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Archiv "Das Gesundheitswesen in Schweden, von innen betrachtet" (01.04.1976)

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

BLICK ÜBER DIE GRENZEN

Die Reform von 1975

Ab 1975 hat man nun auch die bis- her diskriminierten Privatpraktiker und ihre Patienten in das ab 1970 praktizierte Krankenkassensystem angeschlossen. Der Patient bezahlt nun zwischen 25 und 35 Kronen (ein Herrenhaarschnitt kostet 25 Kronen, der Kinobesuch ebenfalls), bei Kurzkonsultationen etwas weni- ger, direkt an den Arzt. Weitere va- riierende Beträge bezahlt die Kran- kenkasse direkt an den Arzt, so daß die Bruttoeinnahme des Arztes je Konsultation zwischen rund 25 und mehr als 400 Kronen (für avan- cierte ambulante Eingriffe und Konsultationen) schwankt.

Auch das „praktische" System des Telefonrezeptes, wobei der Arzt Medikamente telefonisch von der Apotheke ausliefern läßt, hat man einbezogen. Der Patient bezahlt hier unmittelbar 15, die Kasse zu- sätzlich 10 Kronen. Die Patienten- abgabe beim Medikamentenbezug in der Apotheke beträgt maximal 20 Kronen, ganz gleich wie teuer die Medikamente sind.

Das neue System garantiert dem Facharzt im Augenblick ein relativ gutes Einkommen, die praktischen Ärzte kommen dahingegen schlechter weg. Die Zahl der von der Kasse höher dotierten Erstbe- suche hat man pro Arzt und Jahr auf maximal 6000 begrenzt. Hat man mehr Erstbesuche, zahlt die

Kasse nichts. Diese Bestimmung wird in Gebieten mit großem Ärzte- mangel stark kritisert.

Kein Verhandlungsrecht

der Ärzte

Auch bei Einführung dieser Reform hatten die Ärzte kein Verhand- lungsrecht, sondern waren ge- zwungen, die neue Regelung ohne Änderungen zu akzeptieren. Man drohte ihnen, bei Verweigerung der Unterschrift das Recht zum freien Ein- und Austritt aus dem Kassen- system zu versagen, was einer kompletten Verstaatlichung gleich- gekommen wäre.

Diese Behandlung der Ärzteschaft kontrastiert scharf mit den sonst üblichen Gepflogenheiten auf dem schwedischen Arbeitsmarkt: Der Arbeitnehmer hat eine sehr starke Stellung, er ist praktisch unkünd- bar, der Arbeitgeber darf nicht ein- mal selbständig die Arbeit leiten und verteilen, und es gibt praktisch keine Arbeit, die nicht von den all- mächtigen Gewerkschaften auf dem Verhandlungswege reguliert wird.

Wie bisher hat auch in Zukunft der Ärzteverband nicht das Recht, über die Höhe der Gebühren zu verhan- deln, sie werden einseitig vom Staate bestimmt. Der Ärzteverband wird nur „konsultiert", und wie sich das im Lichte rasch steigender Ärztezahlen ausnehmen wird, weiß

man schon aus langjähriger Erfah- rung mit den alten Gebühren. Man tröstet sich zunächst noch mit dem Recht, den Kassenvertrag lösen und dann die Honorare selber be- stimmen zu können, fürchtet aber die Rache der „Vollsozialisierung"

bei zu verbreiteter Fahnenflucht oder das Ärzteproletariat.

Ein weiteres anschauliches Bei- spiel für „Gebührentiefkühlung"

und Zwangsmaßnahmen liefern seit einigen Jahren auch die Zahnärzte.

Zahnbehandlungen werden näm- lich erst seit dem 1. Januar 1974 von der gesetzlichen Krankenkasse

— in der Regel zu 50 Prozent — vergütet. Diese Reform wurde mit viel Tamtam durchgeführt, und man ist sehr stolz darauf. Daß aber derartige Sozialleistungen schon seit vielen Jahrzehnten in anderen europäischen Ländern existieren, weiß kaum jemand. Auch Brillen bekommt man in Schweden nicht von der Krankenkasse ersetzt.

Diskriminierung der „Freizeitpraktiker"

Die Ärzteschaft mußte im Zusam- menhang mit dieser letzten Kran- kenkassenreform noch eine weite- re bittere Pille schlucken. Man er- laubte nämlich den öffentlich ange- stellten Ärzten mit „Freizeitpraxis", trotz katastrophalen Mangels an niedergelassenen Ärzten, nicht den Anschluß an das neue Kassensy- stem. Zwar kann die jeweilige Län- derbehörde (Landsting) ihren Ärz- ten den Anschluß erlauben, aber nur, wenn man sie nicht für Frei- zeitarbeit am Arbeitsplatz selber einsetzen will. Dies wollen aber die meisten Provinzregierungen, und man hat es ihnen auch von oben warm ans Herz gelegt.

Die Ärzte ihrerseits aber haben es fast ausschließlich vorgezogen, entweder wirklich Freizeit zu ma- chen oder aber ihre „Freizeitpra- xis" ohne Kassenanschluß weiter zu betreiben. Vertragsgemäß steht nur den jüngsten Ärzten Überstun- denbezahlung zu. Vom halbfertigen Spezialisten aufwärts, die die mei- sten Überstunden leisten und auch

Das Gesundheitswesen in Schweden,

von innen betrachtet

Dieter Lockner

Zweite Fortsetzung und Schluß

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 14 vom 1. April 1976 975

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Spektrum der Woche Aufsätze ·Notizen

Gesundheitswesen in Schweden

meist "Freizeitpraxis" betreiben, ist dies aber nicht der Fall. Und viele Ärzte leisten bereits reichlich un- bezahlte Überstunden und wollen sich nicht noch mehr an den Ar- beitsplatz fesseln lassen. Das macht diese Freizeitregelung be- sonders "gelungen".

Die Reform von 1975 hat die Kran- kenpflege der Patienten der "Frei- zeitpraktiker" noch mehr verteuert.

Jetzt müssen sie nicht nur den Arztbesuch völlig selber bezahlen, sondern auch alle daraus resultie- renden Folgeuntersuchungen, wie Röntgen und Labortests, die früher zumindest subventioniert waren, und die für den Patienten eines Vertragsarztes ganz umsonst sind.

Was das beispielsweise für die 800 000 Freizeitpraktikerbesucher im Stockholmer Raum, die ihre Kassengebühren wie alle anderen entrichten müssen, bedeutet, kann man sich leicht vorstellen.

ln Schweden sind die Laborunter- suchungen des niedergelassenen Arztes schon immer nur schlecht honoriert worden. Röntgenuntersu- chungen durften nur von Rönt- genologen und Lungenfachärzten ausgeführt werden, weshalb man die Patienten meistens zu Ärzte- laboratorien und Röntgenologen geschickt hat. Nach der letzten Re- form werden derartige Leistungen nur noch dem Röntgenologen und Laborfacharzt honoriert, der nie- dergelassene Arzt führt deshalb höchstens Blutsenkungen, Hämo- globinbestimmungen und Clinistix- Untersuchungen selber aus. Nur die Distriktsärzte, und dann vor- nehmlich auf dem Lande, führen ei- nige weitere einfache Untersu- chungen im eigenen Labor aus.

Die Reaktion der Ärzteschaft

Man wird sich fragen, ob nicht die Ärzteschaft die negativen Konse- quenzen dieser Reformen habe voraussehen und dagegen reagie- ren können. Die Konsequenzen hat man ziemlich genau vorausgese- hen; die Presse hat jedoch der warnenden Stimme der Ärzte kaum

Gehör geschenkt. Viele Ärzte ha- ben schon bei der ersten Reform Streikmaßnahmen empfohlen, sie waren auch im Detail vorbereitet, aber der Schwedische Ärztever- band hat den Drohungen der Re- gierung, bei Nichtakzeptieren noch radikalere Veränderungen durch- zuführen, nachgegeben. Zu einer von vielen Ärzten geforderten Ge- neralabstimmung kam es bei kei- ner der Reformen, und eine Majori- tät für Kampfmaßnahmen kam im beschließenden Gremium nicht zu- stande, vermutlich weil die Regie- rung, taktisch raffiniert, statt einer großen Reform, gemäß der hierzu- lande oft praktizierten Salamitaktik, mehrere Teilreformen durchführte, so daß jeweils nur Teile der Ärzte- schaft betroffen waren, und somit nie eine opponierende Majorität zustande kam.

Der Patient

in der Warteschlange

Braucht man ärztliche Hilfe, be- stellt man telefonisch einen Kon- sultationstermin beim Arzt. Mit Hin- setzen und Warten, bis man dran- kommt, hat man höchstens eine Chance bei akuten Erkrankungen.

Bei nicht akuten Krankheiten muß man im allgemeinen ein paar Wo- chen warten. Der Schwede erträgt das mit dem üblichen, charakteri- stischen Gleichmut, böse werden meist nur die Ausländer. Nicht sel- ten kann der Arzt - auch bei aku- ten Erkrankungen - den Patienten nicht unmittelbar herannehmen.

Man wird vielmehr an die Akutpoli- klinik des Krankenhauses verwie- sen, in dessen Einzugsbereich man wohnt. in den größeren Städten steht einem als weitere Möglichkeit ein diensttuender Arzt Tag und Nacht zur Verfügung, der im Funk- auto Besuche abstattet und das Nötigste veranlaßt Im allgemeinen wartet man nicht länger als ein bis zwei Stunden. Handelt es sich um einen Akutfall, geht es schneller.

Zu Grippezeiten muß man auch in Großstädten zuweilen 6 bis 12 Stunden warten. Distriktsärzte und Privatpraktiker machen in den Städten selten Hausbesuche, wohl aber auf dem Lande, wo auch kein

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Heft 14vom 1.April1976

DEUTSCHES ARZTEBLA'IT

extra Diensttuender zur Hand ist.

Der Patient bezahlt bei Hausbesu- chen durch den offiziellen Dienst- tuenden in Stockholm 25 Kronen, der Arzt bekommt 55 bis 65 Kronen von der Kasse dazu. Fahrer und Funkauto stellt die Stadtgemeinde.

Als Diensttuende stellen sich Ärzte zur Verfügung, die anderswo eine feste Anstellung haben. Auf die gute Organisation ist es zurückzu- führen, daß man trotz relativ niedri- ger Gebühr auf einen Stundenlohn von etwa 200 Kronen kommt. Im allgemeinen können jedoch diese Ärzte den Patienten keine fortge- setzte Behandlung bieten, wes- halb man bei einem anderen Arzt dann doch wieder lange warten muß. Hausbesuche durch einen Privatarzt bezahlt der Patient mit 35 bis 45 Kronen, die Kasse zahlt dem Arzt 40 bis 65 Kronen dazu.

Wählt man bei akuten Erkrankun- gen den direkten Weg ins Kranken- haus, muß man die Akutpoliklinik aufsuchen und dort bei nicht le- bensgefährlichen Erkrankungen mehrere Stunden warten. Vier bis fünf Stunden bei einer Schulterge- lenksluxation sind dabei durchaus an der Tagesordnung. Aufnahme zu stationärer Behandlung erfolgt wegen chronischer Oberbelegung der meisten Krankenhäuser nur bei schwerwiegenden Erkrankungen, oder wenn die Patienten hilfebe- dürftig sind, aber eine Hilfe zu Hause nicht gewährleistet ist. Man wird dann meist so rasch wie mög- lich wieder aus dem Krankenhaus entlassen. Die Akutpolikliniken der Krankenhäuser werden im allge- meinen unnötig überbelastet. Er- stens ist es dort billiger als beim Privatpraktiker und Distriktarzt, zweitens hat man unberechtigter- weise mehr Zutrauen zum Kran- kenhaus, und drittens kann man oft keinen rechtzeitigen Termin beim niedergelassenen Arzt bekommen.

Oft kommen Patienten als "akut krank" zum Krankenhaus, nur um ihre Krankschreibung verlängert zu bekommen.

..,. Die Akutpoliklinik des Universi- tätsklinikums Huddinge beispiels- weise verarztet jährlich mehr als

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Spektrum der Woche Aufsätze Notizen Gesundheitswesen in Schweden

70 000 Besucher, und das bei einem Bevölkerungseinzugsgebiet von etwa 150 000 Personen.

Dies beweist die unzureichende Versorgung mit niedergelassenen Ärzten und läßt die Maßnahme der Behörden, diesen die Arbeit zu er- schweren (begrenzte Patienten- zahl, Freizeitpraktiker), doppelt grotesk erscheinen. Kein Wunder, daß schwerkranke Patienten oft skandalös lange warten müssen.

Kurze Verweildauer — chronische Überbelegung

Rund 70 bis 80 Prozent der Bele- gung der inneren und chirurgi- schen Kliniken sind Akutaufnah- men. Auch komplizierte Durchun- tersuchungen werden nur stationär durchgeführt, wenn sie größere Eingriffe oder komplizierte Unter- suchungen erfordern (größere Biopsien, Arteriographien, metabo- lische Studien usw.) oder sehr ei- len, alles andere wird ambulant er- ledigt. Nach einer unkomplizierten Appendektomie oder Herniotomie wird man nach drei bis vier Tagen nach Hause entlassen. Varixoperier- te (stripping) oder curettierte Pa- tienten werden entweder am näch- sten Tage heimgeschickt oder oft sogar ambulant operiert. Patienten, denen zur Behandlung von Unter- leibskrebsen Radiumeinlagen ver- abfolgt werden, gehen noch am Tage der Radiumentnahme nach Hause. Die durchschnittliche Ver- weildauer auf inneren Akutkliniken beträgt, trotz Mangel an Chroniker- betten und relativ hohem Alters- durchschnitt, in Stockholm nur zehn bis elf Tage. Unkomplizierte Pneumonien werden grundsätzlich zu Hause behandelt.

Die Belegung innerer Akutklini- ken liegt bei 100 Prozent, in ande- ren Fachrichtungen ist sie mei- stens etwas niedriger. Auf inneren Abteilungen sind Extrabetten die Regel, oft liegen Patienten auf den Korridoren. In Schweden kamen 1971 auf 1000 Einwohner 8 Betten in allgemeinen Krankenhäusern, rechnet man alle Spezialkliniken usw. zusammen, kommt man auf 15 Betten. Die Zahl dürfte sich inzwi-

schen nicht wesentlich erhöht ha- ben, was die Überlastung erklärt (vergleichbare Zahlen für die Bun- desrepublik Deutschland: 13 Bet- ten auf 1000 Einwohner).

Keine freie Krankenhauswahl Das Krankenhaus, zu dem man geht, darf man sich nicht aussu- chen. Bei lebensbedrohlichen Er- krankungen darf man sich jedoch an die nächstgelegene Klinik wen- den. Nicht selten liegen verschie- dene Fachabteilungen in verschie- denen Krankenhäusern. So hat man beispielsweise innere Medizin und Chirurgie meist in der Nähe, doch können dafür HNO- oder Au- genkliniken oft weit entfernt sein.

Meist sind jedoch Fachärzte klei- nerer Spezialitäten für den nicht akuten, ambulanten Betrieb auch an kleineren Krankenhäusern an- gestellt. Beim Umbau der Stockhol- mer Universitätsklinik bekam neu- lich ein Bauarbeiter einen Fremd- körper ins Auge, die Universitäts- klinik behandelte ihn aber nicht, sondern verwies ihn an die dem Wohnort zugehörige, weit entfernt liegende Augenklinik. Dieses Er- eignis, das kein Einzelfall, sondern eher ein Schulbeispiel ist, illu- striert, wie die schwedische Kran- kenpflege von steifbeinigen büro- kratischen Methoden dirigiert wird.

Freie Arztwahl — eine Illusion

Will man einen niedergelassenen Arzt konsultieren, kann man wäh- len, entweder zum Distriktsarzt zu gehen, wo vor allem in den Städten die Stelleninhaber häufig wechseln oder oft sogar alle 6 Monate ein neuer Pflichtassistent allein sitzt, bezahlt aber nur 15 Kronen. Oder man geht zum „kassenangeschlos- senen" Privatpraktiker, zahlt dort 25 bis 35 Kronen, trifft aber immer denselben Arzt und hat wie beim Distriktsarzt alle erforderlichen Un- tersuchungen gratis. Dasselbe gilt auch für kassenangeschlossene Fachärzte.

Ist der Arzt nicht der Kasse ange- schlossen, wie etwa die „Freizeit-

praktiker", zahlt man wesentlich mehr und kommt außerdem noch für alle Untersuchungen selbst auf.

Man kann zu ambulanten, nicht akuten Konsultationen auch ins Krankenhaus gehen, wo man keine freie Arztwahl hat, aber nur 15 Kronen bezahlt. Man wird, außer in Spezialfällen, die vor allem für Universitäts- kliniken gelten, nur in der Kli- nik aufgenommen, zu der man dem Wohnsitz nach gehört, und im all- gemeinen nur mit Überweisung.

Zur echten freien Arztwahl stehen somit für mehr als acht Millionen Schweden nur etwas mehr als 1000 Privatpraktiker zur Verfügung.

Rechnet man „Freizeitpraktiker"

und mehr permanent besetzte Di- striktsarztstellen hinzu, dürfte man lediglich auf gut das Doppelte kommen, Zahlen, die dokumentie- ren, daß von echter Wahlfreiheit nicht die Rede sein kann.

Enorme Wartezeiten

Wartet man nach Erhalt einer Ein- weisung darauf, wegen einer Er- krankung, die durch Warten nicht direkt lebensgefährlich wird, ent- weder ins Krankenhaus aufgenom- men oder dort poliklinisch unter- sucht zu werden, so muß man sich meist auf mehrere Monate gefaßt machen (Gastritis, unspezifische Kolitis usw). Ist es dringender, geht es etwas schneller. Bei Obstipation oder Obesitas wartet man ein Jahr oder länger! Es ist nicht unge- wöhnlich, daß Patienten in Erwar- tung einer Konsultation beim Fach- arzt am Krankenhaus monatelang krank geschrieben gehen.

Bei einer Cholelithiasis oder bei Varizen muß man oft zwei bis drei Jahre auf die Operation warten.

Bei kosmetischen Brustoperatio- nen wartet man in Stockholm zwei Jahre auf die präoperative Beurtei- lung und dann noch sieben(!) Jah- re auf die Operation. Geht man pri- vat, wird man umgehend operiert und bezahlt 4000 bis 5000 Kronen.

Prinzipiell kann man auch selbst am Krankenhaus Zeit für eine Kon- sultation bestellen, muß aber, wenn es nicht eindeutig bedrohlich

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 14 vom 1. April 1976 977

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Gesundheitswesen in Schweden

klingt, mit sehr langen Wartezeiten rechnen und wird deshalb zur si- chereren Beurteilung im allgemei- nen erst an einen niedergelassenen Arzt verwiesen. Den Arzt, von dem man am Krankenhaus behandelt wird, kann man sich nicht aussu- chen.

Suventionierte Transportkosten Ist zum Arztbesuch aus Krankheits- gründen ein Taxi erforderlich, kann man einen Teil der Kosten ersetzt erhalten, aber nur, wenn man den nächsten öffentlich angestellten Arzt aufsucht. Ambulanztransport ist gratis und kann vom Patienten selbst bestellt werden. Die Tatsa- che, daß man Taxifahrten selbst vorstrecken und zum Teil selber bezahlen muß, hat dazu geführt, daß statt dessen von den Patienten oft mißbräuchlich Ambulanzen an- gefordert werden. Dieser Miß- brauch wurde neulich in Stockholm auf 50 Prozent der gesamten Am- bulanztransporte geschätzt. Eine Taxifahrt kostet etwa an die 50 Kronen bei weiteren Strecken, ein Ambulanztransport dahingegen mehr als das Zehnfache.

Privatpflege diskriminiert

Die Erfahrungen haben gezeigt, daß die öffentliche Krankenpflege für den Patienten billiger ist als die private, dahingegen aber schlech- ter funktioniert und eine freie Arzt- wahl fast unmöglich macht. Das Preisgefälle ist beabsichtigt, die Regierung will, daß alle Kranken- fürsorge in der öffentlichen Hand landet, und nirgends ist in den langfristigen Plänen von privater Krankenfürsorge die Rede. So hat- ten auch sämtliche Krankenpflege- reformen zur Folge, daß sich die Konkurrenzsituation des privaten Krankenpflegesektors systematisch verschlechterte.

Enorme Kosten — der Steuerzahler bezahlt kollektiv

Die billige, aber oft ineffektive und mit Bürokraten überbesetzte öf- fentliche Krankenpflege — in Stock-

holm hat sich bei fast unveränder- ter Bettenzahl das Personal der Krankenhausverwaltungen inner- halb von 10 Jahren verzehnfacht — legt den Gemeinden und damit na- türlich dem Steuerzahler ungeheu- re finanzielle Lasten auf. Die Aus- gaben für die Krankenfürsorge wa- ren 1970 mit 78 Prozent der größte Ausgabenposten der Gemeinden, er ist seitdem noch weiter gestie- gen und fordert ständig neue Erhö- hungen der Gemeindesteuer. Die Gemeinden haben 1974 rund 38 Milliarden Kronen, das sind fast 4000 Kronen pro Einwohner und Jahr, allein für die Krankenpflege ausgegeben.

Im Sommer geschlossen, da hilft nur noch beten

Besonders prekär pflegt die Kran- kenversorgung in den Sommermo- naten zu sein. Wegen des kurzen Sommers nehmen die meisten Schweden, und so auch die in der Krankenpflege tätigen, ihren Ur- laub während der sechs bis acht Hochsommerwochen. Dies macht natürlich die Aufrechterhaltung ei- ner uneingeschränkten Krankenfür- sorge unmöglich. Viele Praxen sind geschlossen, und die meisten Kran- kenhäuser schließen einen Teil ih- rer Stationen. Oft stehen nicht viel mehr als 50 Prozent der vollen Bet- tenzahl während dieser Zeit zur Verfügung.

• Die Qualität des diensttuenden Personals läßt dann obendrein oft noch viel zu wünschen übrig. Oft müssen unerfahrene Kräfte Aufga- ben übernehmen, denen sie nicht ganz gewachsen sind, oder es rük- ken Leute zur Vertretung ein, die längere Zeit nicht in ihrem Beruf tätig waren. Der Bettenmangel ver- schärft die Aufnahmebedingungen noch mehr, und die Verweildauer wird deshalb noch mehr verkürzt.

Nicht selten werden Patienten un- vollständig behandelt nach Hause entlassen, und Wiederaufnahmen wegen Rückfällen sind an der Ta- gesordnung. Man hört Patienten und andere Eingeweihte gelegent- lich sagen, daß man in sein Abend- gebet die Bitte einschließen solle,

im Sommer nicht krank zu werden.

Die politisch sehr weit vorangetrie- bene Familienauflösung führt dazu, daß viele chronisch Kranke und alte Leute ins Krankenhaus müs- sen, weil ihre Angehörigen auf den Urlaub nicht verzichten wollen oder der kommunale Heimpflege- dienst aus Urlaubsgründen die Pa- tienten nicht mehr ausreichend in ihren Heimen betreuen kann. Man kann finanzielle Unterstützung be- kommen, wenn man kranke Ange- hörige zu Hause pflegt, die ausbe- zahlten Beträge sind aber so ge- ring, daß sie keine Alternative für auch schlechtest bezahlte Berufs- arbeit darstellen.

Eine Woche

Selbstkrankschreibung — keine Karenztage

Bei der Krankschreibung hat es früher Karenztage gegeben. Seit ein paar Jahren gilt jedoch, daß man sich bis zu einer Woche ohne Karenztage und ohne ärztliches At- test selber krank schreiben kann;

man ruft oder schreibt nur an die Krankenkasse (Samstag—Sonntag:

Bandeinspielung), das gilt auch bei Auslandsreisen. Ist man länger als eine Woche krank, braucht man ein ärztliches Attest. Dauert die Krankschreibung länger als drei Monate, schaltet sich der Vertrau- ensarzt ein und verlangt vom krank schreibenden Arzt näheren Bescheid, um, wenn möglich, die Rehabilitation zu beschleunigen.

Gelingt es nicht, in absehbarer Zeit die Arbeitsfähigkeit wiederherzu- stellen, wird der Patient, je nach Alter und Prognose, vorübergehend zeitbegrenzt oder aber definitiv pensioniert.

Das allgemeine Pensionsalter ist 65 Jahre; ab 60 Jahre kann man sich jedoch ohne Krankheit und ärztliches Zeugnis selber vorzeitig pensionieren lassen, bekommt dann aber eine reduzierte Rente ausgezahlt.

Das Krankengeld hängt vom Ein- kommen ab, es war früher niedri- ger und steuerfrei, seit einiger Zeit ist es erhöht und steuerpflichtig

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Gesundheitswesen in Schweden

geworden. Zur Zeit bekommt man bei einem Jahreseinkommen von 4500 Kronen 11 Kronen Kranken- geld täglich; bei einem Einkommen von 99 000 Kronen sind es 179 Kro- nen. Höhere Einkommen bedingen kein höheres Krankengeld, dafür ist aber auch die Abgabe an die Krankenkasse mit 1300 Kronen pro Jahr begrenzt. Man kann sich zu- sätzlich gegen Einkommensverlust privat versichern.

Jeder Werktätige jährlich

vier Wochen krank geschrieben?

In Schweden wurden im letzten Jahr Krankengeld für 106 Millionen Krankentage, insgesamt 14 Milliar- den Kronen ausbezahlt. Das be- deutet, daß 10 Prozent(!) der werk- tätigen schwedischen Bevölkerung ständig krank sind, oder jeder durchschnittlich vier Wochen krank geschrieben ist. Die Ver- gleichszahl für Japan beträgt drei Prozent, für die Bundesrepublik sechs bis sieben Prozent. 75 Pro- zent der Krankgeschriebenen mel- den sich nach einer Woche, wenn das ärztliche Attest fällig wird, wie- der gesund. Es sind aber nur 10 Prozent der Werktätigen, die für 90 Prozent der Krankschreibungen verantwortlich sind. Diese Zahlen sind seit Einführung der letzten Re- formen, ob post oder propter, steil angestiegen. Zur Zeit sind 300 000 Menschen vorzeitig pensioniert, fast vier Prozent der gesamten schwedischen Bevölkerung!

Die allgemeine Grundrente beträgt gegenwärtig 9000 Kronen im Jahr für Alleinstehende, 15 000 Kronen für Verheiratete. Seit mehr als zehn Jahren baut man jedoch aus Steuerabgaben riesige Pensions- fonds auf, die in knappen 20 Jah- ren so angewachsen sein sollen, daß sie jedem in Schweden Ansäs- sigen, der mindestens 30 Jahre ge- arbeitet hat, 75 Prozent seines Ein- kommens während der 15 besten Jahre als Pension garantieren soll.

Bis dahin werden steigende Anteile dieses Betrages ausbezahlt. Eine obere Einkommens- und damit Pensionsgrenze ist vorgesehen.

Zur Zeit liegt diese obere Grenze

bei einem Jahreseinkommen von etwa 64 000 Kronen, die hierbei an- fallende maximale Pensionssumme liegt bei 34 000 Kronen pro Jahr.

Staats-, Gemeinde- und Industrie- angestellte, zu denen auch die öf- fentlich angestellten Ärzte gehö- ren, haben etwas höhere Pensionen mit einer gewissen Progression nach oben. Ein öffentlich angestell- ter Oberarzt bekommt zum Beispiel zur Zeit etwa 50 000 Kronen Jahres- pension, die jedoch Index-regu- liert ist. Kritiker erachten die Pen- sionsfonds für überdimensioniert, sie betrugen 1974 etwa 77 Milliar- den Kronen und steigen im Augen- blick jährlich mit 10 bis 12 Milliar- den. Die Fonds werden jetzt in stei- gendem Maße zum Einkauf von In- dustrieaktien herangezogen, von vielen Sozialisierung genannt.

Man macht große Anstrengungen, Arbeitsunvermögende zu rehabili- tieren. Mißbrauch ist nicht unge- wöhnlich. Ich habe einen etwa 30- jährigen Mann mit schwerer sozia- ler Belastung gesehen, der dreimal unter hohen Kosten in monatelan- ger, teilweise jahrelanger Ausbil- dung zu jeweils recht qualifizierten Berufen umgeschult wurde. Sobald er einige Zeit in dem jeweils neuen Berufe gearbeitet hatte, klagte er über neue, zuvor nicht dagewesene Beschwerden, ohne daß somati- sche Veränderungen konstatiert werden konnten. Die neuen Be- schwerden machten es jeweils un- möglich, in dem neuerlernten Beruf zu arbeiten. Als die dritte Umschu- lung ihn zum Zugführer bei der Un- tergrundbahn gemacht hatte, be- kam er eine Tunnel-Klaustropho- bie. Daraufhin wollte er Dirigent(!) werden, jetzt gab die Krankenkas- se auf und pensionierte ihn.

Sozialausgaben an der Grenze des Möglichen angelangt?

Die Kritiker dieser hohen sozialen Leistungen befürchten, daß eines Tages die Arbeitenden nicht mehr in der Lage sein könnten, diese Leistungen zu finanzieren, und daß es allmählich zu einer generellen Änderung der Einstellung des ein-

zelnen zur Arbeit kommen könnte, einer Einstellung, die in Jahrhun- derten in unseren Kulturen heran- gewachsen ist, und daß diese Än- derung dann eines Tages den Un- tergang unserer Existenz und Kul- tur herbeiführen könnte.

Leidtragender: Der Patient

Man gibt in Schweden mithin enor- me Summen für die Krankenfürsor- ge aus. Der technische Standard an den Krankenhäusern ist hoch, mit Datenverarbeitung, elektro- nisch gesteuerten Transportsyste- men, modernsten Laboratorien usw. Der Patient als Individuum ist jedoch mehr und mehr ins Hinter- treffen geraten. Und wenn auch sonst hierzulande das Kollektiv vor dem Individuum kommt, so hat doch die sozialdemokratische Re- gierung sich in dieser Situation ge- zwungen gesehen, ihren Wählern etwas so Selbstverständliches wie den Zugang zu einem eigenen Arzt bis 1980 zu versprechen.

Der Präsident der Bundesärzte- kammer, Professor Dr. Hans Joa- chim Sewering, hat kürzlich mit treffender Vorausschau die Konse- quenzen aller Reformbestrebungen auf dem Gebiete der Krankenver- sorgung aufgezeigt, indem er schrieb: „Gewiß, wir Ärzte werden unser Brot immer verdienen, in je- dem — auch noch so schlechten

— System. Leidtragende der Ver- schlechterung werden letzten En- des aber die Patienten sein"

(DEUTSCHES ÄRZTEBLATT, Heft 38/1975, Seite 2591). Daß diese Prophezeiung nicht nur für die Bundesrepublik zutrifft, sollte aus dem vorstehenden Bericht hervor- gehen, denn diesbezüglich scheint die Zukunft in Schweden bereits begonnen zu haben. Es ist meine Hoffnung, daß sich aus dem Darge- stellten etwas lernen läßt.

Anschrift des Verfassers:

Dozent Dr. med. Dieter Lockner Universitätsklinikum

Huddinge

Medizinische Klinik S-141 86 Huddinge Schweden

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Heft 14 vom 1. April 1976 979

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