer Getränke zu tun haben, um ungelernte Arbeiter, um so genannte „Durstberufe“ (Gießer, Köche, Heizer, Glasbläser, Drucker), aber auch um Metallberufe, Arbeit im Hafenbereich, so genannte Kontaktbe- rufe (Vertreter, Journalisten, Werbe- branche), nicht zuletzt aber auch um Freiberufler, einschließlich Ärzte und Apotheker (3).

Aus betriebsärztlicher Sicht ist die frühe Diagnose eines Alkoholismus besonders wichtig im Rahmen von Fahr-, Steuer- und Überwachungstätigkeiten sowie bei Arbeiten mit Absturzge- fahr (6). Die klinische Erfahrung zeigt, dass zumindest in Großfirmen, die häufig eigene Suchtberater haben, Alkohol- kranke am Arbeitsplatz angesprochen und entsprechende therapeutische Hil- fen angeboten und eingeleitet werden.

Bei chronischem Alkoholismus mit häufigen Krankheitstagen und nachlas- sender Arbeitsleistung kommt es, trotz betrieblicher Suchtprogramme aber oft zu Kündigungen und Arbeitslosigkeit.

Auch die Zahl der Arbeits- und Haus- unfälle unter Alkohol ist erheblich. Al- koholkonsum vermindert die psychische und kognitive Leistungsfähigkeit, insbe- sondere die motorische Geschicklich- keit, Koordination und Reaktionsver- mögen. Unfälle und Verletzungen sind häufige Folgen. Klare Zahlen liegen da- bei vor allem für Verkehrsunfälle vor.

Zur Beeinträchtigung der Arbeitswelt durch Alkoholismus können nur sehr un- gefähre Schätzungen angegeben werden.

Nach einer Statistik des Bundesdiszipli- naranwaltes von Els (5) sind arbeits- rechtlich von 3 060 nicht förmlichen Ver- fahren 1 025 wegen Alkoholverfehlun- gen eingeleitet wurden, von den 460

förmlichen Verfahren 277 aufgrund von Alkoholdelikten.

Im Jahr 1997 wurden wegen Alko- holabhängigkeit oder Alkoholpsychose (ICD-10-Diagnose) 6 500 Männer und Frauen frühberentet. Es ist allerdings davon auszugehen, dass bei vielen Be- rentungen oft nicht die primäre Grund- erkrankung sondern körperliche Folge- erkrankungen angeben werden (zum Beispiel Leberschädigung). Die Zahl der Arbeitsunfähigkeitsfälle wegen Al- koholpsychosen oder Alkoholabhängig- keit betrug nach Angaben des Bundes- ministerium für Gesundheit 1993 rund 92 200 .

Feuerlein (4) stellt fest, dass die be- rufliche Situation des Alkoholikers in vielfältiger Weise ungünstig beeinflusst wird. Die durch Alkohol verursachte Hirnschädigung und die damit verbun- dene Wesensänderung führen zu einer Verlangsamung des Psychomotorik und des Denkvermögens, zu einem Mangel an Konzentrationsvermögen, zu einem Nachlassen der sensorischen und moto- rischen Funktionen. Ferner kommt es zu einer Reduktion der Initiative und der Aktivität und zu weiteren Persön- lichkeitsveränderungen wie Unzuver- lässigkeit, mangelnde Sorgfalt, Gleich- gültigkeit, Gereiztheit und depressive Verstimmung. Andererseits wirken sie vielfach (in ihrem Bemühen nicht „auf- zufallen“ und das teilweise selbst began- gene Fehlverhalten zu kompensieren) oft „überangepasst“. Die Einengung des Interessenhorizonts auf den Alko- hol führt zu einer Ablenkung von der beruflichen Tätigkeit und einer Ver- schlechterung der Identifikation mit dem Beruf.

Damit ist eine vermehrte Unfallhäu- figkeit und ein vermehrtes unentschul- digtes Fernbleiben von der Arbeit ver- bunden. Die Folgen für den Betrieb sind eine Verlangsamung des Arbeitstem- pos, ein hoher Verschleiß an Werkzeu- gen und Material, eine Verminderung der Produktion in quantitativer und qualitativer Hinsicht. Schließlich sind auch noch die erheblichen zwi- schenmenschlichen Spannungen zu be- denken, die infolge des geschilderten Fehlverhaltens im Betrieb entstehen.

Dies alles führt zu einer Verunsicherung der Beziehungen mit den nichtalkohol- abhängigen Mitarbeitern und Vorge-

setzten, die dann zu gleichzeitiger Angst und Ablehnung führen kann.

Kollegen und andere Mitarbeiter kön- nen in ihrem Versuch durch Alkohol- missbrauch bedingte Fehlzeiten des Be- troffenen zu decken häufig in die Rolle eines Koalkoholikers gedrängt werden.

Der Alkoholiker verliert im Verlauf dieses oft kaskadenförmig fortschreiten- den Desintegrationsprozesses seine Au- toritätsposition, er wird schließlich zum Gegenstand einer negativen Stereotyp- position, schließlich kommt es zum be- ruflichen und sozialen Abstieg, der be- sonders deutlich in qualifizierten Beru- fen in Erscheinung tritt. Es kann daher nicht überraschen, dass Arbeitslosigkeit bei Alkoholismus ein häufiges Problem ist und die Kosten für die teilweise lang dauernde Arbeitsunfähigkeit bei Alko- holkranken auf 3,2 Milliarden DM ge- schätzt wurden (7). Der volkswirtschaft- liche Gesamtschaden durch Alkoholis- mus wurde sogar auf bis zu 50 bis 80 Mil- liarden DM geschätzt (7).

Zur Vermeidung alkoholbedingter betriebswirtschaftlicher Schäden fördern vor allem Großfirmen und Verwaltungen Alkoholprogramme insbesondere im Hinblick auf Prävention und Früherken- nung. Diese beinhalten Informationsver- anstaltungen, Kontaktaufnahme mit Fachkrankenhäusern und niedergelasse- nen Psychiatern, Aufbau von innerbe- trieblichen Suchtberatungsstellen, Än- derung der innerbetrieblichen Trinkge- wohnheiten (Alkoholausschank!) und Normen (zum Beispiel Verbilligung al- koholfreier Getränke) sowie im Zusam- menwirken der Unternehmensleitung und des Betriebs- und Personalrats auch ein Alkoholverbot (6). Tatsächlich stellt die alkoholbedingte Beeinträchtigung der Arbeitsleistung eine Verletzung der arbeitsvertraglichen Pflichten des Ar- beitnehmers dar, wobei der Krankheits- charakter des Alkoholismus zu berück- sichtigen ist, dieser aber nicht grundsätz- lich von den arbeitsrechtlichen Konse- quenzen entbindet. Alkoholismus ist so- zialrechtlich als Krankheit anerkannt.

Für Entgiftungsmaßnahmen zahlt der Krankenversicherungsträger, die Kosten von Entwöhnungsmaßnahmen über- nimmt in der Regel der Rentenversiche- rungsträger, allerdings nur auf Antrag.

Eine absichtliche Herbeiführung der Re- habilitationsbedürftigkeit kann zu einer

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Ablehnung der Kostenübernahme durch die Rentenversicherung führen. Wichtig ist auch, dass im Rahmen der gesetzli- chen Unfallversicherung kein Versiche- rungsschutz besteht, wenn der Alkohol- einfluss die überwiegende Unfallursache darstellt.

Delinquenz und Verkehr

Umfassende Angaben gibt es zur Bedeu- tung von Alkoholismus für die Delin- quenz und den Zusammenhang von Al- kohol und Gewalt. Klein (8) schätzt, dass täglich mindestens drei Tötungsdelikte in Deutschland verübt werden, bei denen der Tatverdächtige unter Alkoholein- fluss steht. Fragen der Alkoholbelastung spielen bei Schuldfähigkeitsbegutach- tungen entsprechend eine große Rolle.

Relativ genaue Daten gibt es zur Häufig- keit von Alkoholeinfluss bei verschiede- nen Straftaten (Grafik 1) sowie bei Un- fällen mit Personenschäden (Grafik 2).

Der Anteil aller aufgeklärten unter Alkoholeinfluss begangenen Straftaten liegt bei etwa sieben Prozent, wobei etwa jede vierte Gewalttat direkt unter Alko- holeinfluss geschieht (24,3 Prozent aller aufgeklärten Gewaltdelikte im Jahr 1997). Schwere Delikte, insbesondere Tötungsdelikte sind in noch höherem Ausmaße mit dem Einfluss von Alkohol assoziiert.

8,6 Prozent aller Verkehrsunfälle mit Personenschäden passieren unter Alko- holeinfluss, wobei die Zahl der bei Ver- kehrsunfällen mit Alkoholeinfluss getö- teten Personen 16,9 Prozent beträgt (Ab- bildung 2). Alkoholismus spielt also vor allem bei schweren Unfällen, insbeson- dere mit letalem Ausgang, eine große Rolle.

Die Anzahl der Führerscheinentzüge aufgrund von Trunkenheit im Straßen- verkehr zeigt in Ost- und Westdeutsch- land gegenläufige Trends. So wurden in den neuen Bundesländern pro 100 000 Einwohner 261 Entzüge der Fahrerlaub- nis wegen Trunkenheit im Straßen- verkehr ausgesprochen gegenüber 148 in den alten Bundesländern. Bezieht man die Zahl der Unfälle, bei denen Al- kohol eine Rolle spielte, auf die Bevölke- rungszahl, so zeigen sich in den neu- en Bundesländern durchgehend höhere Werte. Auch die Zahl der Alkoholunfäl- le mit Personenschäden ist in den alten

Bundesländern stark rückläufig (1975:

48 346; 1997: 24 168), in den neuen Bun- desländern dagegen stark ansteigend (1975: 3 247; 1997: 8 716) (16).

Die enorme Bedeutung von Alko- holmissbrauch und -abhängigkeit zeigt sich insgesamt in vielen Lebensberei- chen. Besonders auffällig ist die Beein- trächtigung von Familien- und Arbeits- welt und der Zusammenhang von Al- kohol und Gewalt. Verbesserte Präven- tion und Therapiemöglichkeiten bei Al- koholismus dürften auch zu massiven Kosteneinsparungen im Sozialsystem führen.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 2001; 98: A 2732–2736 [Heft 42]

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literatur- verzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser und über das Internet (www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Michael Soyka Psychiatrische Klinik der

Ludwig-Maximilians-Universität München Nußbaumstraße 7

80336 München

E-Mail: Michael.Soyka@psy.med.uni-muenchen.de

In der Serie Alkoholismus sind bisher erschienen:

Alkoholmissbrauch und Alkoholabhängigkeit Prof. Dr. med. Rainer Tölle

Dt Ärztebl 2001; 98: A 1957 [Heft 30]

Das Alkoholproblem in der Medizingeschichte Prof. Dr. med. Dr. phil. Heinz Schott

Dt Ärztebl 2001; 98: A 1958–1962 [Heft 30]

Alkoholassoziierte Organschäden Befunde in der Inneren Medizin, Neurologie und Geburtshilfe/Neonatologie

Prof. Dr. med. Manfred V. Singer, Priv.-Doz. Dr. med. Stephan Teyssen Dt Ärztebl 2001; 98: A 2109–2120 [Heft 33]

Neurobiologie der Alkoholabhängigkeit Prof. Dr. med. Karl Mann

Dt Ärztebl 2001; 98: A 2279–2283 [Heft 36]

Missbrauch oder Abhängigkeit von Alkohol Frühdiagnostik und Frühintervention in der Praxis Prof. Dr. phil. Ulrich John

Dt Ärztebl 2001; 98: A 2438–2442 [Heft 38]

Beziehung von Alkoholismus, Drogen und Tabakkonsum

Priv.-Doz. Dr. med. Anil Batra

Dt Ärztebl 2001; 98: A 2590–2593 [Heft 40]

Gezielte Screeningprogramme, basie- rend auf DNA-Analysen und Chole- sterinwertbestimmungen, sind äußerst effektiv und sinnvoll, um möglichst früh Patienten mit familiärer Hyper- cholesterinämie und deren ebenfalls betroffene Angehörige erkennen und adäquat behandeln zu können. Nie- derländische Forscher veröffentlich- ten in ihrer Studie die Ergebnisse ei- nes über fünf Jahre durchgeführten Screening, in dessen Rahmen sie 5 442 Verwandte von 237 Patienten mit fa- miliärer Hypercholesterinämie auf krankheitsspezifische LDL-Rezeptor- mutationen und erhöhte Cholesterin- spiegel untersuchten.

Insgesamt wurden 2 039 Mutati- onsträger identifiziert, und die Thera- pierate konnte nach Diagnosestellung innerhalb eines Jahres von 39 Prozent auf 93 Prozent gesteigert werden. Die DNA-Analysen erwiesen sich als wichtiges diagnostisches Kriterium – 18 Prozent der neu entdeckten Fälle wären nach Bestimmung der Chole- sterinwerte allein nicht entdeckt wor- den.

Während genetische Screeningpro- gramme und deren mögliche Konse- quenzen für den Arbeitsalltag und Ver- sicherungsoptionen potenziell „kran- ker“ Personen oftmals auf Ablehnung stoßen, so die Autoren, waren in die- sem Fall nur zehn Prozent der mögli- chen Studienteilnehmer mit der Unter- suchung nicht einverstanden. goa Umans-Eckenhausen MAW et al.: Review of first 5 years of screening for familial hypercholesterolaemia in the Netherlands. Lancet 2001; 357: 165–168.

Marina A W Umans-Eckenhausen, Foundation for the Identification of Persons with Inherited Hypercholeste- rolaemia, Paasheuvelweg 15, Amsterdam, Niederlan- de.

Screening für familiäre Hypercholesterinämie

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