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Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 25, 19. Juni 1998 (1)
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ie „Wahlprüfsteine“ der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeber- verbände (BDA) stellen abermals die Forderung in den Mittelpunkt, die beitragsfinanzierte Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) auf ein Mindestmaß einer medizinisch notwendigen Grundsicherung zu- rückzuführen und alle Zusatz- und Komfortleistungen durch den Ver- sicherten direkt zu finanzieren.Ein verbreitertes Angebot von Wahl- und Zusatzleistungen soll gesetzlich sanktioniert werden.
Gravierende versicherungs- technische und sozialpolitische Gründe sprächen allerdings gegen eine Radikalkur der solidarisch fi- nanzierten GKV. Denn es würden von dem Gesamtausgabenvolu- men der GKV von zur Zeit mehr als 270 Milliarden DM durch Aus- grenzungen und durch Teilprivati- sierung des Krankheitsrisikos rund 20 Prozent (rund 54 Milliarden DM pro Jahr) „weggezaubert“ und dadurch die paritätische Finan- zierungspflicht von Versicherten und Arbeitgebern entsprechend reduziert. Dann würde sich der
Leistungskatalog der GKV sehr schnell einem Rest von Kernlei- stungen nähern.
Ebenso wenig realistisch dürf- ten Vorschläge auch von Ärztever- bänden (etwa des Marburger Bun- des) sein, den Versichertenkreis der GKV von zur Zeit rund 92 Prozent der Bevölkerung auf rund 50 Pro- zent „zurückzufahren“, im Gegen- zug eine Pflicht zur Versicherung bei freier Wahl des Versicherungs- trägers gesetzlich vorzuschreiben.
Dann käme ebenfalls eine Entso- lidarisierung in Gang, und das um- lagefinanzierte System drohte aus den Fugen zu geraten, weil der so- ziale Ausgleich und eine Absiche- rung der Großrisiken einfach nicht mehr gewährleistet wären, wenn 60 Milliarden DM fehlen. An- dernfalls müßten die Beiträge auf über 17 Prozent angehoben wer- den. Die bereits 1970 gesetzlich
festgelegte (dynamisierte) „Frie- densgrenze“ zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung sollte nicht manipuliert werden.
Ohnedies wurde seit 1983 mit Hilfe einer Stafette von Spargeset- zen genug aus der Sparzitrone her- ausgequetscht: rund 30 Milliarden DM zu Lasten der Leistungser- bringer und der Versicherten, wie das Bundesgesundheitsministeri- um kürzlich kundtat. Lediglich fünf bis sechs Milliarden DM ließen sich durch die rigiden Maß- nahmen der dritten Stufe zur Strukturreform im Gesundheits- wesen mobilisieren. Hinzu kom- men „Struktureffekte“ und Be- schränkungen durch die Selbstver- waltung sowie Festbetragsregelun- gen in einzelnen Sektoren, die ebenfalls zu beträchtlichen Ein- sparungen (rund sieben Milliarden DM) führen. Dr. Harald Clade
Krankenversicherung
Entsolidarisierung?
S
pät – für die meisten Be- troffenen viel zu spät – und von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt beschloß Ende Mai der Bundestag mit den Stimmen der Koalition und der Sozialdemokraten das „Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechts- pflege und von Sterilisationsent- scheidungen der ehemaligen Erb- gesundheitsgerichte“.Das Gesetz betrifft etwa eine halbe Million Urteile, die aus poli- tischen, militärischen, rassischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen ergangen waren. Die den Entscheidungen zugrundelie- genden Verfahren sollen einge- stellt werden. Auch der Bundesrat kündigte an, die bisher unter- schiedlichen Regelungen in den Ländern zu einer bundeseinheit- lichen Regelung zusammenzu- fassen.
Zu den Rehabilitierten gehö- ren unter anderem Deserteure, Homosexuelle und Zwangssteri- lisierte. Rund 350 000 Menschen waren nach dem am 14. Juli 1933 erlassenen „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ gegen ihren Willen unfruchtbar gemacht worden. Bei ihnen handelte es sich auch um chronisch Kranke, kör- perlich, geistig und seelisch Behin- derte sowie ganze Familienverbän- de, die als „asozial“ galten. Bis heute leiden die Opfer an gesund- heitlichen und seelischen Schäden als Folgen des Eingriffs.
Das Gesetz kann das ihnen an- getane Unrecht zwar nicht wieder-
gutmachen, es hat wohl in erster Linie symbolische Bedeutung. „Es ist ein erster Schritt in die richtige Richtung“, sagte die Vorsitzende des Bundes der „Euthanasie“-Ge- schädigten und Zwangssterilisier- ten, Klara Nowak, gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt. Sie erhofft sich jedoch, daß die heute noch le- benden rund 30 000 Betroffenen mit den anderen Opfern des Natio- nalsozialismus völlig gleichgestellt werden. Doch immerhin hat man sich „mit dem erreichten Ergebnis der Vergangenheit gestellt“, so Bundesjustizminister Prof. Edzard Schmidt-Jortzig in der Bundestags- debatte. Gisela Klinkhammer