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Archiv "Medizinische Zwangsmaßnahmen bei politisch motiviertem Hungerstreik" (17.06.1983)

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen THEMEN DER ZEIT

Paragraph 101, Absatz 1 des Straf- vollzugsgesetzes der Bundesrepu- blik Deutschland legt fest: „Zur Durchführung der (zwangsweisen) Maßnahmen ist die Vollzugsbe- hörde nicht verpflichtet, solange von einer freien Willensbestim- mung des Gefangenen ausgegan- gen werden kann, es sei denn, es besteht akute Lebensgefahr." Ge- gen die Einschränkung „es sei denn, es besteht akute Lebensge- fahr" erheben Ärzte und Juristen Bedenken. Eine Entschließung des 84. Deutschen Ärztetages 1981 und ein 1982 von der CDU- Fraktion im Berliner Abgeordne- tenhaus eingebrachter Antrag for- derten neben anderen standespo- litischen Erklärungen eine Novel- lierung der gesetzlichen Rege- lung. Es werden ethische, juristi- sche und medizinische Bedenken angemeldet. (Zum letzten Stand der politischen Willensbildung sie- he Kasten „Gesetzesinitiative des Bundesrates".)

Polarität zwischen Fürsorgepflicht und Freiheitsrechten

Die Fürsorgepflicht eines sozialen Rechtsstaates beschränkt sich nicht darauf, das Lebensrecht der Bürger zu garantieren. Sie um- faßt auch die Sorge, humanes Le- ben zu ermöglichen und zu schützen').

Diese lnpflichtnahme ist jedoch nicht unbegrenzt. Wie der einzel- ne nicht veranlaßt werden kann, zur Erhaltung seines Lebens au- ßergewöhnliche Mittel anzuwen- den, zum Beispiel einer sehr kost- spieligen oder risikoreichen Be- handlungsmethode zuzustimmen, so finden auch die staatlichen So- zialleistungen ihre Grenze im für die Solidargemeinschaft der Be- völkerung Zumutbaren. Diese ge- nerell gültige Regel gestattet selbst dann keine Ausnahme, wenn auf die staatliche Autorität

ein Teil der Selbstsorge für einen inhaftierten Bürger ob dessen Freiheitsbeschränkung übergeht.

Andernfalls wäre der Inhaftierte der Allgemeinheit gegenüber pri- vilegiert.

Auch im speziellen Fall einer me- dizinisch indizierten zwangswei- sen Behandlung in einer Straf- oder Heilanstalt gilt diese Ein- schränkung. Es kann an das Mo- ralsystem des Probabilismus 2) erinnert werden, der bei einem Rechtszweifel entgegen dem La- xismus (Alles ist erlaubt, was nicht verboten ist) und dem Tutiorismus (Alles ist verboten, was nicht er- laubt ist) die Grundeinstellung ver- tritt: Man darf nie Böses tun, sich um Gesundheit und Leben des Zwangsverwahrten nicht küm- mern. Man muß immer Gutes tun, den üblichen Standard der Hygie- ne und im Krankheitsfalle einhal- ten. Man muß nicht immer das Bessere tun, außergewöhnliche Mittel anwenden.

Da es sich um die Sorge für das der staatlichen Verwahrung anver- traute Leben eines in seiner äuße- ren Freiheit eingeschränkten Men- schen handelt, das Leben aber das höchste der materiellen Güter und die Voraussetzung für alle ideellen Güter und Werte darstellt, stellt sich die Sorgepflicht der Vollzugs- behörde bei latenter Suizidgefahr besonders dringlich dar. Sie gerät indes in Spannung zum Selbstbe- stimmungsrecht des Inhaftierten, näherhin zu dessen Freiheit, den Kern der gottebenbildlichen Wür- de der Person. Diese ist, weil in der Zuwendung Gottes, in Tod und Auferstehung Christi begrün- det, absolut, das heißt abgelöst vom Zugriff des Menschen, also unverzichtbar und unantastbar.

Die sittliche Bewertung der Selbsttötung

Nach welchen Kriterien kann die Reichweite der sittlichen Verant-

*) Die in Klammern stehenden Ziffern bezie- hen sich auf das Literaturverzeichnis der Sonderdrucke

Medizinische Zwangsmaßnahmen bei politisch motiviertem Hungerstreik

Eine moraltheologische Stellungnahme

Josef Georg Ziegler

Unter moraltheologischem Aspekt geht es zunächst um das Span- nungsverhältnis zwischen staatlicher Fürsorgepflicht und indivi- duellen Freiheitsrechten bei einem suizidverdächtigen inhaftierten Bürger, dann um eine sittliche Bewertung der Selbsttötung. Nach einer Umschreibung des Begriffs „politisch motivierter Hunger- streik" wird versucht, anhand der Bedingungen für die sittliche Erlaubtheit einer Revolution objektive Maßstäbe für eine ethische Beurteilung der gewaltlosen Nahrungsverweigerung zu gewinnen.

Von der aufgezeigten ethischen Position aus werden Folgerungen für das juristische und ärztliche Vorgehen gezogen. Abschließend ein Vorschlag für die Novellierung des Gesetzestextes.

86 Heft 24 vom 17. Juni 1983 80. Jahrgang DEUTSCHES ARZTEBLATT Ausgabe A

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Spektrum der Woche Aufsätze -Notizen

Medizinische Zwangsmaßnahmen bei Hungerstreik

wortung des einzelnen festgestellt werden, wenn er von sich aus sei- nem Leben ein Ende setzen will?

Traditionell werden zur sittlichen Qualifizierung eines Verhaltens die Tat als solche, die Umstände und die Absicht befragt 3). Selbst- tötung, die direkte und freibewuß- te Zerstörung des eigenen Lebens, ist für sich allein betrachtet sittlich unzulässig. Der Mensch hat ein persönliches Nutzungs-, aber kein willkürliches Eigentums- und Ver- fügungsrecht über sein Leben.

Diese Ehrfurcht vor dem Leben als Gabe und Aufgabe setzt ein thei- stisches Menschenbild voraus.

Ohne Gottbezug und die darin gründende Sinngebung von Le- ben, Sterben und Tod gilt die stoi- sche Alternative: „Exitus patet" 4).

Bei der Analyse des sittlichen Ak- tes sind „in die ,Handlung rein in sich' (das Objekt im engsten Sinn) jene Umstände" einzubeziehen,

„die eine besondere Beziehung zur sittlichen Ordnung haben" 5).

Die Pflicht, sein Leben auch unter schwersten äußeren oder inneren Belastungen zu erhalten, die Ma- terialität der Handlung, darf bezie- hungsweise muß unter Umstän- den gemäß der Rangordnung der Werte höheren sozialen, geistigen oder geistlichen Zielen nachge- ordnet werden, zum Beispiel der Verherrlichung Gottes im Marty- rium, einem sozialen Einsatz für die Gemeinschaft, der Notwehr oder der Erfüllung von Berufs- pflichten durch den Arzt oder Seelsorger. „Eine größere Liebe hat niemand, als wer sein Leben hingibt für seine Freunde" (Joh.

15,13).

Der Selbsttötung eignet in diesem erweiterten Handlungsbegriff eine moralitas intrinseca conditiona- ta6). Ihre sittliche Bewertung hängt davon ab, ob trotz der dia- lektischen Verschränktheit der drei Grundbeziehungen zu Gott, zum Nächsten oder zu sich selbst gemäß dem Hauptgebot der Liebe (Mt. 22,37 ff. Par.) die Hintanset- zung des eigenen Lebens gerecht-

fertigt beziehungsweise geboten ist.

Innere und äußere Umstände ver- mögen zusätzlich die sittliche Be- schaffenheit der Selbsttötung zu modifizieren. Pathologische Be- fangenheit und Zwangsvorstellun- gen führen zu Kurzschlußhandlun- gen der Selbstverbrennung, des Öffnens der Pulsader, des Sprun- ges in die Tiefe. Unter diesen Ge- gebenheiten ist es gerechtfertigt, durch äußeren Zwang die innere Nötigung zu brechen, nicht um die Freiheit aufzuheben, sondern um ihren rechten, verantwortbaren Gebrauch zu gewährleisten.

Eine dritte Komponente ist zu be- achten. Wenn zwei dasselbe tun, tun sie nicht dasselbe, wie das Gleichnis vom leistungsstolzen Pharisäer und dem demütigen Zöllner anschaulich aufzeigt.

„Dieser kehrte als Gerechter nach Hause zurück, der andere nicht"

(Lk. 18,14). Der Absicht, dem Be- weggrund oder Zweck, gebührt kraft der Freiheit des Willens als der Vorbedingung sittlicher Zure- chenbarkeit die ausschlaggeben- de Bedeutung. „Voluntas est, qua et peccatur et recte vivitur", wird seit Augustinus als moraltheolog sches Axiom tradiert').

Daraus entwickelte sich der Rechtsgrundsatz: „Volenti non fit iniuria." Es ist illegitim, jemanden zwingen zu wollen, sich für das vermeintlich bessere zu entschlie- ßen, oder zu versuchen, jemanden daran zu hindern, das vermeintlich schlechtere zu tun. Wer sich ei- genwillig einer dubiosen Heilbe- handlung unterzieht, soll es tun.

Es genügt, ihm die Gründe des Pro und Contra darzulegen. „Wer nicht hören will, muß fühlen."

Dem überlegten Wunsch eines Sterbenden, die kurative Versor- gung auf das übliche Maß zu beschränken, darf willfahren werden 8).

Diese drei Komponenten, nach de- nen sich die Sittlichkeit eines Ver- haltens ausrichtet, stehen unter- einander in einem polaren Span-

nungsverhältnis. Keiner der drei Pole darf polarisierend für sich al- lein in Ansatz gebracht werden.

Diese Erfahrung schlug sich in dem Dictum nieder: „Bonum ex integra causa, malum ex quolibet defectu." 9) Darum schädigt eine schlechte Absicht ein an sich gu- tes Verhalten, zum Beispiel den Lebenseinsatz für eine gute Sache aus persönlicher Eitelkeit. „Und wenn ich meinen Leib dem Feuer übergäbe, hätte aber die Liebe nicht, nützte es mir nichts" (1. Kor.

13,3). In gleicher Weise heiligt ein guter Zweck nicht ein schlechtes Mittel, zum Beispiel Tötung aus Barmherzigkeit. „Laßt uns Böses tun, damit Gutes entsteht? Diese Leute werden mit Recht verurteilt"

(Röm. 3,8).

Die Antwort auf die Frage, inwie- weit die Vollzugsbehörde zu einer Zwangsbehandlung verpflichtet ist, um das Lebensrecht eines ein- sitzenden Bürgers zu garantieren, ist ebenso vielschichtig, wie die Klärung des Problems, ob Selbst- tötung einen Mißbrauch der Frei- heit darstellt. Die interdependente Verschränktheit einer Selbsttö- tung mit den sie begleitenden Um- ständen und der zugrunde liegen- den Absicht verbietet bei beiden Fragen gleichermaßen sowohl ei- ne generelle strikte Ablehnung als auch eine unbedachte Zustim- mung. Ändert sich das Problem, wenn es auf die Zwangsernährung bei einem politisch motivierten Hungerstreik eingegrenzt wird?

Verschiebt sich das Verhältnis zwischen der Fürsorgepflicht des Staates und der Achtung der Per- sonwürde in Richtung auf die Be- achtung des freibewußten Ent- schlusses?

Der politisch motivierte Hungerstreik

Als politisch motivierter Hunger- streik wird die bewußte und freie Verweigerung der Nahrung be- zeichnet, bis eine politische For- derung erfüllt ist, notfalls bis zum Hungertod 10). Er stellt sich als eine Form des gewaltlosen Widerstan- 88 Heft 24 vom 17. Juni 1983 80. Jahrgang DEUTSCHES ARZTEBLATT Ausgabe A

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des dar, weil sich die Gewalttätig- keit nicht gegen andere, sondern gegen sich selbst richtet.

Die Umstände bestimmen ihn als ein politisches Kampfmittel, um vermeintliche oder wirklich vor- handene öffentliche Mißstände zu beseitigen. Diese "Selbstfolter"

wird mit der Absicht eingesetzt, um bei der Regierung eine be- stimmte Forderung durchzusetzen und zugleich die öffentliche Mei- nung für sich zu gewinnen oder deren Interesse auf bestimmte Verhältnisse zu richten.

Ein spezifischer Stellenwert kommt den Umständen zu. Es handelt sich nicht- wie bei Kurz- schlußhandlungen - um einen spontanen Entschluß, sondern um eine überlegte Strategie, um eine auf lange Sicht geplante und durchgehaltene Reaktion.

Durch die Alternative, entweder dem Verlangen der Inhaftierten nachzugeben oder sie durch den Hungertod zur Selbsttötung zu treiben, soll die staatliche Autori- tät in eine Zwangslage gebracht werden. Falls sie nicht nachgibt, denunziert sie sich selbst als Mör- der, während der Verhungerte die eigene moralische Überlegenheit demonstriert. Es geht um Erpres- sung, deren unberechenbare ap- pellative Wirkung durch die Vermi- schung rationaler und irrationaler Komponenten vorsätzlich ange- steuert wird.

Letztlich gibt in der Mittel-Ziel-Re- lation auch hier die Intention den Ausschlag. Ist das Ziel objektiv gut, kann der Hungerstreik sittlich erlaubt sein. Ein subjektiv irriges Gewissen wäre dabei kein Gegen- indiz. Andrej Frolow begann zu- sammen mit sechs anderen So- wjetbürgern Anfang Mai 1982 ei- nen unbefristeten Hungerstreik. Er wollte dadurch die staatlichen Be- hörden nötigen, die Erlaubnis zur Familienzusammenführung zu ge- währen. Am 20. 6. 1982 hatte er seine Absicht erreicht11). Einige Zeit vorher wollten Angehörige der IRA die englische Regierung

Spektrum der Woche Aufsätze · Notizen Medizinische Zwangsmaßnahmen bei Hungerstreik

durch Verweigerung der Nah- rungsaufnahme dazu veranlassen, den Anschluß von Ulster an Irland zu ermöglichen. Ihr Plan scheiter- te. Hatte er eine Hoffnung auf Er- folg?

Es vermischen sich in dem gestell- ten Problem individual- mit sozial- ethischen Perspektiven. Deshalb verspricht die Klärung der Frage nach der Zulässigkeit einer Revo- lution als einer Form gewalttäti- gen Widerstandes gegen die Staatsautorität weiteren Auf- schluß.

Bedingungen

für die sittliche Erlaubtheil einer Revolution

Papst Paul VI. hat in seiner vielbe- achteten Enzyklika "Populorum progressio- Über die Entwicklung der Völker" vom 28. 3. 1967 in Arti- kel 31 ausgeführt: "Trotzdem: je- de Revolution- ausgenommen im Fall der eindeutigen und langdau- ernden Gewaltherrschaft, die die Grundrechte der Person schwer verletzt und dem Gemeinwohl des Landes gefährlich schadet- zeugt neues Unrecht . . . Man darf ein Übel nicht mit einem noch größe- ren Übel vertreiben."12)

Die Analyse der sittlichen Qualität eines gewalttätigen Aufstandes kommt zu folgenden Vorausset- zungen für dessen Zulässigkeit:

a) Die Zuhilfenahme von Gewalt muß eine ultima ratio darstellen.

Alle anderen Möglichkeiten müs- sen erschöpft sein oder sich als undurchführbar erweisen.

b) Die Absicht muß von einer iusta causa ausgehen. Sie liegt vor, wenn individuelle und soziale Grundrechte auf lange Sicht und ohne Hoffnung auf Korrektur au- ßer Kraft gesetzt werden.

c) Eine absehbare Verhältnismä- ßigkeit der Mittel in der Nutzen- Schaden-Abwägung muß gefor- dert sein. Darin ist eine gewisse Aussicht auf Erfolg impliziert.

Maßstäbe für die ethische Beurteilung des Hungerstreiks

Werden die Zulassungsbedingun- gen für den gewalttätigen Wider- stand in einer Revolution auf das gewaltfreie Vorgehen in einer Nahrungsverweigerung ange- wandt, ergeben sich folgende Kri- terien:

.,.. Für die Zulässigkeit ist die Staatsform entscheidend. ln einer Diktatur kann ein Hungerstreik als letztmögliches, aufrüttelndes Fa- nal rechtens sein, um Unrecht an- zuprangern und Unrechtsverhält- nisse im Dienste der Menschen- würde zu ändern. ln einer funktio- nierenden Demokratie verliert die- ser Weg seine Legitimation. Hier stehen parlamentarische und au- ßerparlamentarische Einflußnah- men auf die Legislative wie auf die Öffentlichkeit zur Verfügung. Der Hungerstreik kann nicht auf eine ultima ratio rekurieren13).

.,.. Die lautere Absicht bewährt sich darin, daß gewaltfreie und ge- walttätige Mittel nicht nebenein- ander gebraucht werden. Sonst wird das Vorhaben, dem Rechte eine Gasse zu bahnen, unglaub- würdig. Deshalb sind die irischen Bischöfe mit Recht für eine Been- digung des Hungerstreiks der fRA- Angehörigen eingetreten. Mahat- ma Gandhi hat die Nahrungsver- weigerung demgegenüber als le- gitimes Kampfmittel eingesetzt. Er hat durch sein konsequentes Vor- gehen dazu beigetragen, daß ein Bürgerkrieg mit all den schreckli- chen Folgen verhindert wurde. Er hat darüber hinaus für die Präva- lenz ideeller Werte sein Leben ein- gesetzt. Sein Entschluß wäre auch dann gerechtfertigt gewesen, wenn er nicht sofort zu einem äu- ßeren Erfolg geführt hätte. Dieser war auf lange Sicht hin abzu- sehen.

Die Möglichkeit eines im guten Glauben irrigen Gewissens ist, wie bei allem Tun und Lassen, wegen der Begrenztheit menschlicher Einsicht und der Beeinflußbarkeit Ausgabe A DEUTSCHES ARZTEBLATT 80. Jahrgang Heft 24 vom 17. Juni 1983 91

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Spektrum der Woche Aufsätze ·Notizen

Medizinische Zwangsmaßnahmen bei Hungerstreik

menschlichen Willens, nicht aus- zuschließen. Es ist nicht zu verhin- dern, daß labile oder vehetzte Par- teigänger demagogisch miß- braucht werden, um die Gesell- schaft aus den Angeln zu heben.

Gruppierungen, die äußeren Ter- ror praktizieren, verwenden diese Taktik auch nach innen gegen- über ihren eigenen Anhängern.

Gemäß dem Axiom: "abusus non tollit usum" erlaubt ideologisierter Mißbrauch nicht, Hungerstreik ge- nerell ethisch zu disqualifizieren.

Das Vorliegen einer "iusta causa"

ist in jedem Falle eigens zu prüfen.

..,.. Die Umstände müssen so gela- gert sein, daß eine Hoffnung auf Erfolg nicht von vorneherein illu- sorisch erscheint. Eine gewisse Risikoadäquanz muß gegeben

sein. Sonst hätte die konditionier-

te Klausel, so lange zu hungern, bis der Erfolg sich eingestellt hat, keinen Sinn. Die Freiheit, sein Le- ben für eine gute Sache einzuset- zen, darf nicht mit emotionaler Willkür oder bedenkenloser Belie- bigkeit verwechselt werden. Frei- heit ist als Voraussetzung sittli- chen Verhaltens eine der höch- sten Auszeichnungen des Men- schen, die als frei bewußte Ent- schiedenheit für das Gute men- schenwürdig entfaltet wird. An- dernfalls führt sie in die Unfreiheit.

Ihre Grenzen findet die Freiheit an der Achtung vor den Freiheits- rechten Dritter, am Erhalt eines ehrenhaften öffentlichen Friedens und in der pflichtgemäßen Wah- rung der öffentlichen Sittlichkeit.

"Dies alles gehört zum grundle-

genden Wesensbestand des Ge- meinwohls und fällt unter den Be- griff der öffentlichen Ordnung (or- do socialis)." Diese Grenzen zieht im Artikel 7 die "Erklärung über die Religionsfreiheit" des II. Vati- kanischen Konzils. Sie stecken den Raum ab, innerhalb dessen auch ein gewaltloses Vorgehen rechtens sein kann. Werden die aufgezeigten Grenzen der indivi- duellen Freiheit überschritten, sind sie von der staatlichen Autori- tät zu schützen, notfalls mit Ge- walt, und zwar auch gegenüber dem einzelnen Bürger selbst.

Selbst eine religiös motivierte Ver- weigerung einer Heilbehandlung durch einen Elternteil darf, falls zum Beispiel Kinder einen Rechts- anspruch auf elterliche Fürsorge haben, nicht berücksichtigt wer- den. Bei urteilsunfähigen Patien- ten tritt stellvertretende Beurtei- lung der sittlichen und rechtlichen Zulässigkeit eines Verhaltens im Sinne einer "Geschäftsführung ohne Auftrag" ein.

Werden bei einem Hungerstreik die aufgezeigten Grenzen, zum Beispiel die Sorge für "jenen öf- fentlichen Frieden, der in einem geordneten Zusammenleben in wahrer Gerechtigkeit besteht"14),

nicht eingehalten, setzt sich die Aktion selbst ins Unrecht.

Bei Abwägen der drei objektiven ethischen Maßstäbe (ultima ratio, iusta causa, circumstantiae) ist ein politisch motivierter Hungerstreik in der Bundesrepublik Deutsch- land sittlich nicht erlaubt. Irriges Gewissen ist zuzubilligen.

Folgerungen für das juristische und ärztliche Vorgehen

Die eingangs aufgezeigte Polarität zwischen der sozialstaatliehen Fürsorgepflicht und der freiheitli- chen Selbstbestimmung des Bür- gers darf nicht polarisierend durch Streichen eines der beiden Pole einer vordergründigen Scheinlösung zugeführt werden.

Das Für und Wider ist gegeneinan- der abzuwägen. Letztlich handelt es sich bei der Zwangsernährung weniger um ein rationales als viel- mehr um ein psychisches Pro- blem. Dieser Umstand bestimmt das nähere Vorgehen gegenüber Gefangenen, die einen politisch motivierten Hungerstreik durch- führen.

C> Im juristischen Bereich: Jeder

Inhaftierte ist weiterhin Grund- rechtsträger. Aus der Beschnei- dung seiner Freiheitsrechte resul- tiert eine komplementäre Fürsor- gepflicht im Justizvollzug. Diese

Schutzpflicht muß sich wegen der Achtung der Personwürde des Ge- fangenen auf Angebote zur Hilfe beschränken. Sie darf nicht um-·

schlagen in gewalttätige Eingriffe in die personale Autonomie, die dem Zwangsverwahrten nicht mehr als Subjekt gegenübertritt, sondern ihn zu einem Objekt frem- den Willens degradiert. Auch wenn der Betroffene zum Gefan- genen seiner eigenen Tat gewor- den wäre, ließe sich die Brechung dieses absichtlich herbeigeführ- ten Zustandes nicht durch die An- nahme eines mußmaßliehen Wil- lens legitimieren. "Oe internis non iudicat praetor."

Im Unterschied zu spontanen Kurzschlußhandlungen muß in An- satz gebracht werden, daß beim Hungerstreik ein überlegter Plan längere Zeit hindurch verfolgt wird. Deshalb kann in dem Falle, daß die Vollzugsbehörde trotz akuter Lebensgefahr wegen lang- andauernder Nahrungsverweige- rung nicht eingreift, keinesfalls von einer Beihilfe zur Selbsttötung durch Unterlassen gesprochen werden.

Eine gesetzlich vorgeschriebene Zwangsernährung fördert viel- mehr die Erwartungshaltung, durch ein Verhalten bis zum Äu- ßersten die staatliche Autorität doch noch zum Einlenken zu be- wegen oder bei einem Mißlingen der Zwangsernährung in eine Un- rechtssituation zu drängen. Auch sollte im Interesse einer all- mählichen Angleichung an die europäische Gesetzgebung die bundesrepublikanische Regelung überprüft werden.

Die angeführten Überlegungen le- gen es nahe, den administrativen Anstaltsorganen keine Kompetenz hinsichtlich der Maßnahmen bei einem politisch motivierten Hun- gerstreik einzuräumen.

C> Unter medizinischem Aspekt:

Für den Anstaltsarzt ist der Delin- quent kein Gefangener, sondern ein Patient. Dieser strukturelle Un- 92 Heft 24 vom 17. Juni 1983 80. Jahrgang DEUTSCHES ARZTEBLATT Ausgabe A

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Medizinische Zwangsmaßnahmen bei Hungerstreik

terschied zum „ius coactivum" be- dingt ein spezifisches Vorgehen.

Das ärztliche Berufsethos „Nil no- cere" und das damit konkurrieren- de Selbstbestimmungsrecht des

Gesetzesinitiative des Bundesrates

Auch der Bundesrat hatte im vergangenen Jahr einen Be- schluß zur Änderung des Pa- ragraphen 101 Strafvollzugs- gesetz gefaßt. In der neuen Legislaturperiode hat er die- sen Beschluß am 18. 3. 1983 noch einmal bestätigt. Da- nach wird folgende Ände- rung von Paragraph 101 Ab- satz 1 vorgeschlagen:

„Medizinische Untersu- chung und Behandlung so- wie Ernährung sind zwangs- weise nur bei Lebensgefahr, bei schwerwiegender Gefahr für die Gesundheit des Ge- fangenen oder bei Gefahr für die Gesundheit anderer Per- sonen zulässig; die Maßnah- men müssen für die Beteilig- ten zumutbar und dürfen nicht mit erheblicher Gefahr für Leben oder Gesundheit des Gefangenen verbunden sein. Zur Durchführung der Maßnahmen ist die Vollzugs- behörde nicht verpflichtet, solange von einer freien Wil- lensbestimmung des Gefan- genen ausgegangen werden kann."

Patienten sind in ein korrespon- dierendes Verhältnis zu bringen.

Da es sich um ein vorwiegend psy- chisches Problem handelt, scheint eine ganzheitliche, psychophysi- sche Therapie angeraten.

Ausgangspunkt ist eine ganz- menschliche Zuwendung mit einer

immer wieder durchgeführten und aktenkundig gemachten Aufklä- rung über den jeweiligen Gesund- heitszustand. Nach Möglichkeit sollte der Lebenswille des Hun- gernden angestachelt und ge- stärkt werden. Jedoch ist die Er- fahrung zu berücksichtigen: Vive- re potes nisi volens 15 ).

Als praktische Methode empfiehlt sich vielleicht ein terminierter Flüssigkeitsentzug mit dem dar- auffolgenden Angebot einer nahr- haften Flüssigkeit.

Die österreichische Praxis, den Hungernden mit einem Mitgefan- genen zusammenzuschließen und ein opulentes Mahl zu servieren, wirkt überzeugend. Jedoch liegt die Entscheidung über das kon- krete Vorgehen beim behandeln- den Arzt.

Bei Eintritt einer akuten Lebens- gefahr ist in Hinsicht auf den Pa- tienten die Risikoadäquanz zu be- achten. Die zwangsweise Einfüh- rung einer Ernährungssonde kann den Tod herbeiführen, anstatt ihn abzuwenden. Von seiten des Arz- tes ist die Zumutbarkeit einer län- ger dauernden Zwangsernährung in Rechnung zu stellen.

Kurzum: Es müssen alle humanen Versuche, wie menschlicher Zu- spruch, Aufweis der Unsinnigkeit des Vorhabens, Einschalten von nahestehenden Personen und an- derem mehr in Gang gebracht werden, um es nicht zur akuten Gefährdung kommen zu lassen.

Doch ist es nach meiner Überzeu- gung auch in diesem Falle dem Arzt nicht gestattet, den erklärten Willen eines Patienten, sich nicht selbst zu erhalten, brutal, das heißt mit außergewöhnlichen Mit- teln, zu brechen. Die letzte Ent- scheidung liegt beim Arzt. Sowohl unter juristischem wie medizini- schem Aspekt kann eine Pflicht zur Zwangsernährung eines Häft- lings bei einem politisch motivier- ten Hungerstreik nicht nachgewie- sen werden. Den Überlegungen, die dagegen sprechen, kommt ei- ne größere argumentative Kraft zu.

Vorschlag zur Novellierung des Paragraphen 101 StrVG

Suizidverdächtige Personen stel- len die Solidargemeinschaft der Staatsbürger und die ethische Be- wertung der Selbsttötung vor ein komplexes Phänomen. Die Inter- dependenz von Handlung, Absicht und Umständen gestatten weder eine unbedingte sittliche Verurtei- lung noch Befürwortung einer Selbsttötung.

Bei der ethischen Bewertung ei- nes gewaltfreien Hungerstreiks aus politischen Motiven wurden entsprechend der Stellungnahme zu einer gewalttätigen Revolution die ultima ratio, die iusta causa und die circumstantiae befragt.

Das Ergebnis zeitigte die Unzuläs- sigkeit eines Hungerstreiks in der Bundesrepublik Deutschland.

Aus juristischer und medizinischer Perspektive kann die Zwangser- nährung bei politisch motivierter Nahrungsverweigerung nicht ge- rechtfertigt werden. Aufgrund die- ser Überlegungen wird folgende Novellierung des letzten Satzes des § 101 (1) StrVG zur Diskussion gestellt:

„Zur Durchführung der Maßnah- men ist die Vollzugsbehörde nicht verpflichtet, solange von einer freien Willensbestimmung des Ge- fangenen ausgegangen werden kann. Im Zweifelsfalle entscheidet der behandelnde Arzt."

Anschrift des Verfassers:

Prälat

Professor Dr. Josef Georg Ziegler Fachbereich

Katholische Theologie

Johannes-Gutenberg-Universität Saarstraße 21

6500 Mainz

Ausgabe A DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 80. Jahrgang Heft 24 vom 17. Juni 1983 95

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