Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen
FEUILLETON
Es war um das Jahr 1925, als uns Studenten der Berliner Internist Friedrich Kraus (Charitö) dringend ans Herz legte, die Werke des Schriftstellers und Arztes Arthur Schnitzler zu lesen. Sie seien die beste Einführung in die verschlun- genen und dunklen Labyrinthe der menschlichen Seele. In ihnen ver- knüpfe sich Dichtung und Medizin auf wundersame Weise. In allen sei- nen Stücken kreise als Leitmotiv die Eigenart der Menschen, ihr wahres Denken und Fühlen hinter einer Maske zu verstecken. Allein in ge- heimen inneren Monologen von ei- ner bis dahin unbekannten Offenheit werde diese Maskerade gelüftet.
Liebe und Leid einer Epoche voll Heuchelei, die immer noch nicht be- endet ist, erfährt in Schnitzler einen erbarmungslosen und dramatischen Verkünder. Seine meisterhafte Spra- che ist von mitleidender Melancho- lie durchwebt. Daß auch er ein „miß- ratenes" Kind seiner Zeit war, be- zeugt ein Brief aus Rom. Dort wollte er sich an den Kunstschätzen neue Kraft holen. „Es steckt ein tiefer Le- bensschaden in mir, ich spüre es immer mehr. Ich habe nicht die Ga- be, rein den Moment zu genießen.
Es ist, als wenn immer unruhige Wolken schwebten, manchmal nur blasse, weiße, dünne, aber ich kenne den klaren Himmel sozusagen nicht.
Auch hier (Rom) bin ich schon zu Momenten der Ergriffenheit gelangt, ,aber zu keinem des Glückes'."
In Schnitzlers Leben muß dem Arzt eine scheinbare Belanglosigkeit auf- fallen. Der Dichterarzt von Seelenzu- ständen lebte jahrzehntelang mit Sigmund Freud, dem Seelenfor- scherarzt, in der gleichen Stadt. Bei- de wußten voneinander und schätz- ten sich. Warum gingen sie sich aus dem Wege? Erst zu seinem 60. Ge- burtstage schrieb der sechs Jahre ältere Freud folgenden Brief:
„Ich meine, ich habe Sie gemieden aus einer Art von Doppelgänger- scheu. Nicht etwa, daß ich sonst so leicht geneigt wäre, mich mit einem anderen zu identifizieren, oder daß ich über die Differenz der Begabung hinwegsehen wollte, die mich von Ihnen trennt, sondern ich habe im- mer wieder, wenn ich mich in Ihre schönen Schöpfungen vertiefte, hin- ter deren poetischem Schein die nämlichen Voraussetzungen, Inter- essen und Ergebnisse zu finden ge- glaubt, die mir als die eigenen be- kannt waren. Ihr Determinismus wie Ihre Skepsis — was die Leute Pessi- mismus heißen — Ihre Ergriffenheit von den Wahrheiten des Unbewuß- ten, von der Triebnatur der Men- schen. Ihre Zersetzung der kulturell-
Arthur Schnitzler im Juli 1921 in Alt- Aussee
konventionellen Sicherheiten, das Haften Ihrer Gedanken an der Polari- tät von Lieben und Sterben, das al- les berührt mich mit einer unheimli- chen Vertrautheit. Ja, ich glaube im Grunde Ihres Wesens sind Sie ein psychologischer Tiefenforscher, so ehrlich und unparteiisch und uner- schrocken wie mir je einer war;
wenn Sie das nicht wären, hätten Ihre künstlerischen Fähigkeiten, Ihre Sprachkunst und Gestaltungskraft freies Spiel gehabt und Sie zu einem Dichter weit mehr nach dem Wunsch der Menge gemacht . . ."
Vor 50 Jahren starb Schnitzler. Er findet heute wieder ein gesteigertes Interesse. Besonders im französi- schen Sprachraum werden jetzt sei- ne Bühnenstücke aufgeführt.
Es zeigt an, daß die menschlichen Probleme trotz des hektischen Wan- dels der Sitten sich unwesentlich ge- ändert haben.
Als Theodor Herz!, der Mitbegründer des Zionismus, 1892 brieflich an- fragte, was sich kulturell in Wien tue, antwortete Schnitzler lapidar: „Man glaubt weder an sich noch an die anderen." Das könnte heute noch gelten.
Der Rat des eingangs erwähnten Berliner Internisten an die werden- den Ärzte hat nichts von seinem Ge- wicht verloren.
Dr. med. Bernhard Fleiß Die angeführten Zitate sind dem ersten Band einer auf zwei Bände geplanten, von Therese Nickel und Heinrich Schnitzler (Sohn von Arthur Schnitzler) herausgegebenen Edition der Briefe Ar- thur Schnitzlers entnommen, die in die- sem Herbst beim Verlag S. Fischer er- scheinen wird.
Das Foto wurde dem großartigen Doku- mentationsband „Arthur Schnitzler: Sein Leben — Sein Werk — Seine Zeit" entnom- men, der von Heinrich Schnitzler, Chri- stian Brandstätter und Reinhard Urbach herausgegeben worden ist. Das Buch mit 324 Abbildungen, im S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1981, 98 DM, erschie- nen, enthält autobiographische Auf- zeichnungen, zumeist unveröffentlichte Briefe und Tagebuchnotizen und zahlrei- che bisher nicht bekannte Bilder.
„Man glaubt weder an sich noch an die anderen”
Zum 50. Todestag von Arthur Schnitzler am 21. Oktober 1981
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 43 vom 22. Oktober 1981 2057