ie Erwartungen von Patienten an das Verordnungsverhalten ihrer Ärzte hat eine For- schungsgruppe der Universität Köln untersucht und ist dabei zu überra- schenden Ergebnissen gelangt. Drei Fragen standen im Mittelpunkt der Patientenbefragung der Forschungs- gruppe Primärmedizinische Versor- gung der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter:
❃ Rezepterwartungen und -wün- sche der Patienten hinsichtlich Menge und Qualität von Arzneimitteln vor dem Arztgespräch sollten erfasst wer- den.❃ Die Patientenerwartungen und
-wünsche sollten mit den Verordnun- gen nach dem Arztkontakt verglichen werden.
❃ Mögliche Unterschiede zwi- schen den Erwartungen der Patienten und den Verordnungen der Ärzte – vor allem bei der Verordnung von so ge- nannten umstrittenen Arzneimitteln – sollten nach Alter, Geschlecht und Er- krankungsform untersucht werden.
In neun Hausarztpraxen wurden Patienten jeweils vor und nach dem Arztbesuch befragt. Sie wurden per- sönlich anhand eines standardisierten Fragebogens mit zum Teil offenen Fragen interviewt. Vor dem Arztkon- takt wurden die Patienten unter ande- rem befragt, ob sie eine Arzneimittel- verordnung erwarten. Nach dem Arzt- besuch sollten sie zu den verordneten Medikamenten Auskunft geben.Die verordneten Medikamente wurden von den ausgestellten Rezepten in den Fragebogen übertragen. Ausge- gebene Arztmuster wurden ebenfalls
erfasst. In den einzelnen Arztpraxen wurden zwischen 55 und 88 Patienten befragt; insgesamt nahmen 635 Pati- enten an der Befragung teil.
Die verordneten Medikamente wurden anhand der Präparatenamen den Hauptgruppen der Roten Liste zugeordnet. Weiter wurden die Arz- neimittel anhand der von Paffrath und Schwabe veröffentlichten Liste von Arzneimittelgruppen mit umstritte- ner Wirksamkeit weiter eingeteilt in Arzneimittel, deren Wirksamkeit nach wissenschaftlichen Kriterien als hin- reichend gelten und Arzneimittel mit
„umstrittener“ Wirksamkeit.
Die Patienten wurden verschie- denen Krankheitsgruppen zugeord-
net, je nachdem ob sie an eher aku- ten/neuen Beschwerden (zum Bei- spiel Husten, Fieber, Kopfschmerz) oder chronischen/bekannten Erkran-
kungen (zum Beispiel Diabetes, Rheu- ma, Migräne) litten, und/oder ob sie unter Dauermedikation (zum Bei- spiel Antiasthmatika, Schilddrüsen- präparate, Insulin) standen. 41 Pro- zent der Patienten waren der Auffas- sung, dass gegen ihre Erkrankung nur Medikamente helfen, bei Patienten mit neuen Erkrankungen waren es 31 Prozent, bei Patienten mit bekannten Erkrankungen 59 Prozent.
Mehr als die Hälfte der Patienten erhielt bei ihrem Arztbesuch eine Arzneimittelverordnung. Nur 41 Pro- zent hatten dies jedoch vor dem Arzt- besuch erwartet. Einen persönlichen Bedarf für ein Rezept äußerten sogar nur 27 Prozent der Patienten. Damit verordneten die Ärzte deutlich mehr Patienten ein Arzneimittel als Arz- neimittelerwartungen und -wünsche von Seiten der Patienten geäußert wurden.
Jüngere Patienten wollen seltener ein Rezept
Das Geschlecht des Patienten spielt offenbar weder für den Rezept- wunsch noch für die ärztliche Verord- nung eine Rolle. Das Alter hat dage- gen einen deutlichen Einfluss auf die Rezeptwünsche, kaum jedoch auf die Häufigkeit der Verordnung. Jüngere
Patienten äußern wesentlich seltener (17 Prozent) den Wunsch nach Arz- neimitteln, bekommen jedoch in 52 Prozent der Fälle ein Arzneimittel A-1794 Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 26, 30. Juni 2000
P O L I T I K AKTUELL
Arzneimittelverordnungen
Patienten erwarten nicht immer ein Rezept
Jeder zweite Arztbesuch endet mit einer Arzneimittelverord- nung. Häufig begründen die Ärzte dies mit den Erwar- tungen ihrer Patienten. Sie befürchten, dass deren Nicht- erfüllung zur Auflösung der Arzt-Patient-Beziehung führt.
D
Grafik
Patientenerwartungen und ärztliche Leistungen (Anteil [%] der Patienten) 60
50 40 30 20 10 0
33 31
2 5
29 37
22 21 20
55
17 18 5
14
Gespräch Diagnostische/ Untersuchung Rezept Atteste Überweisung Verordnung
therapeutische allgemein AUF etc. (Facharzt, Heil-/Hilfsmittel
Maßnahmen Krankenhaus)
Patientenerwartung Ärztliche Leistungen
Die Ärzte verordneten deutlich mehr Patienten ein Arzneimittel als Patienten Rezeptwünsche äußerten.
verordnet – fast ebenso häufig wie äl- tere Patienten (59 Prozent).
Von den Patienten mit neuen Er- krankungen wünschten neun Prozent ein Rezept, mehr als die Hälfte von ihnen erhielt ein Arzneimittel (52 Prozent). Von den Patienten mit be- kannten Erkrankungen brauchten 55 Prozent ein Rezept, 63 Prozent beka- men von ihrem Arzt ein Arzneimittel verordnet. Bei den Patienten mit be- kannten Erkrankungen stimmten da- mit die Häufigkeiten von Rezept- wunsch und ärztlicher Verordnungen am deutlichsten überein.
Informationswunsch steht an erster Stelle
Ein so genanntes umstrittenes Arzneimittel wünschten vier Prozent der Patienten. Hingegen wurde 20 Prozent ein solches verordnet. Vor al- lem Patienten mit neuen Erkrankun- gen erhielten umstrittene Arzneimit- tel (mehr als 50 Prozent der Patienten mit Arzneimittelverordnung). Was Generika betrifft, war der überwie- gende Teil der Patienten (77 Prozent) mit Dauertherapien dazu bereit, auf ein kostengünstigeres Arzneimittel gleicher Wirksamkeit und mit glei- chem Nebenwirkungsspektrum um- zusteigen, wenn der Arzt ihnen dies vorschlagen würde. 21 Prozent waren nicht zu einem Wechsel bereit, zwei Prozent wussten es nicht.
Die Patienten nannten auf die Fra- ge nach den Erwartungen an den Arzt- besuch an erster Stelle, Informationen über ihre Erkrankung sowie Erklärun- gen zu Befunden und Prognosen zum Verlauf der Erkrankung zu erhalten (33 Prozent). Ein weiterer großer Anteil der Patienten erwartete eher spezifi- sche diagnostische und/oder therapeu- tische Maßnahmen (29 Prozent).Ein weiterer großer Teil der Patienten er- wartete allgemeine Untersuchungen (22 Prozent). Alle diese Patienten er- hofften sich, von diesen Untersuchun- gen und diagnostischen Maßnahmen Anhaltspunkte zum Krankheitsverlauf und zur Wirksamkeit der Therapie zu erhalten und eine Beruhigung ihrer Unsicherheiten. Erst an vierter Stelle steht die Erwartung, ein Rezept zu er- halten (20 Prozent). Darüber hinaus werden Arbeitsunfähigkeitsbescheini-
gungen (15 Prozent), Überweisungen (fünf Prozent), Atteste, Ausfüllen von Anträgen (zwei Prozent) und Verord- nungen von Heil- und Hilfsmitteln (zwei Prozent) erwartet.
Vergleicht man die vom Patien- ten vor dem Arztkontakt benannten Erwartungen mit den Patientenanga- ben zu den ärztlich erbrachten Lei- stungen nach dem Arztkontakt, so fällt auf, dass die größte Diskrepanz zwischen Patientenerwartungen und ärztlichen Leistungen bei der Verord- nung von Arzneimitteln besteht. Re- zepte stehen an vierter Stelle der Pati- entenerwartungen, jedoch an erster Stelle bei den ärztlichen Leistungen.
Insgesamt ist die Zufriedenheit der Patienten mit ihrem Hausarzt sehr groß. Dennoch gibt es einige kritische Punkte, sie beziehen sich auf zu lange Wartezeiten (14 Nennungen), zu we- nig Zeit für ein Gespräch (neun Nennungen) und Unzufriedenheit mit einer Arzneimittelverordnung (zwei Nennungen). Nur ein Patient unter 635 befragten würde wegen der Ver- weigerung eines Rezeptes den Arzt wechseln.
Keine voreiligen Schlüsse ziehen
Die Feststellung, Hausärzte ver- schreiben ihren Patienten mehr Arz- neimittel als diese wünschen oder er- warten, muss man nach Beratungsan- lass und Art der verschriebenen Arz- neimittel differenzieren. Wesentlich ist dabei die Unterscheidung nach Arzneimitteln mit gesicherter und mit „umstrittener“ Wirksamkeit. Zwar verschreiben die Hausärzte allen Pati- entengruppen unabhängig von deren Wünschen gleich häufig Arzneimittel.
Sie machen jedoch bei der Verordnung
„umstrittener“ Arzneimittel deutliche Unterschiede je nach Beratungsan- lass. Die Hausärzte unterschätzen den Wunsch der Patienten nach einem Be- ratungsgespräch ebenso wie die große Bereitschaft der Patienten, nach einer entsprechenden Aufklärung zu einer kostengünstigeren Arzneitherapie zu wechseln.
Das Ergebnis der Untersuchung, dass niedergelassene Ärzte mehr Arz- neimittel verordnen als Patienten er- warten oder wünschen, ist nicht neu.
Andere Untersuchungen in Deutsch- land oder in Australien kommen zu ähnlichen Ergebnissen.In Großbri- tannien haben Studien dagegen erge- ben, dass mehr Patienten ein Arznei- mittel wünschen, als sie eines verord- net erhalten.
Bei internationalen Vergleichen muss man allerdings methodische Be- denken einräumen, da sich die nationa- len Versorgungsmuster unterscheiden.
Auch vorschnelle gesundheitspoliti- sche Schlussfolgerungen aus der Dis- krepanz von Arzneimittelwünschen der Patienten und Verordnungsweise der Ärzte zu ziehen, ist nicht angezeigt.
Das Verordnungsverhalten der Hausärzte bei chronisch Kranken mit bekannten Beschwerden unterschei- det sich in der Wahl der Arzneimittel deutlich von ihrem Verhalten bei Pati- enten mit neuen Beschwerden.Das unterschiedliche Vorgehen in der Auswahl der Medikamente entspricht hier durchaus der hausärztlichen Stra- tegie des „abwartenden Offenlassens“
bei neu auftretenden Beschwerden oder – anders formuliert – dem Grund- satz der Verhältnismäßigkeit von Dia- gnostik und Therapie. Arzneimittel mit umstrittener Wirksamkeit werden als Quasi Placebos eingesetzt, um die Zeit bis zur Diagnose oder bei bana- len Erkrankungen bis zur Selbsthei- lung zu überbrücken. Angesichts der hohen Gesprächserwartungen der Pa- tienten im Vergleich zu ihren Arznei- mittelwünschen muss diese Strategie jedoch hinterfragt werden.Bei Er- krankungen, für die eine wissen- schaftlich fundierte Therapie fehlt, ist ein ermutigendes Gespräch erfolgrei- cher als ein Rezept.
Der Wechsel zu einem preisgün- stigeren Arzneimittel wird überwie- gend (zu 80 Prozent) von den Patien- ten toleriert; die Bereitschaft der Pati- enten zum Arzneimittelwechsel zu er- kunden, erfordert jedoch ebenfalls ein aufklärendes Gespräch.
Anschrift für die Verfasser PD Dr. Liselotte von Ferber Forschungsgruppe
Primärmedizinische Versorgung c/o Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalter der Universität zu Köln Herderstraße 52, 50931 Köln A-1796 Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 26, 30. Juni 2000
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