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Archiv "Serie - Alkoholismus: Moderater Alkoholkonsum - Gesundheitsförderlich oder schädlich?" (19.04.2002)

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M E D I Z I N

Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 99½½½½Heft 16½½½½19. April 2002 AA1103

A

lkohol (Äthanol) – auch in Form eines Getränkes – ist kein Medikament. Auch Wein nicht – darüber sollte uns eine noch so ein- seitige Werbung („Das tägliche Glä- schen Wein schützt Herz und Kreis- lauf; „Die frohe Botschaft vom gesun- den Wein“) nicht hinwegtäuschen.

Auch wenn alkoholische Getränke für viele Deutsche Bestandteil des tägli- chen Lebens sind, erlaubt dies noch keine positiven Aussagen bezüglich der Gesundheit.

Die Wirkung von Alkohol ist ambi- valent: Auf der einen Seite erleichtert er soziale Kontakte, verursacht aber gleichzeitig weitreichende soziale und gesundheitliche Probleme, die sehr oft verdrängt werden. In einer Gesell- schaft wie der bundesrepublikani- schen, die hinsichtlich des Alkohol- konsums eher den „Permissivkultu- ren“ zuzuordnen ist, das heißt Alko-

holkonsum ist erlaubt, Trunkenheit und andere pathologischen Erschei- nungen des Alkoholkonsums (zum Beispiel Lenken von Fahrzeugen un- ter Alkoholeinfluss) werden abge- lehnt, werden die schädigenden ge- sundheitlichen Folgen sehr schnell mit Alkoholmissbrauch, nicht aber mit dem so genannten sozialen (modera- ten) Trinken in Verbindung gebracht.

Ärzte und Wissenschaftler, die auf die- se weniger schönen Folgen des mode- raten Alkoholkonsums hinweisen, werden sehr schnell in die Ecke der Abstinenzler, Spielverderber und Kas- sandras gestellt – stören sie doch die kollektive Verdrängung und die wirt- schaftlichen Interessen der Hersteller von alkoholischen Getränken.

Bislang ist es üblich, die Verantwor- tung für die Alkoholfolgeschäden aus- schließlich dem Individuum zuzuord- nen. Die Auswirkungen einer massi- ven Werbung für alkoholische Geträn- ke hingegen werden als marktkon- form angesehen. Das Trinken von Alkohol ist nicht nur die alleinige An- gelegenheit eines Individuums, sondern betrifft auch den Verbraucherschutz.

In diesem Sinne hat die Bundesregie- rung vor einigen Jahren bereits ein Forschungsvorhaben zu dem Thema

„Alkoholkonsum und Krankheiten“ in Auftrag gegeben, das im Jahr 2000 in der Schriftenreihe des Bundesministe- riums für Gesundheit (4) veröffentlicht worden ist. Die Ergebnisse der dort pu- blizierten Analysen stehen in deutli- chen Widerspruch zu den Werbeaus- sagen der Getränkehersteller.

Was ist aus gesundheitlicher Sicht das „rechte“ Maß, was „Übermaß?“

Zusammenfassung

Die Beziehung zwischen Alkoholkonsum und Gesamtmortalität ist in etablierten Marktwirt- schaften J-förmig. Dies bedeutet, dass Abstinen- te und starke Trinker ein höheres Mortalitäts- risiko aufweisen als moderate Trinker. Als Er- klärung für diese Beziehung kann die positive Wirkung von moderatem Alkoholkonsum (10 bis 30 g pro Tag) auf ischämische Herzkrank- heiten und ischämische Schlaganfälle dienen.

Neben diesen protektiven Effekten weist mode- rater Alkoholkonsum allerdings auch Krank- heitsrisiken auf. Fast alle systematischen Meta- analysen der letzten Jahre haben gezeigt, dass moderates Trinken mit bis zu zweifach erhöhten Risiken für Verdauungskrankheiten einhergeht (zum Beispiel bösartige Neubildungen, chroni- sche und/oder entzündliche Krankheitsprozes- se). Da die Gesundheit einer Bevölkerung nicht nur durch die Mortalität, sondern insbesondere auch durch Morbidität und Behinderungen defi- niert wird, gilt es dieses in Untersuchungen, de- ren Analysen und insbesondere deren Schluss- folgerungen zu berücksichtigen, da Alkohol-

konsum wesentlich negativ stärker mit Morbi- dität und Behinderungen verbunden ist als mit Mortalität. Es wird eine Übersicht zu relevanten Ergebnissen der Forschung in Hinblick auf mo- deraten Alkoholkonsum gegeben. Dabei geht es nicht um Konsequenzen hinsichtlich einzelner Krankheiten, sondern um den Versuch einen kri- tischen Überblick zusammenfassender Indikato- ren zu Mortalität und Morbidität zu geben.

Schlüsselwörter: moderater Alkoholkonsum, Mortalität, Morbidität, Behinderung, Epidemio- logie

Summary

Moderate Alcohol Consumption: Effects on Morbidity and Mortality

The relationship between alcohol consumption and all-cause mortality is J-shaped in most industrialized countries. The J-shape is the result of the combination of adverse and bene- ficial effects of alcohol consumption. Adverse effects include several types of cancer, other

diseases of the aerodigestive tract, diseases of the heart, addiction related mental disorders, and accidents and injuries. Beneficial effects are seen in ischaemic heart disease and ischaemic stroke. Because the public health is not only defined by mortality but in particular by morbi- dity and impairments (disabilities), it is absolute indispensable to consider this association in further investigations and especially in the conclusion of these studies. It has been shown that alcohol consumption has substantially more negative effects on morbidity and disabilities than on mortality. Public health policies should aim to reduce the harm done by alcohol use, whilst recognizing its real and perceived bene- fits. The aim of the present critical review is to summarize the effect of (moderate) alcohol consumption on the public health. Special regard is given to the effects of alcohol consumption on mortality and morbidity of a population and to the methodology of the performed epidemiological studies.

Key words: moderate alcohol consumption, morbidity, mortality, handicap, epidemiology

II. Medizinische Universitätsklinik (Direktor: Prof. Dr.

med. Manfred V. Singer), Fakultät für Klinische Medizin Mannheim, Universität Heidelberg

Serie: Alkoholismus

Moderater Alkoholkonsum:

Gesundheitsförderlich oder schädlich?

Manfred V. Singer

Stephan Teyssen

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Dafür kann es – trotz aller epidemio- logischen Daten – nur eine individuel- le Antwort geben. Die Risiken sind in- dividuell so unterschiedlich, dass sich verallgemeinernde Empfehlungen ver- bieten. Im Nachfolgenden wird die derzeitige Datenlage bezüglich der Definition des moderaten Alkohol- konsums gegeben und einige seiner gesundheitlichen Auswirkungen unter wissenschaftlichen Kriterien analy- siert (1) sowie einige noch offene Fra- gen benannt. Die Überlegungen ste- hen in engem Zusammenhang mit den bereits im Rahmen dieser Serie veröf- fentlichten Ausführungen über die ge- sicherten Organschäden bei Alkohol- missbrauch und -abhängigkeit.

Moderater Alkoholkonsum

Der Terminus „moderat“ stammt vom Lateinischen „moderare“, was über- setzt „zurückhalten, kontrollieren, un- terdrücken“ heißt (4, 7). Unter diesem Begriff wird eine Alkoholmenge ver- standen, deren Konsum nicht schäd- lich für den Organismus ist. Eine mo- derate Alkoholaufnahme ist diejenige Menge, bei der die Morbiditäts- und Mortalitätsrate am geringsten ist. In den verschiedenen Ländern und Kul- turkreisen wird moderater Alkohol- konsum als sehr unterschiedlich defi- niert, die Angaben variieren zwischen 2,7 und 182 g Alkohol pro Tag (4), ent- sprechend einer Konsummenge von bis zu mehr als 2 L Wein am Tag! Un- ter gesundheitlichen Aspekten kann die zuletzt genannte Alkoholmenge mit Sicherheit als schädigend ange- sehen werden.

In Deutschland wird unter einem moderaten, also gesundheitlich unbe- denklichen Alkoholkonsum ein tägli- cher Alkoholkonsum für Männer bis 40 g und für Frauen bis 20 g angegeben (2, 5).

Die Angaben schwanken aber auch hier je nach Institution (Bundeszen- trale für Gesundheitliche Aufklärung, Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren, Deutschen Initiative zur Förderung eines verantwortungs- vollen Umganges mit alkoholhaltigen Genussmitteln) um mehr als 100 Pro- zent (bei Männern zwischen weniger

als 17 bis 40 g und bei Frauen zwischen weniger als 12 bis 20 g Alkohol pro Tag), (17). Die WHO definierte 1997

„moderat“ mit 10 bis 30 g Alkohol pro Tag und die Deutsche Gesellschaft für Ernährung e.V. (DGE) 1999 mit 20 g Alkohol pro Tag (8). Entsprechend dem jeweiligen Alkoholgehalt der ver- schiedenen Getränketypen entspricht eine Menge von 20 g Alkohol pro Tag etwa 0,5 L Bier, 0,2 L Wein oder 0,06 L Spirituosen.

Da in vielen epidemiologischen Studien die Schlussfolgerungen auf die pro Tag oder Woche konsumierten

„Standarddrinks“ beruhen wird hier kurz auf die unterschiedliche Defini- tionen eines Standarddrinks hingewie- sen. Diese liegen bei 8 bis 13,6 g Ätha- nol pro Drink und weisen somit Spannweiten von fast 100 Prozent auf.

Nach dem International Center for Alcohol Policies von 1998 wird 10 g reiner Alkohol als „Standarddrink“

verwandt, das heißt als zugrunde lie- gende Maßeinheit für Alkoholkonsum (15, 16).

Es gibt nur sehr wenig wissenschaft- lich gesicherte Aussagen über die Wir- kung eines moderaten täglichen Alko- holkonsums auf die Gesundheit des Menschen. Die meisten Publikationen beschäftigen sich mit dem kardiovas- kulären System.

Die bisherigen Forschungsergeb- nisse deuten darauf hin, dass ein gerin- ger bis moderater Alkoholkonsum von 10 bis 30 g pro Tag einen protekti- ven Effekt auf die koronare Herz- krankheit (19) und den ischämischen Schlaganfall besitzt (16). Diese Wir- kung scheint aber nur dann protektiv zu sein, wenn keine anderen Risikoer- krankungen wie Herzrhythmusstörun- gen, arterieller Hypertonus und Stoff- wechselstörungen vorliegen und gilt bei Personen ab dem 50. Lebensjahr.

Dabei wurde kein signifikanter Unter- schied zwischen einzelnen Geträn- kearten (Bier, Wein und Spirituosen) bezüglich ihrer Wirkung auf das Er- krankungsrisiko festgestellt. Voreilige Rückschlüsse, dass durch moderaten Alkoholkonsum und seine Effekte auf das kardiovaskuläre System die Mor- talität der Gesamtbevölkerung um cir- ca drei bis vier Prozent gesenkt wer- den könnte (19), sind mit Vorsicht zu

interpretieren, da sie vielfach das Er- gebnis einer einseitigen Auswahl und Darstellung von Teilaspekten umfang- reicher Untersuchungen zu diesem hinsichtlich Ursache und Wirkung komplexen Gebiet sind. Dabei wird oft nicht die wissenschaftliche Aussa- gekraft solcher Berichterstattung über- prüft.

Mit Ausnahme des Herzens und der Gefäße hat moderater Alkoholkon- sum sehr wahrscheinlich auf alle ande- ren Organe beziehungsweise Organsy- steme keine protektive sondern eher eine gesundheitsschädigende Wirkung (1, 15).

Alkohol ist ein Kokarzinogen. Wur- de bislang ein erhöhtes Karzinomrisi- ko nur mit einem hohen Alkoholkon- sum (mehr als 80 g pro Tag) in Verbin- dung gebracht, zeigen neuere Studien, dass selbst moderater Alkoholkonsum mit einem bis zum Zweifachen erhöh- ten Risiko einhergeht, an einem Kar- zinom des Aerodogestivtrakts (Oro- pharynx, Larynx, Ösophagus) zu er- kranken. Bereits der tägliche Konsum von einem „Drink“ (10 g Alkohol) er- höht das Risiko, an einem Malignom zu erkranken um bis zu 30 Prozent (9).

Das Risiko wird durch gleichzeitigen Nikotinkonsum addiert beziehungs- weise potenziert.

Alkohol in der Schwangerschaft ist die häufigste und bedeutsamste terato- gene Noxe und eine der häufigsten nichtgenetischen Ursachen einer geisti- gen Retardierung bei Kindern. Selbst moderater Alkoholkonsum kann Lang- zeitfolgen für die körperliche und gei- stige Entwicklung des Fetus haben. Aus wissenschaftlicher Sicht kann keine nichttoxische Schwellendosis definiert werden. Schwangeren Frauen ist daher unbedingt zur Alkoholabstinenz zu ra- ten (10).

Im Gegensatz zu früheren Untersu- chungen, die eine hepatotoxische Schwellendosis bei 40 g Alkohol pro Tag nahe legten, zeigen neuere Daten, dass das Risiko an einer Leberzirrhose zu erkranken bereits bei deutlich ge- ringeren Alkoholmengen ab 24 g pro Tag bei Männern und ab 12 g bei Frau- en erhöht ist (3, 18). Für Patienten mit einer Hepatitis-C-Infektion ist selbst moderater Alkoholkonsum schädlich, da durch das gleichzeitige Trinken von M E D I Z I N

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Alkohol die Virämie ansteigt und die Hepatitis-C-Infektion deutlich pro- gressiver verläuft (18).

Über die Wirkungen vom modera- ten Alkoholkonsum auf andere Or- gane beziehungsweise Organsysteme, wie zum Beispiel den Gastrointesti- naltrakt, die endokrinen Drüsen, Nie- ren, das Immunsystem, die Blut bil- denden Organe, lässt sich zurzeit nur spekulieren, da kontrollierte Studien nicht zur Verfügung stehen.

Langzeitstudien gefordert

Es besteht also ein erheblicher For- schungsbedarf auf diesem Gebiet.

Nicht nur Querschnittsstudien, son- dern vor allem prospektive Langzeit- studien sind erforderlich, die Trink- muster, Abstinenzperioden während des moderaten Alkoholkonsums, Le- bensstil, Ernährung und organische Begleiterkrankungen erfassen. Die Studien müssen speziell zu dieser Fra- gestellung konzipiert sein. Dabei soll- ten nach Möglichkeit die nachstehend aufgeführten Kritikpunkte an den bis- herigen Studien berücksichtigt wer- den (4, 15, 16):

❃Es handelt sich meistens um weni- ge Fall-Kontroll-Studien und um pro- spektive Kohortenstudien, die den größten Anteil der Untersuchungen ausmachen.

❃Lebensstilfaktoren, wie zum Bei- spiel ein gesundheitsbewußter Lebens- stil mit einer vollwertigen Ernährung, regelmäßiger körperlicher Aktivität und Rauchabstinenz, die insbesondere bei den kardiovaskulären Erkrankun- gen eine große Rolle spielen, wurden in den Studien nur selten berück- sichtigt.

❃In einigen Studien fehlen insbe- sondere die Angaben zu den Alkohol- gehalten eines Getränkes („Drinks“) beziehungsweise einer Einheit (Unit).

Wie bereits erwähnt, finden sich sehr divergierende Definitionen des mode- raten Alkoholkonsums.

❃Bei fast allen Studien mit detail- lierter Unterteilung in verschiedene Alkoholzufuhrkategorien weisen be- sonders die höchsten Konsumgruppen nur unzureichende Probandenzahlen auf.

❃Es gibt nur sehr wenige Unter- suchungen, in denen die konsumier- ten Alkoholmengen auf das Körperge- wicht angegeben wurden. Ferner wer- den nur in seltenen Fällen die Trinkge- wohnheiten der Personen angegeben.

So ist oft unklar, ob ein massiver, peri- odisch auftretender Alkoholkonsum („binge-drinking“) oder ein täglicher Alkoholkonsum einer bestimmten Al- koholmenge und/oder Getränkeart vor- liegt. Veränderungen im Trinkverhal- ten über die Jahrzehnte wurden nicht berücksichtigt, ebenso keine längeren Abstinenzperioden. Ferner erfolgte keine strikte Differenzierung zwischen lebenslang Abstinenten, Kurzzeitab- stinenten und Ex-Trinkern in den Kon- trollgruppen.

Neben dieser methodischen Kritik ist aber noch folgende grundsätz- liche Kritik zu berücksichtigen, ehe Rückschlüsse für die Gesundheit der Bevölkerung gezogen werden können (15, 16):

❃Fast alle epidemiologischen Stu- dien haben die „Mortalität“ als einfa- chen, gut messbaren Zielparameter.

Damit werden aber die durch Alkohol entstehenden Belastungen für das Ge- sundheitswesen nur unzureichend er- fasst. „Morbidität inklusive Behinde- rungen“ sowie „indirekte negative Auswirkungen“ des Alkoholkonsums auf das Umfeld, das heißt die Famili- enangehörigen und Freunde des Al- kohol konsumierenden Menschen, aber auch auf fremde Menschen, die zum Beispiel in den Unfall verwickelt sind, wurden bislang nur selten oder nicht berücksichtigt.

Die Morbidität (inclusive Behinde- rungen) und die indirekten negativen Effekte sind sehr wahrscheinlich für die Beurteilung der Auswirkungen des moderaten Alkoholkonsums auf die Gesundheit der Bevölkerung ent- scheidend. Die direkten und indirek- ten Folgen des gesamten Alkoholkon- sums wurden in Zusammenarbeit mit der WHO erstmals 1997 im Rahmen der Global Burden of Disease Study berücksichtigt (12–14).

Grundidee dieser Studie war die Erstellung eines einzigen Indikators, des „Disability Adjusted Life Years“

(DALYs), der sowohl Mortalität als auch Morbidität beziehungsweise ge-

sundheitsbedingte Behinderungen kom- biniert. Drei verschiedene Effekte des Alkoholkonsums wurden unterschie- den: Der negative Einfluss von Al- kohol auf Unfälle und Verletzungen, die negativen Folgen von Alkohol auf Krankheiten und die positive Wirkung auf ischämische Herzkrankheiten. Al- kohol wurde als Ursache von 3,5 Pro- zent der globalen Belastung mit Krank- heiten identifiziert, als Ursache von 2,2 Prozent der Mortalität, 2,5 Prozent al- ler durch frühzeitige Mortalität verlo- renen Lebensjahre und sechs Prozent aller durch Behinderung verlorenen Lebensjahre. Das heißt, der relative Einfluss von Alkohol auf Behinderun- gen wurde als sehr viel wichtiger beur- teilt als der relative Einfluss auf die Mortalität.

Diese Resultate und andere Ergeb- nisse (zum Beispiel sind 15,6 Prozent aller durch Behinderung verlorenen Lebensjahre in etablierten Marktwirt- schaften durch Alkohol verursacht [2, 6]) verdeutlichen eindrücklich, dass Alkohol mehr Einfluss auf nichttödli- che Krankheiten hat als auf die Morta- lität, sodass die negativen Folgen des Alkoholkonsums stärker mit Morbi- dität und Behinderungen verbunden ist als mit Mortalität.

Wenn man gesellschaftliche Reak- tionen auf Alkoholkonsum miteinbe- zieht und das Missbrauchsrisiko mit dem schleichenden Übergang vom mo- deratem zum problematischen Trink- verhalten (langfristig in circa 15 Pro- zent der Fälle) mitberücksichtigt, so sollten zukünftige Studien immer die Gesamtperspektive von Alkoholkon- sum und seinen negativen wie positi- ven Folgen im Auge haben. Eine sol- che Vernachlässigung der alkoholbe- dingten Morbidität und Behinderun- gen lässt sich zwar mit der einfacheren Verfügbarkeit von Mortalitätsdaten erklären, ist aber unter Berücksichti- gung der Gesundheit der Bevölkerung nicht verantwortbar (16).

Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus wissenschaftlicher Sicht auf- grund der aktuellen Datenlage zie- hen?

Ergebnisse aus epidemiologischen Studien über die positiven gesundheit- lichen Auswirkungen von moderatem Alkoholkonsum sollten von Produ- M E D I Z I N

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zenten und Verbrauchern alkoholi- scher Getränke genauso vorsichtig in- terpretiert werden wie von den For- schern. Mit Sicherheit belegen sie nicht, dass Alkoholkonsum – und sei er auch moderat – die Gesundheit fördert. Im besten Fall reduziert er das relative Erkrankungsrisiko für ein- zelne Erkrankungen wie die koronare Herzerkrankung und den ischämi- schen Schlaganfall. Eine ausschließ- lich die positiven Effekte berücksich- tigende Betrachtungsweise lässt die beträchtlichen gesundheitlichen und sozialen Nebenwirkungen eines re- gelmäßigen Alkoholkonsums außer Acht. Sie verbietet sich daher aus me- dizinischer und wissenschaftlicher Sicht.

Keine allgemeine Empfehlung möglich

Zudem erlaubt die aktuelle Datenlage keine gesicherte allgemeine Empfeh- lung zum moderaten Alkoholkonsum.

Hierzu besteht ein erheblicher Bedarf an epidemiologischer und medizini- scher Forschung bezüglich der ge- sundheitlichen Langzeitwirkungen bei moderatem Alkoholkonsum.

Es ist eine Binsenweisheit, dass aus epidemiologischen Ergebnissen nicht konkrete Empfehlungen für das indi- viduelle Gesundheitsverhalten abzu- leiten sind. Bei Alkoholkonsum sind aber die individuellen Risiken wie ge- netische Prädisposition, Neigung zur Alkoholsucht, gleichzeitig bestehende Erkrankungen und Umweltfaktoren von besonderer Wichtigkeit, dass sich allein von daher eine solche Allge- meinempfehlung verbietet.

Die Ergebnisse der Global Burden of Diseases Study belegen eindeutig, dass mit der alleinigen Erfassung der Mortalität der gesellschaftliche Ge- samtschaden des Alkoholkonsums nur unzureichend erfasst wird. Die Morbi- dität, die Behinderungen und die indi- rekten negativen Wirkungen des Al- koholkonsums müssen berücksichtigt werden.

Die Aussagen über die Auswirkun- gen vom moderaten Alkoholkonsum dürfen nicht isoliert erfolgen, sondern müssen in den Gesamtkontext des Al-

koholkonsums einer Gesellschaft ge- stellt werden. Die epidemiologischen Hinweise, dass moderater Alkohol- konsum bei über 50-Jährigen zu einer Risikoverminderung von Herz-Kreis- lauf-Erkrankungen und ischämischen Schlaganfällen führt, eignen sich aus den genannten Gründen nicht dazu, die Bevölkerung zum täglichen Trin- ken von einem 0,25 L Wein oder ein bis zwei Gläsern Bier von 0,3 L aufzufor- dern. Eine solche Aufforderung wür- de außer Acht lassen, dass bereits der tägliche Konsum dieser Alkoholmen- gen mit einem erhöhten Risiko einher- geht, eine alkoholischen Folgeerkran- kungen zu erleiden.

Die sicherlich für viele überra- schenden Ergebnisse eines erhöhten Erkrankungsrisikos durch moderaten Alkoholkonsum für zum Beispiel ma- ligne Tumoren, arteriellen Hyperto- nus und Lebererkrankungen hat zu Überlegungen geführt, die risikoarme maximale Alkoholtrinkmenge für Ge- sunde zu reduzieren. Frauen sollten nicht mehr als 10 g Alkohol pro Tag und Männer nicht mehr als 20 g Alko- hol pro Tag trinken.

Für den Einzelnen kann folgende Erkenntnis hilfreich sein: Das Trinken von Alkohol – selbst in moderaten Mengen – ist mit einem gewissen Ge- sundheitsrisiko verbunden. Dieses ge- sundheitliche Risiko steigt zwar deut- lich mit der konsumierten Alkohol- menge, ist aber selbst bei Genuss von einem Glas Wein oder Bier täglich vorhanden. Weniger Alkohol ist bes- ser, mehr Alkohol birgt mehr Risiken.

Ein risikofreies Alkoholtrinken gibt es nicht.

Dass Lebensfreude und -genuss auch ohne das Trinken von Alkohol vollkommen sein können, hat man auch schon vor mehr als 100 Jahren gewusst, wie ein Auszug aus der Rek- toratsrede des Marburger Pharmako- logen H. Meyer (11) von 1895 beweist:

„Der Genuss von Alkohol ist in kei- nen Falle unentbehrlich, weder für Kopf- noch Handarbeiter; und dass die gänzliche Enthaltung davon per- sönliches Wohlbefinden und Lebens- glück um keinen Deut schmälert: den sprechenden Beleg dafür liefern in Einmütigkeit die Millionen Abstinen- ten.“

Manuskript eingereicht: 29. 1. 2001, revidierte Fassung angenommen: 14. 4. 2001

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2002; 99: A 1103–1106 [Heft 16]

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literatur- verzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser und über das Internet (www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.

Anschriften der Verfasser:

Prof. Dr. med. Manfred V. Singer Universitätsklinikum Mannheim II. Medizinische Klinik

Theodor-Kutzer-Ufer 1, 68167 Mannheim E-Mail: manfred.v.singer@med.

ma.uni-heidelberg.de

Priv.-Doz. Dr. med. Stephan Teyssen Medizinische Klinik

Krankenhaus St. Joseph-Stift Bremen Schwachhauser Heerstraße 54, 28209 Bremen E-Mail: STeyssen@sis-bremen.de

In der Serie Alkoholismus sind insgesamt erschienen:

Alkoholmissbrauch und Alkoholabhängigkeit Prof. Dr. med. Rainer Tölle

Dtsch Arztebl 2001; 98: A 1957 [Heft 30]

Das Alkoholproblem in der Medizingeschichte Prof. Dr. med. Dr. phil. Heinz Schott

Dtsch Arztebl 2001; 98: A 1958–1962 [Heft 30]

Alkoholassoziierte Organschäden

Befunde in der Inneren Medizin, Neurologie und Geburtshilfe/Neonatologie

Prof. Dr. med. Manfred V. Singer, Priv.-Doz. Dr. med. Stephan Teyssen Dtsch Arztebl 2001; 98: A 2109–2120 [Heft 33]

Neurobiologie der Alkoholabhängigkeit Prof. Dr. med. Karl F. Mann

Dtsch Arztebl 2001; 98: A 2279–2283 [Heft 36]

Missbrauch oder Abhängigkeit von Alkohol Frühdiagnostik und Frühintervention in der Praxis Prof. Dr. phil. Ulrich John

Dtsch Arztebl 2001; 98: A 2438–2442 [Heft 38]

Beziehung von Alkoholismus, Drogen und Tabakkonsum

Priv.-Doz. Dr. med. Anil Batra

Dtsch Arztebl 2001; 98: A 2590–2593 [Heft 40]

Psychische und soziale Folgen chronischen Alkoholismus

Prof. Dr. med. Michael Soyka

Dtsch Arztebl 2001; 98: A 2732–2736 [Heft 42]

Neue ärztliche Aufgaben bei Alkoholproblemen Von der Behandlungskette zum Behandlungsnetz Prof. Dr. med. Karl F. Mann

Dtsch Arztebl 2002; 99: A 632–644 [Heft 10]

Alkoholabhängigkeit bei jungen Menschen Prof. Dr. med. Dr. phil. Helmut Remschmidt Dtsch Arztebl 2002; 99: A 787–792 [Heft 12]

Epidemiologische und ökonomische Aspekte des Alkoholismus

Dr. phil. Dipl.-Psych. Heinrich Küfner, Dr. phil. Dipl.-Psych. Ludwig Kraus Dtsch Arztebl 2002; 99: A 936–945 [Heft 14]

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