Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 110|
Heft 25|
21. Juni 2013 A 1227E
s war von Anfang an der Wurm drin. Beim Thema Pflege lief es für die schwarz-gelbe Bundesregie- rung schon unter dem ehemaligen Bundesgesundheits- minister Philipp Rösler (FDP) nicht rund. Vollmundig hatte er 2011 zum „Jahr der Pflege“ erklärt. Doch es passierte nichts – außer, dass regelmäßig Vertreter von Pflegeverbänden zu Gesprächen ins Ministerium einge- laden wurden. Auch unter Röslers Nachfolger Daniel Bahr (FDP) verfestigte sich der Eindruck: Die Pflege ist für Schwarz-Gelb kein zentrales Anliegen. Bahrs Pflegereform Ende 2011 empfanden viele als halbher- zig – trotz leicht verbesserter Leistungen für Demenz- kranke. Und dann gibt es noch eine Baustelle, die gera- dezu ein Paradebeispiel des Aussitzens und Vertagens ist: die Arbeit am neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff.Im Kern geht es um die Frage: Wer soll als pflegebe- dürftig gelten? Nur der, der Hilfe beim Essen, Waschen und Anziehen braucht? Oder auch der, der betreut wer- den muss, weil er dement ist? Bereits 2006 unter der damaligen Ministerin Ulla Schmidt (SPD) war dazu der
„Beirat zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbe- griffs“ ins Leben gerufen worden. 2009 legte er Emp- fehlungen vor. Von diesen waren alle uneingeschränkt begeistert. Von einem Paradigmenwechsel war die Re- de. Allerdings wurde schon damals deutlich: Das kostet Geld – bis zu 3,7 Milliarden Euro jährlich mehr. Keiner sollte in dem neuen System schlechter gestellt sein.
Was tut also ein Politiker, wenn eine Grundsatzent- scheidung gefragt ist, die mit erheblichen Mehrkosten verbunden ist? Er versucht, Zeit zu gewinnen. Bahr er- klärte, vor einer umfassenden Reform müssten zu- nächst weitere Detailfragen geklärt werden. So wurde im Jahr 2012 erneut ein Gremium eingesetzt, der „Ex- pertenbeirat zur konkreten Ausgestaltung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs“. Ende Juni soll nun das Gutachten des Beirats offiziell übergeben werden. Kei- ne Überraschung: Für eine Umsetzung vor der Bundes- tagswahl ist es nun zu spät.
Viel Kritik kommt erwartungsgemäß aus der Oppo- sition, aber auch von der Pflege selbst. Der Präsident
des Deutschen Pflegerates, Andreas Westerfellhaus, fand deutliche Worte: Der Beirat sei nicht mehr als eine
„Beschäftigungstherapie“ gewesen. Tatsächlich steht in dem Gutachten nicht viel Neues. Die Grundidee ist ge- blieben: Die Definition von Pflegebedürftigkeit muss sich ändern. Die Betreuung von Demenzkranken soll künftig eine feste Säule werden. Bei den möglichen Kosten legt sich der Beirat nicht fest.
Den Demenzkranken und insbesondere den Ange - hörigen, die sie pflegen, nutzt es nichts, wenn immer wieder Beiräte tagen. Es ist eine Ungerechtigkeit, dass körperliche und kognitive Einschränkungen so unter- schiedlich behandelt werden. Zwar kann man für das Zögern und Zaudern der Politik Verständnis haben – immerhin wäre es die umfassendste Reform seit Ein- führung der Pflegeversicherung. Doch irgendwann wird man klar sagen müssen, was man will und wie es bezahlt werden soll. Zu einer ehrlichen Debatte gehört aber auch dies: Wenn man Leistungen ausweitet, stei- gen die Beiträge. Und das geht zulasten derjenigen, die jetzt erwerbstätig sind. Wer heute jung ist, wird explizit aufgefordert, auch noch privat für Rente und Pflege vorzusorgen. Er ist also doppelt belastet. Die Leistun- gen, die junge Menschen später einmal erwarten kön- nen, sind hingegen gering. So hat man das nächste Gerechtigkeitsproblem.
PFLEGEBEDÜRFTIGKEITSBEGRIFF
Reform erst nach der Wahl
Birgit Hibbeler
Dr. med. Birgit Hibbeler Redakteurin für Gesundheits- und Sozialpolitik