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Achtsamkeit in der Erwachsenenbildung

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Academic year: 2022

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Achtsamkeit in der Erwachsenenbildung

Abgrenzung zu therapeutischen, esoterischen und Freizeitangeboten

Masterarbeit

zur Erlangung des akademischen Grades eines Magisters der Philosophie

an der Karl-Franzens-Universität Graz

vorgelegt von Stefan Lang

am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft Begutachterin: Univ.-Prof.in Dr.in Johanna Hopfner

Graz, April 2019

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Ehrenwörtliche Erklärung

Ich versichere, dass ich die eingereichte Masterarbeit selbständig ver- fasst, andere als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel nicht be- nutzt und mich auch sonst keiner unerlaubten Hilfsmittel bedient habe. Ich versichere ferner, dass ich diese Masterarbeit bisher weder im In- noch im Ausland in irgendeiner Form als wissenschaftliche Ar- beit vorgelegt habe.

______________ _______________

Ort und Datum Unterschrift

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Zusammenfassung

Seit einigen Jahren werden Maßnahmen diskutiert und getroffen, um das Profil der Er- wachsenenbildung zu schärfen und von esoterischen, therapeutischen und Freizeitange- boten abzugrenzen. Die vorliegende Arbeit trägt zu diesem Diskurs bei. Es wird unter- sucht, ob Achtsamkeit, eine ursprünglich religiöse Praxis, die heute vor allem für ihre therapeutischen Effekte bekannt ist, den Zielen und Methoden der Erwachsenenbildung entspricht. Der Wandel des Verständnisses von Achtsamkeit im Laufe der Geschichte und ihre Rezeption in der Bildungswissenschaft werden hermeneutisch nachvollzogen.

Mittels einer Textinterpretation eines Achtsamkeitskurses für Erwachsene werden Ent- sprechungen und Konflikte zum vorherrschenden Bildungsverständnis untersucht. Es zeigt sich, dass Achtsamkeit und Erwachsenenbildung im wesentlichen dieselben Ziele verfolgen, sich jedoch in ihren Methoden unterscheiden.

Abstract

For several years, measures have been discussed and taken to sharpen the profile of adult education and to demarcate from esoteric, therapeutic and leisure offers. The pre- sent work contributes to this discourse. It is investigated whether mindfulness, an origi- nally religious practice that is known today especially for its therapeutic effects, corre- sponds to the aims and methods of adult education. The change of the understanding of mindfulness in the course of history and its reception in education science are herme- neutically retraced. By means of a textual interpretation of an adult mindfulness course, correspondences and conflicts regarding the prevailing understanding of education are examined. It turns out that mindfulness and adult education basically pursue the same goals, but differ in their methods.

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Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung...1

1.1 Problemaufriss...1

1.2 Forschungsmethodik...3

1.3 Forschungsstand...7

1.4 Aufbau der Forschungsarbeit...9

2 Was wird unter Achtsamkeit verstanden?...11

2.1 Achtsamkeit als Haltung und Praxis...11

2.2 Historische Entwicklung...17

2.3 Zeitgenössische Transformationsprozesse...27

2.4 Achtsamkeit in der pädagogischen Diskussion...33

Exkurs: Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit...39

3 Was wird unter Erwachsenenbildung verstanden?...44

3.1 Erwachsenenbildung nach Ö-Cert...44

4 Analyse eines Achtsamkeitskurses für Erwachsene...50

4.1 Operationalisierung der These...50

4.2 Vorbereitende Interpretation...53

4.3 Textimmanente Interpretation...58

4.4 Koordinierende Interpretation...69

4.5 Ergebnisse der Analyse des Kurses...76

5 Diskussion: Achtsamkeit in der Erwachsenenbildung...78

Literaturverzeichnis...84

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1 Einleitung

1.1 Problemaufriss

Die Anzahl der Forschungsarbeiten, die die Effekte der Achtsamkeitspraxis untersu- chen, wächst seit dem Ende der 1990er Jahre rapide an. Im Schlepptau der Medizin hielt Achtsamkeit als Methode der Geistesschulung mit buddhistischen Wurzeln auch in der psychologischen, therapeutischen und neurowissenschaftlichen Forschung und Pra- xis Einzug (Williams & Kabat-Zinn, 2013, S. 9). Die mediale Aufmerksamkeit der For- schungsergebnisse bewirkte, dass Achtsamkeit Thema pädagogischer Diskussionen wur- de (Dauber, 2012, S. 197).

Der Praxis von Achtsamkeit wird von BildungswissenschaftlerInnen eine bedeutende Rolle im Bildungsprozess zugesprochen (Altner, 2006; Elsholz, 2013). Das Bildungs- haus Schloss Retzhof definiert Bildung gar als „[…] achtsame[n] Umgang mit der Um- welt und mit sich selbst.“ (Retzhof, o.J.) Achtsamkeit wird nicht mehr nur in buddhisti- schen Zentren praktiziert, sondern ebenso in kirchlichen wie nicht kirchlichen Bil- dungs- und Seminarhäusern, in Volkshochschulen, im Wirtschaftsförderungsinstitut, in pädagogischen Hochschulen und anderen Einrichtungen der Erwachsenenbildung. Die- se Arbeit geht der Frage nach, ob Achtsamkeitskurse als Bildungsmaßnahme verstanden werden können.

In der Erwachsenenbildung gibt es seit einigen Jahren Bestrebungen, das eigenen Profil zu schärfen. Es wird versucht zu klären, was Erwachsenenbildung ist bzw. was sie sein soll. Dies geschieht zum einen durch Bestimmung ihrer Ziele und Methoden und zum anderen durch eine Abgrenzung von esoterischen, therapeutischen, Gesundheits- und Freizeitangeboten. Mittels der Verleihung von Qualitätssiegel oder durch die Aufstel- lung interner Richtlinien in Organisationen wird versucht, Kursangebote, die in Er- wachsenenbildungsinstitutionen stattfinden und dem Bildungsverständnis widerspre- chen, einzudämmen bzw. gänzlich auszuschließen (Gruber, Gnahs & Ribolits, 2015).

Dieses Unterfangen ist jedoch schwierig. Abgesehen davon, dass solche Angebote oft- mals stark nachgefragt werden und Bildungsinstitutionen auf die Einnahmen nicht ver-

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zichten wollen oder können, ist nicht immer klar, welche Kurse noch in den Bereich der Erwachsenenbildung fallen und welche nicht. Die vorliegende Arbeit trägt zum Diskurs der Selbstverortung und Abgrenzung der Erwachsenenbildung bei. Es wird untersucht, ob und in welcher Form Achtsamkeitskurse als Bildungsangebot gelten können bzw.

welche Anpassung(en) des Bildungsverständnisses dafür nötig wäre(n).

Seit etwas fünfzehn Jahren wird Achtsamkeit von einzelnen Bildungswissenschaftlern thematisiert (Altner, 2004, 2006). Die Erforschung der Achtsamkeit in pädagogischen Kontexten, insbesondere in der Erwachsenenbildung, steht jedoch noch am Anfang. In der Erziehungswissenschaft, die dem Projekt der Aufklärung verpflichtet ist, begegnet man Achtsamkeit in zweierlei Hinsicht mit Skepsis. Zum einen besteht der Verdacht, es handle sich um eine religiöse Praxis und das nicht nur, weil Achtsamkeit aus dem Bud- dhismus stammt. Im Zuge der Aufklärung wurden introspektive Methoden allgemein dem religiösen Bereich zugeordnet (Elsholz & Keuffer, 2012, S. 158). Zum anderen wurden Achtsamkeitspraktiken vorwiegend hinsichtlich ihrer therapeutischen Effekte untersucht (Weare, 2012, S. 194; Williams & Kabat-Zinn, 2013, S. 9 ff.).

Bei aller Skepsis weckt Achtsamkeit jedoch auch große Hoffnungen. Sie soll dazu bei- tragen, die geistige Autonomie und den zivilisatorischen Standard zu heben, und das Projekt der Aufklärung weiterzuführen (Metzinger, 2013) Es wird sogar die These auf- gestellt, Achtsamkeitspraxis fördere die Entwicklung einer neuen Stufe menschlichen Bewusstseins (Elsholz, 2013).

In dieser Arbeit wird der Frage nachgegangen, ob Achtsamkeitspraxis als Bildungsmaß- nahme für Erwachsene gelten kann. Hierzu wird ein Achtsamkeitskurs dahingehend un- tersucht, ob er mit dem von Ö-Cert skizzierten Bildungsverständnis vereinbar ist (Gru- ber, Gnahs & Ribolits, 2015). Entsprechungen und Konflikte werden herausgearbeitet.

Es soll jedoch nicht nur der Achtsamkeitskurs kritisch betrachtet werden, sondern auch das Bildungsverständnis von Ö-Cert in Frage gestellt werden.

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1.2 Forschungsmethodik

In dieser Arbeit wird zunächst untersucht, wie sich das Verständnis von Achtsamkeit un- ter Berücksichtigung gesellschaftlicher Prozesse in seiner historischen Entwicklung ver- ändert hat und in welcher Form es von einzelnen BildungswissenschaftlerInnen rezi- piert wurde. Dieses Forschungsvorhaben bedarf eines hermeneutischen Vorgehens.

1.2.1 Hermeneutik als methodische Basis

Die Hermeneutik als regelgeleitete Methode der Interpretation folgt einer Theorie der Interpretation. Diese fußt auf der Reflexion der Bedingungen der Möglichkeit des Ver- stehens (Haan & Rückler, 2002, S. 16–21). Gegenstand der Erkenntnis ist stets etwas Menschliches, dessen Bedeutung erfasst werden soll. Vom Äußeren, dem Ausdruck oder sinnlich Gegebenem, kann durch Verstehen auf das Innere, die Bedeutung oder den Sinn des hermeneutischen Gegenstands, geschlossen werden. Es werden weder Motive einzelner Handelnder noch flüchtige Zufälligkeiten untersucht, die unmittelbar erfass- bar sind. Stattdessen wird versucht dauernd fixierte Lebensäußerungen in einem allge- meinmenschlichen (Lebens-)Zusammenhang zu verstehen (Danner, 1998, S. 34–47).

Es gibt keine allgemein anerkannte Theorie der Hermeneutik. Das Verständnis dessen, was Verstehen bedingt, ermöglicht, benötigt und begrenzt, unterscheidet sich je nach AutorIn und somit auch die spezifische Vorgehensweise (ebd., S. 33 f.). Hermeneuti- sche Regeln, sofern sie formuliert werden, hängen von diesen Überlegungen ab. Erstere können letztere nicht ersetzen, sie sind nur Ausdruck dieser. Anders gesagt: Regeln be- schreiben, was bei einem Verstehensprozess passiert (ebd., S. 61 f.).

Zum Beispiel lautet eine Standardregel, dass man immer den geschichtlichen Kontext mit bedenken muss, wenn man ein Dokument interpretiert. […] Zu den Regeln gehört auch, dass man sich seiner Vormeinungen über den Text, das Bild oder die Handlungen anderer Menschen bewusst sein sollte, wenn man eine In- terpretation vollzieht. Denn wenn man die eigenen Vormeinungen nicht kontrol- liert, kann eine Interpretation leicht bloß subjektiv bleiben. (Haan & Rückler, 2002, S. 18)

Es muss zwischen vermeidbarer und wesensmäßiger Subjektivität unterschieden werden (Danner, 1998, S. 63). Letztere ist kein Manko der hermeneutischen Methode. Sie be-

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einträchtigt die Objektivität der Interpretation nicht. Im Gegenteil, sie ist eine Vorbedin- gung des Verstehens. Sie ermöglicht den Zugriff auf den objektiven Geist, d.h. der Summe von Gemeinsamkeiten von Sinngebungen. Dieser ist jedoch historisch und so- ziokulturell bedingt, weshalb kein Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhoben werden kann, sofern darunter ein von jeder/jedem jederzeit Überprüfbares verstanden wird.

Doch ist hermeneutisches Verstehen auch nicht nur Ergebnis willkürlicher Subjektivität.

Ziel ist die Angemessenheit einer Erkenntnis an ihren Gegenstand, welche als herme- neutische Objektivität bezeichnet wird (ebd., S. 47–55).

Indem Teil und Ganzes, Vorverständnis und zu Verstehendes, sowie Theorie und Praxis in Verbindung gesetzt werden, erhellen sie sich gegenseitig. Man spricht vom herme- neutischen Zirkel. Dieser ist weder ein circulus vitiosus noch eine Addition verschiede- ner Elemente. Durch die Bewegung des hermeneutischen Zirkels, soll es zu einem Ver- stehen kommen. Die hermeneutische Differenz zwischen dem Verstandenen und dem zu Verstehenden kann dadurch zwar nicht vollständig aber zumindest annäherungsweise überwunden werden (ebd., S. 55–61).

Nachdem die Hermeneutik in ihren Grundzügen erläutert wurde, sei noch auf eine von Danner zusammengestellte Liste an Fragen verwiesen, welche beim Interpretationspro- zess beachtet wurde. Es handelt sich dabei nicht um einen Regelkatalog, sondern viel- mehr um Hilfestellungen (ebd., S. 62 f.).

In dieser Arbeit wird außerdem ein konkretes Kursangebot untersucht, ein Vorhaben, das zum Zwecke der Nachvollziehbarkeit eine systematischere Form der Untersuchung verlangt.

1.2.2 Textinterpretation

Die Textinterpretation kann als Spezialfall der Hermeneutik betrachtet werden, da sie denselben methodologischen Prinzipien folgt. Eine Konkretisierung erhalten diese nun durch die Beschreibung der Methode der Textinterpretation. Die Handlungsanweisun- gen untergliedert Danner in drei aufeinanderfolgende Verfahrensschritte (ebd., S. 93–

96). Er merkt an: „Diese Regeln geben keinen strengen Plan mit einer festen Reihenfol-

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ge an; sie gehen ineinander über. Ihr Tenor ist nicht streng technologisch; es geht auch um das Gewinnen einer bestimmten wissenschaftlichen Haltung.“ (ebd., S. 96)

Vorbereitende Interpretation

Im ersten Schritt erfolgt eine Text- und Quellenkritik. Das heißt: Der Text wird auf sei- ne Authentizität geprüft. Da in dieser Arbeit lediglich zeitgenössische Texte einer struk- turierten Textinterpretation unterzogen werden, ist lediglich darauf zu achten, die aktu- ellste Ausgabe zur Analyse heranzuziehen. Die eigene Vormeinung wird reflektiert, ins- besondere vergegenwärtigt man sich das persönliche Vorverständnis, das Vorwissen und die leitende Fragestellung. Durch eine erste Beschäftigung mit dem Text wird der allge- meine Sinn des Textes bzw. die Kernaussage des Textes erschlossen, so dann wird zum nächsten Schritt übergegangen (ebd., S. 94).

Textimmanente Interpretation

Der Text wird hinsichtlich seiner Semantik und Syntax untersucht. Die Regeln der Lo- gik ergänzen die grammatischen Untersuchungen. Indem das Ganze mit dem Teil und das Vorverständnis mit den neuen Informationen in Beziehung gesetzt werden, wird der hermeneutische Zirkel bewegt. Der Scopus des Textes bewährt oder verändert sich. Wi- dersprüche werden als Nicht-Verstehen des Interpretierenden gewertet. Der Wider- spruch wird nicht als Fakt dargestellt, sondern als Ergebnis des eigenen Interpretations- prozesses (ebd., S. 94 f.).

Koordinierende Interpretation

Ein tieferes Verständnis des Textes kann durch die Einholung und Berücksichtigung weiterer Informationen gewonnen werden. Beispielsweise kann es nützlich sein, den Text im Kontext des Gesamtwerkes der/des AutorIn zu beleuchten bzw. vor dem Hinter- grund seiner Biographie (ebd., S. 95 f.).

Generell empfiehlt Danner bei der Interpretation den Text zu gliedern (ebd., S. 95). Zu diesem Zwecke werden Teile der inhaltsanalytischen Strukturierungstechnik nach May- ring angewandt.

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1.2.3 Inhaltsanalytische Strukturierungstechnik

Es handelt sich dabei um eine qualitative Forschungsmethode, weil nicht oder nur in Teilbereichen quantifiziert wird. Da a priori theoretische Analysekriterien definiert wer- den, bezeichnet man sie nicht als interpretative Sozialforschung im strengeren Sinn (Lamnek, 2005, S. 506).

Am Anfang jeder Analyse steht die Bestimmung des Ausgangsmaterials. Die Inhaltsana- lyse stellt kein Standardinstrument dar, sondern muss dem Forschungsvorhaben entspre- chend angepasst werden (Mayring, 2010, S. 49 f.). Mayring beschreibt drei grundlegen- de Analysetechniken, wobei für die Zwecke dieser Arbeit auf die inhaltliche Strukturie- rung zurückgegriffen wird. Sie ermöglicht „[…] bestimmte Aspekte aus dem Material herauszufiltern, unter vorher festgelegten Ordnungskriterien einen Querschnitt durch das Material zu legen oder das Material aufgrund bestimmter Kriterien einzuschätzen.“

(ebd., S. 65) Da die Analyse darauf abzielt, das Kursangebot auf Basis des Bildungsver- ständnisses von Ö-Cert auf seine Tauglichkeit als erwachsenbildnerische Maßnahme zu untersuchen, bietet sich dieser Zugang an. Im Fokus steht nicht der kognitive, emotio- nale und Handlungshintergrund des Produzenten oder die Rezeption durch die Teilneh- merInnen. Vielmehr ist die Analyse auf die konkrete Darstellung der im Kurs vermittel- ten Achtsamkeitsübungen ausgerichtet (ebd., S. 56 f.).

Von zentraler Bedeutung ist das Kategoriensystem anhand dessen das Material unter- sucht wird (ebd., S. 49). Die Haupt- und Unterkategorien werden theoriegeleitet gebil- det, d.h. sie werden auf Basis des bisherigen Forschungsstandes zum Gegenstand de- duktiv abgeleitet (ebd., S. 66). Ein Probedurchlauf zeigt, ob die Kategorien dem Mate- rial und Forschungsvorhaben entsprechen und können bei Bedarf angepasst werden. In weiterer Folge wird das extrahierte Material pro Kategorie zusammengefasst. In einem letzten Schritt wird das Material hinsichtlich der Fragestellung(en) unter Einbezug wei- terer Quellen interpretiert (ebd., S. 98 f.).

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1.3 Forschungsstand

Seit Mitte der 2000er Jahre erscheinen einzelne Beiträge zum Thema Achtsamkeit in der Pädagogik. Die Erforschung steht noch am Anfang.

Achtsamkeit war in der deutschsprachigen pädagogischen Diskussion der letzten Jahrzehnte kein Begriff, ihre Definitionen sind eng an andere Forschungsberei- che wie Psychologie oder Medizin angelehnt. Achtsamkeit als Bildungskonzept, als pädagogische Methode oder als Haltung von Lehrkräften ist in der Erzie- hungswissenschaft bislang kaum untersucht worden. (Elsholz & Keuffer, 2012, S. 149)

In den Erziehungswissenschaften ist die Achtsamkeitsthematik mit den Namen Nils Alt- ner, Heinrich Dauber, Jürgen Elsholz und Vera Kaltwasser verknüpft. Beiträge der drei letztgenannten AutorInnen fanden am Internationalen Kongress der Universität Ham- burg mit dem Titel Achtsamkeit – eine buddhistische Praxis für unsere Zeit Gehör und stehen auch in Buchform zur Verfügung (Zimmermann, Spitz & Fried, 2012).

Als erster hat Nils Altner Achtsamkeit auf das erziehungswissenschaftliche Tapet ge- bracht. Seine Dissertation Achtsamkeit und Gesundheit – Auf dem Weg zu einer achtsa- men Pädagogik veröffentlichte er im Jahr 2006. In dieser untersucht er die Achtsamkeit vor allem hinsichtlich ihrer kurativen, präventiven und gesundheitsfördernden Aspekte in den Kontexten von Schule und LehrerInnenbildung (2006).

Vera Kaltwasser beschäftigt sich mit der Anwendung der Achtsamkeit im schulischen Bereich. In ihren Büchern wendet sie sich vornehmlich an LehrerInnen (2008, 2010, 2016). Zudem hat sie das Programm Achtsamkeit in der Schule (AISCHU®) entwickelt (2012).

Heinrich Dauber hielt zwei Vorträge mit Bezug zur Achtsamkeit in der Pädagogik, die verschriftlicht wurden: Zur Dialektik von Selbstverwirklichung und Selbsthingabe (2006) und Fallstricke und Chancen von Achtsamkeitspraxis in pädagogischen Kontex- ten (2012).

Besonders sei auf das Dissertationsprojekt Bildung und Bewusstsein von Jürgen Elsholz verwiesen (2013). Aus (erziehungs-)wissenschaftlicher Perspektive untersucht er die Entwicklung des Menschen nach dem Erwachsenwerden. Achtsamkeitspraktiken und

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andere integrale Anthropotechniken fördern ihm zufolge die Bewusstseinsentwicklung, welche er mit Bildung gleichsetzt. Er begibt sich damit in ein Feld, das bisher der esote- rischen Ratgeberliteratur überlassen wurde (ebd.).

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1.4 Aufbau der Forschungsarbeit

Der Begriff Achtsamkeit wird in Kapitel zwei mittels Literaturanalyse geklärt. Um ein erstes Vorverständnis von Achtsamkeit zu geben, wird sie anhand der Ausführungen Altners als Haltung und Praxis beschrieben (2.1). In der Folge wird der Bedeutungs- wandel, den Achtsamkeit im Laufe der Geschichte erfuhr, dargestellt. Die historische Entwicklung von Achtsamkeit – von ihren Ursprüngen bis hin zur Gegenwart – wird nachvollzogen (2.2) und zeitgenössische Transformationsprozesse des Verständnisses von Achtsamkeit werden in systematischer Form genauer betrachtet (2.3). Am Ende des Kapitels wird verständlich, wie der Bedeutungswandel von Achtsamkeit die Rezeption in der Bildungswissenschaft ermöglichte und welche Probleme damit einhergehen. Das spezifische Achtsamkeitsverständnis in der pädagogischen Diskussion wird deutlich und eine dahinterliegende Vision ersichtlich (2.4).

Außerhalb der pädagogischen Diskussion findet sich ein für das Thema dieser Arbeit wichtiger Essay des Bewusstseinsphilosophen Thomas Metzinger (2013). Auf diesen wird in einem Exkurs eingegangen.

In Kapitel drei wird das derzeit vorherrschende Verständnis von Erwachsenenbildung, wie es von Ö-Cert entworfen wurde, dargestellt. Die Ziele und Methoden der Erwachse- nenbildung werden beschrieben und Bildungsmaßnahmen von esoterischen, therapeuti- schen und Freizeitangeboten abgegrenzt.

In Kapitel vier folgt eine Textinterpretation. Es wird der Frage nachgegangen, ob ein ausgewählter Achtsamkeitskurs für Erwachsene dem Bildungsverständnis von Ö-Cert entspricht. Auf Basis der Ausführungen in Kapitel drei werden Subfragestellungen ab- geleitet und Haupt- und Unterkategorien a priori festgelegt (4.1). Es folgt die vorberei- tende Interpretation. Die Auswahl des zu untersuchenden Praxisbeispiels wird begrün- det, das Ausgangsmaterial bestimmt, die Biographie des Begründers umrissen und der Ablauf des Kurses skizziert (4.2). Im Anschluss folgt die textimmanente Interpretation des Ausgangsmaterials hinsichtlich der aufgestellten Kategorien (4.3). Unter Einbezug weiterer Quellen werden die Fragestellungen näher erforscht (4.4). Zum Abschluss des Kapitels werden die Forschungsfragen beantwortet und Gemeinsamkeiten und Unter- schiede des Kurses zu Bildungsangeboten im Sinne Ö-Certs beschrieben (4.5).

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Abschließend werden in Kapitel fünf die Fragen diskutiert, ob Achtsamkeitskurse für Erwachsene zum Projekt der Aufklärung beitragen können, dem sich die Erwachsenen- bildung verpflichtet fühlt, in welcher Weise Achtsamkeit in der Erwachsenenbildung vermittelt werden müsste und welche Anpassung(en) des Bildungsverständnisses von Ö-Cert dafür nötig wäre(n).

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2 Was wird unter Achtsamkeit verstanden?

Die ausführlichste Beschreibung der Achtsamkeit als Haltung sowie als Praxis findet sich im deutschsprachigen pädagogischen Diskurs bei Altner (2006). Sein Konzept der Achtsamkeit sowie seine Beschreibung der Achtsamkeitspraxis wird hier wiedergege- ben, um der/dem LeserIn einen ersten Überblick über den Gegenstand dieser Arbeit zu bieten. Im Anschluss wird der Bedeutungswandel von Achtsamkeit im historischen und gesellschaftlichen Kontext betrachtet. Am Ende des Kapitels wird die Rezeption von Achtsamkeit im pädagogischen Diskurs besprochen.

2.1 Achtsamkeit als Haltung und Praxis

2.1.1 Achtsamkeit als Haltung

Altner beschreibt Achtsamkeit als Haltung des menschlichen Bewusstseins zum Sein, welche durch vier Qualitäten charakterisiert sei: Aufmerksamkeit, Präsenz, Achtung und Selbstreferenz (Altner, 2006, S. 24 ff.).

2.1.1.1 Aufmerksamkeit

Die Realität werde immer nur in Ausschnitten wahrgenommen. Der Fokus der Wahr- nehmung und des Denkens spiele daher eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung der Realität. Die Aufmerksamkeit könne zwar willentlich gerichtet werden, meist werde sie jedoch mehr oder weniger willkürlich von inneren und äußeren Reizen angezogen und gelenkt (ebd., S. 24). „Die Haltung der Achtsamkeit erkennt diese schöpferische Quali- tät der Aufmerksamkeit an und kultiviert sie bewusst durch die Schulung von Konzen- tration und Wachheit.“ (ebd., S. 24)

2.1.1.2 Präsenz

Die Aufmerksamkeit richte sich dabei immer wieder auf das gegenwärtige Geschehen aus. Anstatt sich an Vergangenes zu erinnern oder sich Zukünftiges oder Abstraktes vor-

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zustellen, öffne sich das Bewusstsein für das konkret-sinnlich wahrgenommene Jetzt.

Die Realität werde dadurch weniger als erinnert oder vorgestellt erfahren und mehr als etwas hier und jetzt Er- und Gelebtes. Dies ermögliche, Handlungen bewusst zu wählen (ebd., S. 24 f.).

2.1.1.3 Achtung

Dem Erlebten begegne man mit einer akzeptierenden, liebevoll zugewandten, achtungs- vollen Geisteshaltung. Allem werde eine Daseinsberechtigung zugesprochen. Man ver- zichte darauf, das Wahrgenommene zu kategorisieren oder zu bewerten, vielmehr werde es in seinem So-Sein geachtet. Die Achtung äußere sich in einem Staunen, Wundern, Ergriffensein oder Lieben und sei unvereinbar mit zerstörerischem oder verletzendem Handeln (ebd., S. 25).

2.1.1.4 Selbstreferenz

Unter Selbstreferenz versteht Altner eine reflexive Dimension der Achtsamkeit. Wäh- rend Selbstreflexion sich lediglich auf das Nachdenken über die eigene Person beziehe, schließe Selbstreferenz diese Dimension mit ein und erweitere sie um „andere Sinne und Ebenen des mit sich In-Beziehungs-Seins, die dem Menschen zur Verfügung ste- hen, allen voran das Selbstgewahrsein.“ (ebd., S. 25) Letzteres beschreibt Altern wie folgt: „Im Gegensatz zum Grübeln richtet die achtsam wahrnehmende Person ihre Auf- merksamkeit auf die eigene aktuelle Präsenz in ihrer leib-seelischen Einheit.“ (ebd., S.

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2.1.2 Achtsamkeit als Praxis

Um die Haltung der Achtsamkeit zu kultivieren, hätten sich verschiedene Formen der Praxis entwickelt. Generell unterscheide man zwischen formaler und informaler Praxis.

2.1.2.1 Informale Achtsamkeit

Informale Achtsamkeitspraktiken zielten darauf ab, die Haltung der Achtsamkeit bei all- täglichen Verrichtungen aufrechtzuerhalten. Es sei nicht nötig, bestimmte Körperhaltun-

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gen oder Bewegungsabläufe nach formalen Richtlinien auszuführen. Unabhängig vom konkreten Tun, sei jede Handlung, sofern sie in einer Haltung der Achtsamkeit ausge- führt werde, eine informale Übung in Achtsamkeit (ebd., S. 27–29).

In einigen Achtsamkeitskursen werde empfohlen, sich eine alltägliche Handlung auszu- suchen, und diese eine Woche lang jedes Mal achtsam auszuführen. Beispielsweise kön- ne auf die Empfindungen beim Zähneputzen geachtet werden oder das Klingeln des Te- lefons als Erinnerung genutzt werden, um das gegenwärtige Geschehen wahrzunehmen.

Die informale Praxis könne dann sukzessive auf weitere Handlungen bzw. Situationen ausgeweitet werden. Auf diese Weise werde Achtsamkeit abseits formaler Praktiken ge- übt (ebd., S. 27–29).

Ziel ist es dabei, den Alltag achtsam, d.h. bewusst und achtungsvoll zu leben und der Versuchung zu widerstehen, den Tag in blinden Gewohnheiten, vorge- fassten Urteilen und automatischem Tun zu verbringen. Alltag wird zum schöp- ferischen Prozess, ja zur spirituellen Praxis. In Anlehnung daran soll hier der pädagogische Alltag als Herausforderung zu bewusstem Gestalten verstanden werden. (ebd., S. 28 f.)

2.1.2.2 Formale Achtsamkeit

Unter formalen Achtsamkeitspraktiken versteht Altner neben klassischen buddhistischen Meditationsformen, wie sie in der Vipassana- und Zen-Tradition gelehrt werden, auch Übungen aus dem hinduistischen Yoga und dem taoistischen Qigong. Diese Praktiken stehen im Fokus seiner Arbeit. Darüber hinaus benennt und beschreibt er „achtsame Künste“ (ebd., S. 29) als formale Praxis.

2.1.2.2.1 Achtsame Künste

Altner vergleicht die Haltung der Achtsamkeit mit jener einer/eines KünstlerIn. Durch künstlerisches Schaffen könne Achtsamkeit geübt werden. Ziel sei es, eine achtsame Haltung gegenüber dem zu bearbeitenden Medium einzunehmen.

„Literatur, Tanz, Kampf und Bewegungskünste, Theaterspielen, Musizieren, Singen, Malen, Kalligraphie, Gestalten, Kochen, Backen, Gärtnern, das Komponieren von Düf- ten – die Vielfalt an Material und Gestaltungsmöglichkeiten sind grenzenlos. Und im

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kultivierten Kunstgenuss können die Potentiale des achtsam Seins geweckt werden.“

(ebd., S. 29)

2.1.2.2.2 Hatha-Yoga

Unter Yoga verstehe man „meditative Wege der Selbsterfahrung und Selbsterkenntnis, um die Natur von Geist und Materie zu begreifen und gemäß dieser Natur leidfrei zu le- ben.“ (ebd., S. 35) Der Yoga stamme aus der hinduistischen Tradition und kann als An- jochung, Zügelung, Zucht oder bildendes Bemühen übersetzt werden. Patanjali, Autor der Yoga-Sutte, definiere ihn folgendermaßen: „Der Yoga ist das Zur-Ruhebringen (oder die Bewältigung) der Bewegungen der inneren Welt.“ (Hauer, 1958, zitiert nach Altner, 2006, S. 35)

Hatha-Yoga sei eine Schule des Yogas, welche im 15. Jahrhundert entwickelt wurde.

Körper- und Atemübungen seien zwar schon zuvor praktiziert worden, jedoch eher als an die Meditation heranführende Übungen. Im Hatha-Yoga hätten sie an Bedeutung ge- wonnen. (Altner, 2006, S. 35)

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts praktiziere man Hatha-Yoga auch in Europa und Nordamerika. In jüngster Vergangenheit sei er Teil des Angebots der Fitness- und Well- nessindustrie geworden. In diesem Kontext praktiziere man Hatha-Yoga zur Erhaltung der Leistungsfähigkeit. Die Suche nach Selbsterkenntnis trete in den Hintergrund (ebd.).

2.1.2.2.3 Qigong

Qigong könne als Arbeit an der Lebenskraft übersetzt werden. Seine Wurzeln lägen im indischen Yoga und der taoistischen Alchemie. Qigong werde in unterschiedlichen Kon- texten praktiziert. „Die Motive für dieses Engagement lagen und liegen in der Erhal- tung, Verbesserung und Wiedererlangung von Gesundheit, der Intensivierung und Ver- längerung des Lebens, der Erlangung von Meisterschaft in den Kampfkünsten und der spirituellen Vervollkommnung.“ (ebd., S. 40) Unabhängig von den jeweiligen Zielen der unterschiedlichen Schulen, werde der Körper, der Atem und der Geist trainiert (ebd.).

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Das Übungssystem des Qigong umfasse neben der stillen Meditation eine Reihe an Be- wegungsabfolgen, welche langsam, konzentriert und wohl-gespannt ausgeführt werden sollten. Es werde sowohl die äußere Ruhe bei innerer Bewegung, als auch die innere Ruhe bei äußerer Bewegung geschult (ebd., S. 37–41).

In letzter Zeit werde Qigong in der schulischen wie auch außerschulischen Betreuung von Kindern und Jugendlichen sowie in der Erwachsenenbildung angeboten. Die ver- folgten Ziele der Selbstharmonisierung und -kräftigung und die Betonung der Eigenver- antwortlichkeit und Eigenmotivation seien dafür ausschlaggebend. In pädagogischen Kontexten praktiziere man Übungen aus dem medizinischen Qigong, da die Gefahr ei- ner Indoktrinierung so nicht bestehe (ebd.).

2.1.2.2.4 Stille Meditation

Diese Form der Praxis werde laut Altner vor allem in den beiden buddhistischen Schu- len Vipassana und Zen, aber auch in den taoistischen kontemplativen Praktiken wie dem Qigong geübt (ebd., S. 30–34).

Im Rückgriff auf Golemans Kommentar zum Visuddimagga (1988), einer buddhisti- schen Schrift aus dem 5. Jahrhundert, unterscheidet Altner zwei Methoden der stillen Meditation, wobei oft Mischformen praktiziert werden: die konzentrative sowie die Achtsamkeits- bzw. Einsichtsmeditation (Altner, 2006, S. 41–43).

Zur Illustration der beiden Methoden, folgen zwei Anleitungen:

Konzentrative Meditation:

„Wählen sie ein Objekt und verweilen sie mit Ihrer Aufmerksamkeit bei diesem Objekt.

Immer wenn Sie bemerken, dass Ihre Aufmerksamkeit vom Objekt weggewandert ist, bringen Sie sie sanft zum Objekt zurück.“ (Weiss et al., 2011, S. 98)

Achtsamkeits- oder Einsichtsmeditation:

„Sitzen Sie still, schenken Sie die offene Aufmerksamkeit allem, was ist, von Augen- blick zu Augenblick, mit Gleichmut, das heißt mit keinem Anhaften oder keiner Ableh- nung gegenüber dem, was auftaucht, und keinem Versuch es zu verändern.“ (Weiss, Harrer & Dietz, 2011, S. 98)

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Nachdem nun am Exempel eines deutschen Erziehungswissenschaftlers gezeigt wurde, was in der pädagogischen Diskussion unter der Haltung und Praxis von Achtsamkeit verstanden werden kann, richtet sich nun der Blick auf die historische und kulturelle Entwicklung dieses Achtsamkeitsverständnisses.

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2.2 Historische Entwicklung

Vor etwa 2500 Jahren soll Achtsamkeit als Sati erstmals von Buddha (Siddhartha Gautama) beschrieben worden sein. Seither haben sich die Verwendung des Begriffs und die Gestaltung der Praxis immer wieder verändert. In diesem Abschnitt werden in chronologischer Reihenfolge die wichtigsten Phasen dieser Entwicklungsgeschichte dargestellt.

2.2.1 Sati im Theravada-Buddhismus

Etymologisch betrachtet müsste Sati mit Gedächtnis oder Erinnerung übersetzt werden.

Im buddhistischen Kontext erhielt der Begriff jedoch neue Konnotationen, weshalb die- se Übersetzung missverständlich wäre (Bikkhu Bodhi, 2013, S. 43 f.). Er kann nur im Kontext der Lehre Buddhas verstanden werden (Gruber, 2011, S. 40). Im Visuddhimag- ga einem exegetischen Text der buddhistischen Theravada-Tradition, welche die älteste buddhistische Hauptrichtung ist, wird der Begriff folgendermaßen beschrieben:

Sati ist dasjenige, durch das [die Qualitäten, aus denen der Geist besteht,] sich erinnern oder es ist das Erinnern selbst oder es erinnert sich einfach. Es ist das Merkmal von Sati, dass es nicht umhertreibt, seine Fähigkeit ist das Nicht-Ver- gessen, seine Manifestation ist, dass es ein Objekt des Gewahrseins hält oder in direktem Kontakt damit ist. Die Grundlage von Sati ist stabile Wahrnehmung oder die Entwicklung von Achtsamkeit für den Körper usw. Weil Sati so fest auf dem Objekt des Gewahrseins ruht, kann sie als eine Säule gesehen werden. Und weil sie die Tore des Auges und der anderen Sinne bewacht, kann Sati als der Torwächter verstanden werden. (Vism XIV: 141, zitiert nach Gethin, 2013, S.

462)

Sati ist ein Glied des edlen achtfachen Pfades, einem zentralen Element der buddhisti- schen Lehre, der zur Überwindung des Leidens durch Einsicht der Ursachen führen soll. Die acht Glieder können in drei Gruppen unterteilt werden: Wissen, Sittlichkeit und Sammlung. Sati ist Teil der letzteren (Hart, 2012)

(22)

In der Achtsamkeitspraxis ist Sati eng mit anderen Faktoren verknüpft (Spitz, 2012, S.

266). Gruber versteht die ursprüngliche buddhistische Achtsamkeit als eine Gruppe von vier Qualitäten, welche ethische und epistemische Funktionen erfüllen (2011).

„Weise Aufmerksamkeit“ ist das lenkende Hintergrundbewusstsein, die für das tiefe Verstehen des übergeordneten Zwecks der Achtsamkeit sorgt. „Wis- sensklarheit“ oder „Wachsamkeit“ überschaut die körperlichen, rednerischen und geistigen Aktivitäten, um diese positiv zu formen. „Begeisterung“ bringt den notwendigen Willen hervor, um das Heilsame zu entwickeln. „Achtsamkeit“

bleibt der Phänomene konsequent gewahr. Damit „sieht“ sie zunehmend deren Wesen. (ebd., S. 41)

Zentral für das Verständnis von Sati im Frühbuddhismus sind zwei Lehrreden im Pali- Kanon: die Satipatthana-Sutte und die Anapanasati-Sutte. Erstere behandelt die vier Vergegenwärtigungen der Achtsamkeit und letztere das bewusste Ein- und Ausatmen.

Auf Basis dieser Lehrreden wurden Meditationstechniken abgeleitet, die heute unter dem Sammelbegriff Vipassana bekannt sind. Wörtlich übersetzt bedeutet Vipassana

„klare Einsicht“. Als synonyme Bezeichnungen gelten heute Achtsamkeits- oder Ein- sichtsmeditation. Mittels dieser wird Achtsamkeit entwickelt. Letztlich soll die Praxis zu befreienden Einsichten führen, sie hat jedoch auch weitere positive Begleiterschei- nungen (ebd., S. 39).

Achtsamkeitsmeditation wurde lange Zeit vorwiegend von ordinierten Mönchen und Nonnen praktiziert. Sie war in den meisten buddhistischen Schulen vorhanden, welche jedoch noch eine Vielzahl anderer Methoden kannten. Die Anstrengungen buddhisti- scher Mönche und Nonnen war auf die Erreichung des Nirvanas gerichtet und ging mit weltlicher Entsagung einher (Wilson, 2014, S. 19–21).

„Mindfulness is presented as a strenous, lifelong task, one that occurs within a frame- work of reunciation and detachment: the practitioner seeks to acquire eventually the bliss enjoyed in peaceful meditation, rather than to enjoy the activities of daily life via mindful attitudes.“ (ebd., S. 21)

Der Buddhismus hielt im ersten und zweiten Jahrhundert Einzug in China. Buddhisti- sche und taoistische Konzepte befruchteten sich gegenseitig und trugen so zu einem

(23)

neuen Verständnis von Achtsamkeit und neuen Formen der Praxis bei (Neumaier, 2012, S. 325).

2.2.2 Shou Xin im Chan-Buddhismus

Im Kontext des Chan-Buddhismus steht Achtsamkeit für Shou xin („Schützen des Geis- tes“). Der Begriff geht aus dem taoistischen Vorläufer Shou yi („Schützen des Einen“) hervor (ebd., S. 327 f.).

Zwei Unterschiede zur frühbuddhistischen Achtsamkeitspraxis sind wesentlich: Erstens sollen sich Praktizierende nicht mehr in die Einsamkeit zurückziehen, sondern die Pra- xis im Alltag ausführen bzw. aufrechterhalten. Und zweitens sollen die Sinnestore nicht vor der Außenwelt geschützt werden, sondern eine geistige Haltung eingenommen wer- den, die frei vom Subjekt-Objekt-Dualismus ist (ebd., S. 326 f.).

Die Praktiken, welche in den Satipatthana- und Anapanasati-Sutten beschrieben sind, haben im Chan-Buddhismus nur einführenden Charakter. Die durch gleichmütige Beob- achtung kultivierte Stille, d.h. eines ruhigen, nicht-diskursiven Geistes, wurde auch durch Achtsamkeitsmeditation im Sinne der früh-buddhistischen Schriften geübt, war jedoch nur eine von vielen Methoden (ebd., S. 327–331).

Shou xin bedeutet das Schützen und Bewahren des Geistes und meint ein Verweilen in der Gegenwärtigkeit des leuchtenden Geistes ohne Worte und Konzepte. Achtsam zu sein bedeutet im Chan-Buddhismus ein fortwährendes, nicht-unterscheidendes Gewahr- sein des absoluten Geistes bzw. sich seiner Buddha-Natur bewusst zu sein. Sie wird auch reiner oder Nicht-Geist genannt und unterscheidet sich dabei vom Geist der Sin- neswahrnehmungen und vom diskursiven Geist (ebd.).

Sowohl im Theravada-Buddhismus wie auch im Chan-Buddhismus verlor die Praxis im Laufe der Zeit an Bedeutung. Es bildeten sich Schulen mit eigener Philosophie und Li- turgie. Ritualismus und Aberglaube verdrängten die Praktiken zur Erlangung von Stille und Einsicht. Dies änderte sich ab dem 18. Jahrhundert (Neumair, 2012, S. 332 ff.; Wil- son, 2014, S. 22 f.).

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2.2.3 Buddhistische Reformbewegungen ab dem 18. Jahrhundert

Ihren Anfang nahmen die Reformbewegungen in Myanmar. Im Laufe des 19. Jahrhun- dert breiteten sie sich in Sri Lanka, Thailand und schließlich in Ostasien aus. Im 20.

Jahrhundert erreichten sie Zentralasien (Wilson, 2014, S. 22).

Der Einfluss des Christentums und einer modernen, wissenschaftlichen Denkweise in die Länder Asiens durch die Kolonialmächte hätten laut Neumaier den Anstoß für Re- formen gegeben.1 Teils in christlichen Missionsschulen ausgebildet, machten sich Ordi- nierte als auch Laien daran, das eigene kulturelle Erbe neu zu entdecken (Neumaier, 2012, S. 332 f.). Den alten Traditionslinien wurde die Deutungshoheit entzogen. Statt- dessen griff man in Südostasien auf die alten, kanonischen Schriften, insbesondere auf die Satipatthana-Sutte zurück und interpretierte sie neu (Wilson, 2014, S. 22). In China wurde eine wissenschaftliche Art des Denkens Teil der Ausbildung von Mönchen (Neu- maier, 2012, S. 332).

Die Meditationspraxis, insbesondere die Achtsamkeitsmeditation im Sinne der frühbud- dhistischen Sutten, gewann an Bedeutung. Nicht nur innerhalb der Klostermauern wur- de verstärkt praktiziert. Jenseits dieser meditierten nun auch Laien (Wilson, 2014, S.

22).

Zwar waren die ReformerInnen in ihren Kulturen in der klaren Minderheit, doch ihre Ideen und Bestrebungen weiteten sich auf ganz Asien aus. Eine rationale Interpretation der Schriften bei gleichzeitiger Abkehr von Ritualen und Aberglaube sowie eine ver- stärkte Praxisorientierung machten den Buddhismus im 19. Jahrhundert auch für Men- schen aus dem Westen interessant (ebd., S. 23).

2.2.4 Abendländisches Interesse am Buddhismus im 19. Jahrhundert

Die Beschäftigung mit dem Buddhismus im Westen war zunächst fast ausschließlich in- tellektueller Art (Brück, 1998, S. 12). Im 19. Jahrhundert war man vor allem am histori- schen Buddha, den Glaubenssätzen und der Ethik der BuddhistInnen interessiert. 1844 wurden die ersten buddhistische Schriften übersetzt. 1881 wurde die Pali Text Society

1 Es sei auf den Verdacht des Autors hingewiesen, es handle sich bei dieser Interpretation Neumaiers um eine mögliche Fehleinschätzung resultierend aus einer kolonialistischen Perspektive.

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gegründet. Diese hatte großen Einfluss auf die weitere Rezeption buddhistischer Schrif- ten. Ihr Gründer, der Brite T. W. Rhys Davids, übersetzte Sati als Erster mit mindful- ness. Zuvor wurde Sati ins Englische auch als watchfulness, well awake oder memory übersetzt (Wilson, 2014, S. 15-18).

Im deutschsprachigen Raum befasste man sich hauptsächlich mit dem Theravada-Bud- dhismus, dessen Texte meist rationalistisch interpretiert und der christlichen Theologie konterkarierend gegenübergestellt wurden (Brück, 1998, S. 12 ff.).

Es gab jedoch auch gegenläufige Bewegungen, die großen Einfluss auf die Rezeption buddhistischer bzw. hinduistischer Ideen im Westen hatten. Die deutschstämmige Uk- rainerin Helena Blavatsky (1831–1891) gründete 1875 die Theosophische Gesellschaft in New York. 1880 emigrierte sie nach Sri Lanka und verkündete einen esoterischen

„Buddhismus“. Blavatsky postulierte etwas vermeintlich allen Religionen Gemeinsa- mes. Ein Urwissen der Menschheit, welches Buddha jenen, die dafür bereit gewesen seien, vermeintlich gelehrt habe. Eine Behauptung, die sowohl der Religionswissen- schaftler Marcel Messing als auch der Indologe Hans Gruber zumindest in Bezug auf die frühbuddhistischen Schriften zurückweisen. Beide gehen zudem d’accord, dass eini- ge Begriffe von den Theosophen in völlig neuartiger Weise interpretiert wurden (Mes- sing, 1997, S. 128–142; Gruber, 2003). Gruber schließt: „Blavatskys unverifizierbare, spekulative oder theosophisch alles synthetisierende Deutung des Buddhismus war von den nüchternen, klar unterscheidenden Reden des Erwachten [Buddhas; Anm. S.L.] im Pali-Kanon weit entfernt.“ (Gruber, 2003)

Das Interesse am Buddhismus war geweckt, die buddhistische Praxis und im Speziellen die Achtsamkeitsmeditation waren jedoch kaum bekannt (Wilson, 2014, S. 15). In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lernten deutschsprachige AuswanderInnen in Asien die buddhistische Achtsamkeitsmeditation kennen. Nach den beiden Weltkriegen lehrten sie diese im deutschsprachigen Raum.

2.2.5 Deutschsprachige Pioniere der Achtsamkeitsmeditation

1904 wurde der deutschstämmige Mönch Nyanatolika (Anton Gueth 1878–1957) in Myanmar ordiniert. Er wurde zu einer bedeutenden Anlaufstation jener EuropäerInnen,

(26)

die in den folgenden Jahrzehnten nach Asien reisten, um die buddhistische Lehre und Praxis zu studieren (Brück, 1998, S. 327).

„Der Zusammenbruch der bürgerlichen Werte im Ersten Weltkrieg führte westliche In- tellektuelle ins geistige Exil nach Asien, wohin sie ihre Hoffnungen projizierten, so zum Beispiel Hermann Hesse […] und Carl Gustav Jung.“ (ebd., S. 312). Mit der Machtü- bernahme der NSDAP emigrierten manche tatsächlich. Andere lernten die buddhistische Praxis als christliche Missionare kennen. Ihr Aufenthalt in Asien leitete die Anfänge der Vipassana- und Zen-Meditation im deutschsprachigen Raum ein.

2.2.5.1 Die Anfänge der Vipassana-Meditation im deutschsprachigen Raum

Einer von ihnen war Nyanaponika (Siegmund Feniger, 1901–1994). Er konvertierte vom Judentum zum Buddhismus. 1936 wanderte er aus und begann sein Noviziat bei Nyanatolika (ebd. S. 328). Nyanaponikas deutsche Übersetzung der Satipathanna-Sutte samt Kommentar erschien 1950 erstmals (1950). Er lebte und lehrte in einer Waldein- siedelei in den Bergen Sri Lankas. Ab 1968 leitete er auch Meditationskurse im deutschsprachigen Raum (Brück, 1998, S. 327 f.).

Laut Wilson habe Nyanaponika zu jener Zeit den größten Einfluss auf das Verständnis von Achtsamkeit im Westen gehabt. Er habe Achtsamkeit als die zentrale Methode der buddhistischen Meditationsformen verstanden. Eine Position die sich im weiteren Ver- lauf festigen sollte. Zudem sei er der Erste gewesen, der die Vorteile der Achtsamkeit- spraxis für das alltägliche Leben und die Verbesserung der Welt betont habe. Die Praxis sei aber weiterhin im Kontext von Entsagung präsentiert worden und auf die Erreichung des Nirvanas gerichtet gewesen (Wilson, 2014, S. 25 f.).

Laut Bikkhu Bodhi war Nyanaponika „der erste buddhistische Autor aus dem Westen, der die Praxis der Achtsamkeit ausführlich untersuchte.“ (Bikkhu Bodhi, 2013, S. 54) Seine Schriften verfasste er zunächst in deutscher Sprache, später auch in Englisch.

Während er im Deutschen Sati als Achtsamkeit übersetzte (Nyanaponika, 1950), benut- ze er in seinen späteren Werken in englischer Sprache bare attention. Laut Bikku Bodhi werde Sati aufgrund seiner Übersetzung ins Englische heute oft von westlichen Vi- passana-Lehrenden als reine Aufmerksamkeit missverstanden. Die deutsche Überset-

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zung sei zutreffender, da sie nicht nur das nicht-konzeptuelle Gewahrsein, welches dem diskursiven Denken vorausgeht, bezeichne, sondern auch einen schonenden, vorsichti- gen, behutsamen, sorgsamen, rücksichtsvollen und fürsorglichen Umgang mit den Geis- tesphänomenen impliziere. Da Nyanaponika mit den buddhistischen Schriften sehr ver- traut gewesen sei, sei seine englische Übersetzung nicht einem mangelnden Verständnis geschuldet, sondern habe wohl pädagogische Gründe. Es sei pragmatisch AnfängerIn- nen Achtsamkeit zunächst als reines Erkennen dessen, was vor sich geht ohne darauf zu reagieren, zu beschreiben. Sati könne jedoch nur im Kontext des edlen achtfachen Pfa- des, dem buddhistischen Schulungsweg, verstanden werden. Sati werde darin immer als Samma-sati, d.h. rechte oder treffliche Achtsamkeit, verstanden und sei mit den anderen Gliedern des Pfades untrennbar verknüpft (Bikkhu Bodhi, 2013, S. 51–60).

„Theravada hat in Anknüpfung an das Erbe Nyanaponikas in Deutschland eine Heimat gefunden.“ (Brück, 1998, S. 330) Das Gleiche kann man hinsichtlich des Zen-Buddhis- mus über Karlfried Graf Dürckheim (1896–1988) und Hugo Makibi Enomiya-Lassalle (1898–1990) sagen.

2.2.5.2 Die Anfänge der Zen-Meditation im deutschsprachigen Raum

Enomiya-Lassalle war zeitlebens Jesuitenpater. Als christlicher Missionar kam er in der Zwischenkriegszeit in Japan mit dem Zen in Berührung (Lassalle-Haus, o.J.). Er war Mitbegründer von Zen-Zentren im deutschsprachigen Raum und führte als bekennender Christ viele seiner Glaubensbrüder und -schwestern in die Praxis der Zen-Meditation ein. Zen als Übungsweg für ChristInnen stieß dabei auf Kritik von christlicher als auch von buddhistischer Seite (Brück, 1998, S. 329).

Karlfried Graf Dürckheim studierte Philosophie und Psychologie und habilitierte sich.

Trotz seiner Sympathien und seiner diplomatischen Dienste für das nationalsozialisti- sche Regime musste er, weil er jüdische Vorfahren hatte, 1938 nach Japan emigrieren.

Dort lernte er den Zen-Buddhismus kennen, und vertiefte sich zudem in die Werke Meister Eckharts. Zurück in Deutschland wurde er als Therapeut tätig. Er entwickelte die innatistische Therapie, welche christliche Mystik, Zen und eine körperorientierte Tiefenpsychologie verknüpft. Im Schwarzwald eröffnete er eine existential-psychologi-

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sche Bildungs- und Begegnungsstätte, die bis heute fortbesteht (Brück 1998, S. 329 f.;

Existential-psychologische Bildungs- und Begegnungsstätte Todtmoos-Rütte, o.J).

Dürckheim war, wie Lassalle, angesichts des Elends der beiden Weltkriege zu der Überzeugung gelangt, daß2 die europäische Kultur zu ihren spirituellen Wur- zeln zurückkehren müsse und daß dafür die Entwicklung eines meditativen Be- wußtseins, wie man es im Buddhismus lernen könne, notwendig sei. (Brück, 1998, S. 330)

Ab den 1970er Jahren beschleunigten sich die Anpassungsprozesse der buddhistischen Traditionen an die westliche Kultur.

2.2.6 Quellen der modernen Achtsamkeitsbewegung

In den 1970er Jahren speisten sich die Unterweisungen in Achtsamkeit aus drei Quellen (Wilson, 2014, S. 31).

Eine Quelle bildeten Ordinierte und Laien, welche aus dem Westen stammten, in Asien Achtsamkeit kennen lernten und sie in der Folge im Westen lehrten. Die wichtigsten Akteure dieser Gruppe an LehrerInnen im deutschsprachigen Raum wurden eben be- schrieben. In Nordamerika waren es unter anderem Joseph Goldstein und Jack Korn- field, welche im Rahmen der Friedenscorps in Asien einen reformierten Theravada- Buddhismus kennen lernten. Ersterer war unter anderem Schüler von S. N. Goenka, dessen Art zu lehren im Laufe der Arbeit noch näher untersucht wird (ebd. S. 31–33).

Eine weitere Quelle war der vietnamesische Mönch Thich Nhat Hanh. Er hatte großen Einfluss auf beiden Seiten des Atlantiks. Hanhs Lehre verknüpft eine frühbuddhistische Achtsamkeitspraxis, welche er jedoch in non-dualer Weise interpretiert, mit einem pas- sionierten sozialen Engagement (ebd., S. 33–34).

Die dritte Quelle war Jon Kabat-Zinn. Er lernte die Meditation bereits in den USA wäh- rend seines Studiums kennen und war Schüler von Kornfield, Goldstein und Hanh. Ka- bat-Zinn war der Erste, der die Achtsamkeitsmeditation in einem säkularen, nicht-bud-

2 Zitate werden in dieser Arbeit im Original wiedergegeben. Sie werden weder der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst noch geschlechtsneutral umformuliert.

(29)

dhistischen Kontext lehrte. Er führte Achtsamkeit in die Medizin ein (ebd., S. 35 ff.).

Auf sein Verständnis der Achtsamkeit und ihrer Praxis wird nun eingegangen.

2.2.7 MBSR und säkulare achtsamkeitsbasierte Anwendungen

MBSR (Mindfulness Based Stress Reduction) – vormals SR&RP (Stress Reduction and Relaxation Program) – wurde im Rahmen der 1979 von Kabat-Zinn errichteten Stress Reduction Clinic an der Medizinischen Fakultät der Universität in Massachusetts entwi- ckelt. Achtsamkeitstraining sollte traditionelle Methoden der Biomedizin und Psycho- therapie ergänzen. Da in diesen Feldern eine Skepsis gegenüber Methoden aus dem reli- giösen bzw. spirituellen Bereich vorherrscht(e), passte Kabat-Zinn seine Ausdruckswei- se an (Kabat-Zinn, 2013, S. 475–482).

Ich wollte Möglichkeiten finden, darüber so zu sprechen, dass ich so weit wie möglich das Risiko vermied, dass MBSR als buddhistisch, als „New Age“, als

„östliche Mystik“ oder einfach als „Unsinn“ angesehen wurde. Meiner Ansicht nach war das ein ständiges und ernsthaftes Risiko, das unsere Versuche untermi- nieren konnte, die MBSR in einer Weise zu vermitteln, die rational und allge- mein verständlich war, auf konkreten Nachweisen basierte und sie letztlich als einen legitimen Bestandteil der Gesundheitsversorgung präsentierte. (ebd., S.

478)

Ihm sei es nie um MBSR per se gegangen, sondern darum die Lehre Buddhas im Wes- ten populär zu machen. Achtsamkeit als Herz der buddhistischen Meditation habe nichts oder nur wenig mit dem Buddhismus zu tun, sondern mit universellen Qualitäten des Menschseins. Er nennt: Wachheit, Mitgefühl und Weisheit (Kabat-Zinn, 2013).

In den 1980er Jahren erschienen die ersten Studien in Form von Hochschulschriften zum MBSR-Programm (Wilson, 2014, S. 37). Das säkulare Achtsamkeitsverständnis wurde in den folgenden Jahrzehnten bis zum heutigen Tag für immer weitere Lebensbe- reiche adaptiert. Die Entwicklung spezifischer Programme wurde von Kabat-Zinn be- grüßt und unterstützt, da sie zur Linderung von Leiden und einem tieferen Verstehen der Natur des Geistes und Herzens beitrügen. Heute gibt es achtsamkeitsbasierte An- wendungen unter anderem für Süchtige, Trauernde, Depressive, Schüchterne oder Men- schen mit Essstörungen. Aber auch für Personen, welche ihre Produktivität in der Arbeit

(30)

steigern, ihre Partnerschaft intensivieren oder ihre sportliche Leistung erhöhen wollen gibt es spezifische Programme. Zudem wird Achtsamkeit in der Aus- und Fortbildung von LehrerInnen und der Elternbildung angewandt (ebd., S. 39–41).

Obwohl vollständig säkularisierte Achtsamkeitspraktiken von den meisten BuddhistIn- nen wohlwollend betrachtet werden, wird auch Kritik geübt. Erstens – so wird argu- mentiert – fehle es an einer (expliziten) ethischen Grundlage. Zweitens sei die Praxis nicht intensiv genug. Drittens ziele sie vor allem auf einen Entspannungseffekt ab und nicht auf die Erlangung spiritueller Erkenntnisse. Und viertens sei Achtsamkeit mehr als eine nicht-urteilende Aufmerksamkeit, sie habe ursprünglich auch eine kognitive Kom- ponente (Kabat-Zinn, 2013)

Im Folgenden sollen nun jene Prozesse beschrieben werden, welche das Verständnis von Achtsamkeit im Laufe der letzten Jahrzehnte verändert haben.

(31)

2.3 Zeitgenössische Transformationsprozesse

Wilsons Untersuchung Mindful America ist eine Pionierarbeit in der hermeneutischen Untersuchung des Phänomens vermehrter Achtsamkeitspraxis im Westen. Er nennt es mindfulness movement (2014).

It refers to the widespread and growing collection of people who practice (and, especially, those who actively promote) techniques of awareness derived originally from the Buddhist cultures of Asia, which are typically grouped under the label „mindfulness“ in 21st century America. (Wilson, 2014, S. 9)

Obwohl die Untersuchung sich vor allem auf den nordamerikanischen Raum fokussiert, ist sie für diese Arbeit – nicht nur mangels europäischer Forschungen – von Bedeutung.

So schreibt Wilson, er erhoffe sich, dass seine Arbeit auch für die Untersuchung des Phänomens in anderen Kulturen von Wert sei (ebd., S. 8). Obwohl Nordamerika „the largest creator and the most eager consumer of new trends in the mindfulness move- ment“ (ebd., S. 8) ist, sei die Achtsamkeitsbewegung ein transnationales Phänomen.

Zentrale These in Wilsons Arbeit ist, dass die buddhistische Praxis von allen Kulturen, in die sie Einzug hielt, in einer Form adaptiert wurde, die den kulturspezifischen Nöten und Interessen Rechnung trägt. Diese Fähigkeit zur Adaption mache den Buddhismus so erfolgreich. Obwohl es sich um eine 2500 Jahre alte Religion aus einem anderen Kul- turkreis handelt, zeige die Geschichte, dass die Lehre Buddhas, mit den meisten Kultu- ren kompatibel war (ebd., S. 3 ff.).

In Mindful America wird im Sinne der Cultural Studies mindfulness hinsichtlich dessen untersucht, was über diese gesagt wird, anstatt das, was sie vermeintlich sei. Hiermit wird dem Faktum Rechnung getragen, dass je nach Kultur, Weltanschauung etc. Acht- samkeit Verschiedenes bedeutet. Außerdem kann Achtsamkeit unter diesen methodolo- gischen Grundlagen auch nicht als etwas Gegebenes betrachtet oder fixiert werden.

Eine solche künstliche Definition des Begriffs ist nicht möglich, da seine Bedeutung in gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen stets neu bestimmt wird. Die Bedeutung von Achtsamkeit ist daher immer im Wandel und nie homogen (ebd., S. 9).

(32)

Wilson beschreibt sechs Prozesse der Wechselwirkung zwischen Achtsamkeit (engl.

mindfulness) und der nordamerikanischen Kultur.

2.3.1 Mediating Mindfulness

Lange Zeit hätten nur buddhistische Mönche und Nonnen über Achtsamkeit gespro- chen. Sie hätten Achtsamkeit im Kontext der buddhistischen Lehre mit dem Ziel das Nirvana zu erreichen gelehrt. Dies änderte sich, als Achtsamkeit für neue Zwecke ange- wandt worden sei. Heute würden eine Vielzahl unterschiedlicher Professionen über Achtsamkeit sprechen (ebd., S. 13–42).

Veröffentlichungen zur Achtsamkeit können laut Wilson in verschiedene Kategorien eingeordnet werden, u.a.:

(1) [T]exts on Buddhist mindfulness by Buddhist clergy, (2) texts on Buddhist mindfulness by laypeople,

(3) mindfulness articles in general-audience Buddhist magazines, (4) self-help mindfulness texts by Buddhist authors,

(5) self-help mindfulness texts by non-Buddhists, and

(6) mainstream media reports on the mindfulness movement. (ebd., S. 42)

Die LeserInnen- und HörerInnenschaft werde dadurch immer größer und diverser. Zwar werde Achtsamkeit weiterhin in einem traditionellen monastischen Kontext gelehrt und praktiziert, buddhistischen Mönche und Nonnen falle heute jedoch nicht mehr die Deu- tungshoheit zu (ebd.).

2.3.2 Mystifying Mindfulness

Wilson zufolge durchlief der Prozess der Mystifizierung im Sinne von Verschleierung bzw. Verfälschung von Achtsamkeit einen dreistufigen Prozess. Zunächst sei der Bud- dhismus durch die Fokussierung auf Achtsamkeit für die AmerikanerInnen genießbar gemacht worden. Anschließend habe man den buddhistischen Kontext gänzlich besei- tigt, um Achtsamkeit noch weiteren Teilen der Bevölkerung verkaufen zu können.

Schließlich sei Achtsamkeit dermaßen verfälscht gewesen, dass mittels dieser finanziel-

(33)

le Dienstleistungen, Urlaube, Kleidung, Computer-Software und vieles andere an Frau und Mann gebracht werden konnte (ebd., S. 43–74).

Hinsichtlich der Lehrenden stellt Wilson folgenden Prozess fest: Zunächst sei Achtsam- keit durch Ordensleute gelehrt worden. Ihnen folgten Laien, die in traditionellen bud- dhistischen Methoden geübt waren. Später hätten Laien, welche in einem nicht-traditio- nellen Setting Achtsamkeit gelernt haben, zu lehren begonnen – beispielsweise ÄrztIn- nen, TherapeutInnen, BeraterInnen und so weiter. Am Ende dieses Prozesses fänden sich AutorInnen von Selbsthilfebüchern, FinanzberaterInnen und eine Vielzahl anderer nicht-buddhistischer BefürworterInnen der Achtsamkeitspraxis in der VermittlerInnen- rolle (ebd.).

„The mindfulness movement ecosystem is extremely diverse, with promoters of mona- sticism, religious Buddhism, personal spirituality, multiple religious belonging, secular meditation, mindful therapy, and more.“ (ebd., S. 73 f.)

Dieser Prozess der Entbettung aus dem buddhistischen Kontext und dem damit einher- gehenden Bedeutungswandel der Achtsamkeit beunruhige viele innerhalb der Achtsam- keitsbewegung nur wenig. „For them, reducing suffering (a very Buddhist motivation) appears to be the primary concern, and if that is best accomplished by transferring mindfulness out of Buddhism, a great many find that to be an acceptable price.“ (ebd., S. 74)

2.3.3 Medicalizing Mindfulness

Die Forschungsergebnisse zu den positiven, gesundheitlichen Wirkungen habe auch das Verständnis und die Intention zur Achtsamkeitspraxis von BuddhistInnen verändert. Die Praxis werde nun auch von ihrer Seite vermehrt in einem medizinischen, psychologi- schen und wissenschaftlichen Rahmen verstanden, während religiös-transzendente As- pekte an Bedeutung verlieren würden. Dies erlaube BuddhistInnen Achtsamkeit als in- novativ, mitfühlend-anteilnehmend, wissenschaftlich und nützlich zu verstehen, anstatt als reaktionär, fremd, irrational oder götzenverehrend (ebd., S. 75–103).

So entstehe der Eindruck, der Buddhismus habe vorwiegend Achtsamkeit zu bieten und diese sei vor allem eine therapeutische Methode zur Behandlung von Stress und anderen

(34)

ähnlichen Gesundheitsthemen. „Buddhism appears simply to be mindfulness, and mind- fulness is a scientifically verified, non-supernaturalistic method for healing.“ (ebd., S.

102) Traditionelle Aspekte des Buddhismus und seiner Praxis gelten im Umkehrschluss als fremd oder gar als Hindernis für ein richtiges Verständnis und Praxis der Lehre (ebd., S. 75–103).

Durch die Rekonzeptualisierung von Achtsamkeit als biomedizinische oder psychologi- sche Technik und die Anpassung an säkulare, moderne Ideale liege die Expertise nun vermehrt bei ÄrztInnen, TherapeutInnen, LehrerInnen, BeraterInnen und ähnlichen Pro- fessionen. Mit dem Verlust der Deutungshoheit des Buddhismus bezüglich Achtsam- keitsmeditation, würden ordinierte buddhistische LehrerInnen mehr und mehr ihre Ver- mittlerInnenrolle verlieren (ebd.).

2.3.4 Mainstreaming Mindfulness

Die Achtsamkeitsbewegung fuße auf Reformen des Buddhismus, welche zum Ziel hat- ten zur ursprünglichen authentischen Lehre des Buddhas zurückzukehren. Viele der frü- hen westlichen buddhistischen LehrerInnen hätten in den verschiedenen Formen des Buddhismus in Asien eine Vermischung der originalen Lehre mit lokalen kulturellen Traditionen – bspw. mit dem Konfuzianismus oder animistischen Kulten gesehen (ebd., S. 104–132).

Der heutige Buddhismus im Westen sei aber nur vermeintlich ursprünglich. Er resultie- re – ebenso wie die asiatischen Varianten – aus Anpassungsprozessen an die kulturellen Gegebenheiten. Es handle sich nicht um eine Rückkehr zu den Wurzeln, sondern viel- mehr um eine Anpassung an die weltlich-kulturellen Interessen von AmerikanerInnen, insbesondere jenen der weißen Mittelschicht, welche den Diskurs, bezüglich dessen was ein amerikanischer Buddhismus sein soll, führen und prägen würden (ebd.).

„This segment of the population has specific worldly concerns that arise out of its eth- nic culture: they seek healthy relationships in the family, balanced living that doesn't harm the environment, management of stress from work, and individual fulfillment.“

(ebd., S. 131)

(35)

Die Achtsamkeitsbewegung und der amerikanische Buddhismus seien demnach keine ursprüngliche, universelle, kulturell-unabhängige Variante des Buddhismus, sondern nur eine Wiederholung des alten Musters, wonach der Buddhismus immer wieder krea- tiv neuinterpretiert würde, um die lokalen Bedürfnissen und Ängsten der Menschen zu adressieren (ebd., S. 104–132).

2.3.5 Marketing Mindfulness

Die erfolgreiche Adaption der Achtsamkeit habe dazu geführt, dass Achtsamkeit in ei- nem solchen Ausmaß in den Mainstream Einzug hielt, dass sie nun für alles Gute, Spiri- tuelle, Gesunde, Liberale etc. stehe. Mindfulness sei ein Codewort für aufgeklärten (engl. enlightened) Konsum. Die Vermarktung von Esswaren verspreche die Vorteile der Achtsamkeitpraxis ohne jede Meditation. Mit dem Label mindfulness bewerbe man auch Schönheitsartikel oder Software (ebd., S. 133–158).

„The label 'mindful', when applied to seemingly unrelated consumer products can help to pry open a consumer's wallet by associating a product with a general sense of spiritu- ality, health, intelligence, or civic mindedness.“ (ebd., S. 157)

2.3.6 Moralizing Mindfulness

Obwohl Achtsamkeit sich aus einem religiösen Kontext loslöste, wirke sie noch immer in einer religiösen Art und Weise. Wilson schreibt: „We might call this a secular mind- ful religion, one devoid of the supernatural and the afterlife yet operating as a deep well of values, life orientation, and utopian vision.“ (ebd., S. 185) Diese könne sich mit spe- zifischen religiösen Traditionen verbinden, und zwar nicht nur mit Formen des Bud- dhismus, sondern auch beispielsweise mit dem Christentum, oder auch als eigenständi- ges System operieren (ebd., S. 159–186).

Die Achtsamkeitsbewegung drücke sich laut Wilson in zumindest zwei Idealtypen aus:

Auf der einen Seite werde Achtsamkeit vorwiegend für Menschen vermarktet, welche sich persönliche Vorteile durch die Praxis erwarten. Auf der anderen Seite sehe man Achtsamkeit im Kontext einer größeren sozialen Vision, welche die Gesellschaft im Po- sitiven verändern könne, wobei Selbstheilung der erste Schritt zur Weltverbesserung sei.

(36)

Erstere betrachteten letztere als gute LehrerInnen, da das Individuum von ihnen profi- tieren könne. Letztere, aus der sozial engagierten Achtsamkeitsfraktion, sähen auch in der Anwendung der Meditation zu Zwecken der Selbsthilfe einen Vorteil für die Gesell- schaft. Wenn Menschen weniger gestresst seien, könnten sie auch ihre Verbindungen zu anderen besser wahrnehmen und vielleicht liberale politische Ansichten und progressive Wertvorstellungen einnehmen, sowie ein ökologischeres Bewusstsein entwickeln (ebd., S. 159–186).

Nachdem die historische Entwicklung und die zeitgenössischen Transformationsprozes- sen nun dargestellt wurden, kann die Rezeption der Achtsamkeit in der pädagogischen Diskussion in ihrem historischen und gesellschaftlichen Kontext verstanden werden.

(37)

2.4 Achtsamkeit in der pädagogischen Diskussion

2.4.1 Rezeption des zeitgenössischen Achtsamkeitsverständnisses

Erst durch die erfolgversprechenden Forschungsergebnisse der Hirnforschung, sowie der Medizin, Psychologie und Psychotherapie geriet die Achtsamkeit in den Fokus von ErziehungswissenschaftlerInnen und PädagogInnen (Dauber, 2012, S. 197). Dass es diesen Umweg brauchte, kann zum Teil damit erklärt werden, dass die Introspektion im Zuge der Aufklärung als religiöse Übung betrachtet und in den privaten Bereich ver- bannt wurde (Elsholz & Keuffer, 2012, S. 158). Zwar ist die Vipassana-Meditation – und in geringerem Maße die Zen-Meditation (Gruber, 2003) – nach den buddhistischen Reformbewegungen in Asien und ihrem Einzug in den Westen in weitgehend säkularer Form verfügbar (Metzinger, 2013), doch die Skepsis in der Erziehungswissenschaft ge- genüber Religionen, Weltanschauungen und anderen normativen Systemen ist groß (Elsholz & Keuffer, 2012, S. 158). Erst die vollständige Säkularisierung der Praxis führte dazu, dass auch PädagogInnen Achtsamkeit zum Thema machten. „Ihre Definiti- onen sind eng an andere Forschungsbereiche wie Psychologie oder Medizin angelehnt.“

(ebd., S. 149)

In der pädagogischen Diskussion wird Achtsamkeit vor allem in Hinblick auf ihren Ein- satz in der Schule besprochen. Es werden Kurse angeboten, in welchen (angehende) LehrerInnen Achtsamkeit kennen lernen. Die Haltung der Achtsamkeit sollen sie ihren SchülerInnen später vorleben, aber auch Übungen in den Schulalltag einbauen; bspw.

vor einer Prüfung, am Beginn einer Einheit oder in anderen Phasen des Unterrichts.

Kaltwasser empfiehlt LehrerInnen, Aufmerksamkeitssteuerung, Stressbewältigung und emotionale Selbstregulation als Ziele der Übungen zu nennen. Sie meint, sie sei sich zwar bewusst, dass diese funktionalen Ziele die Haltung der Achtsamkeit verengen, doch sie habe von Kabat-Zinn gelernt, klein anzufangen (Kaltwasser, 2012, S. 172). Die Übungen werden den Fähigkeiten der LehrerInnen und SchülerInnen entsprechend an- gepasst. Beispielsweise werden eine Rosine mit allen Sinnen erforscht, die Auswirkun- gen einer veränderten körperlichen Haltung auf die Stimmung untersucht, oder einfache

(38)

Qigong-Übungen ausgeführt. Stille-Phasen, in denen man den Atem beobachtet ohne ihn zu verändern, folgen auf die vorbereitenden Übungen und können sukzessive in ih- rer Dauer ausgeweitet werden (ebd., S. 172–175). Durch eine Anpassung der Übungen soll man schrittweise in die Achtsamkeitsmeditation eingeführt werden. Durch die Beto- nung persönlicher Vorteile erwartet man sich, SchülerInnen und LehrerInnen zur Praxis zu motivieren. Insgeheim erhofft man sich, dass hierdurch das Interesse geweckt und die grundlegenden Fähigkeiten zu einer intensiveren Praxis ausgebildet werden. Trotz der zum Teil großen Hoffnungen, die in die Achtsamkeit gesetzt werden, geht man sehr pragmatisch vor und schätzt bereits kleine Erfolge (Weare, 2012, S. 194).

Die Entwicklung des zeitgenössische Verständnis von Achtsamkeit als säkulare Metho- de zur Entwicklung, Aufrechterhaltung und Wiederherstellung von kognitiver und so- zio-emotionaler Leistungsfähigkeit ermöglichte die Rezeption in der pädagogischen Diskussion. In dieser wird jedoch auf Gefahren und Grenzen hingewiesen, die mit der Übernahme eines solchen Achtsamkeitskonzept einhergehen.

2.4.2 Fallstricke des zeitgenössischen Achtsamkeitsverständnisses

Ein pädagogischer Nutzen – so die Bildungswissenschaftler Elsholz und Keuffer – kön- ne zwar unterstellt werden, dieser sei jedoch zu überprüfen. Forschungsergebnisse soll- ten nur vorsichtig ins Feld geführt werden. Denn pädagogische Übung sei „auf den gan- zen Menschen gerichtet und habe nicht das Ziel, eine ‹‹verkümmerte›› Ganzheit zu- gunsten hochgetriebener Einzelleistungen zu produzieren.“ (Elsholz & Keuffer, 2012, S. 154) Außerdem zeige die Erfahrung, dass die Pädagogik oftmals zu hohe Erwartun- gen in Verfahren gesetzt habe, die sich später als überzogen herausstellten. Die natur- wissenschaftlichen Forschungsergebnisse verleiteten dazu, Achtsamkeit zu instrumenta- lisieren. Der Achtsamkeit in der Pädagogik gehe es jedoch nicht um Therapie. Sie habe eine eigenständige Wirkung und ließe sich „nicht im pädagogischen Sinne als verwert- bar oder funktionalisierbar […] bezeichnen“ (ebd., S. 157).

Auch Dauber kritisiert die Instrumentalisierung der Achtsamkeit. PädagogInnen erhof- fen sich einen Entspannungseffekt, der zu einer höheren Leistungsfähigkeit führen soll (2012, S. 197). Da zurzeit in der Wissenschaft nur gelte, was operationalisiert und ge-

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messen werden könne, zögere er, ein Verfahren zum Training der Achtsamkeit zu entwi- ckeln. Ihm gehe es mehr um eine Haltung (2006).

Weare meint:

Achtsamkeit […] stellt ihrer wahren Bedeutung nach solche [zum Zwecke der Leistungssteigerung, Anm. S.L.] nützlichen Strategien infrage. Sie betont statt- dessen das Nicht-Bewerten, das Leben im Moment und die Verringerung des persönlichen Strebens und der zentralen Stellung des Ego. Dieses Paradox macht es nötig, kritisch darauf zu sehen, ob Achtsamkeit in Schulen und im Ge- sundheitswesen eingesetzt werden, dabei aber vollständig authentisch bleiben kann. (Weare, 2012, S. 193 f.)

Trotz der Zurückhaltung in Bezug auf einen möglichen pädagogischen Nutzen, der Be- scheidenheit mit kleinen Erfolgen, und der Skepsis, ob eine „authentische“ Praxis im Bildungswesen überhaupt möglich ist, steckt hinter der pädagogischen Diskussion rund um Achtsamkeit eine große Vision, die religiös anmutet.

2.4.3 Die integrale Vision

Die integrale Vision bezieht Achtsamkeit nicht nur auf die Förderung der individuellen Gesundheit und Leistungsfähigkeit, sondern sieht sie auch als Triebfedern für eine ethi- sche Vervollkommnung des Menschen, für einen soziopolitischen Wandel und für ein tiefgehendes Welt- und Selbstverständnis (Altner, 2004, S. 601–604).

Die ethische Dimension

Man versucht zwar zur Achtsamkeitspraxis zu motivieren, indem man die persönlichen Vorteile benennt, erhofft sich aber auch „sozial und ökologisch verantwortlichere“

(Dauber, 2012, S. 197) Menschen. Weare äußert die Hoffnung, dass die Erforschung der Achtsamkeit, neben den individuellen Vorteilen, in Zukunft auch die Entwicklung von gesellschaftlichen Engagement und Mitgefühl untersucht (2012, S. 194). Dass prosozia- les Verhalten im pädagogischen Diskurs eine größere Rolle spielt als bei therapeuti- schen Anwendungen, zeigt sich auch bei der Beschreibung der Achtsamkeit durch Alt- ner. Er verwendet psychologische Tests als Grundlage, um die Charakteristika der Acht- samkeit auszumachen, er fügt jedoch auch den Aspekt der Achtung hinzu, der in den

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