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Achtsamkeit in der pädagogischen Diskussion

Im Dokument Achtsamkeit in der Erwachsenenbildung (Seite 37-48)

2.4.1 Rezeption des zeitgenössischen Achtsamkeitsverständnisses

Erst durch die erfolgversprechenden Forschungsergebnisse der Hirnforschung, sowie der Medizin, Psychologie und Psychotherapie geriet die Achtsamkeit in den Fokus von ErziehungswissenschaftlerInnen und PädagogInnen (Dauber, 2012, S. 197). Dass es diesen Umweg brauchte, kann zum Teil damit erklärt werden, dass die Introspektion im Zuge der Aufklärung als religiöse Übung betrachtet und in den privaten Bereich ver-bannt wurde (Elsholz & Keuffer, 2012, S. 158). Zwar ist die Vipassana-Meditation – und in geringerem Maße die Zen-Meditation (Gruber, 2003) – nach den buddhistischen Reformbewegungen in Asien und ihrem Einzug in den Westen in weitgehend säkularer Form verfügbar (Metzinger, 2013), doch die Skepsis in der Erziehungswissenschaft ge-genüber Religionen, Weltanschauungen und anderen normativen Systemen ist groß (Elsholz & Keuffer, 2012, S. 158). Erst die vollständige Säkularisierung der Praxis führte dazu, dass auch PädagogInnen Achtsamkeit zum Thema machten. „Ihre Definiti-onen sind eng an andere Forschungsbereiche wie Psychologie oder Medizin angelehnt.“

(ebd., S. 149)

In der pädagogischen Diskussion wird Achtsamkeit vor allem in Hinblick auf ihren Ein-satz in der Schule besprochen. Es werden Kurse angeboten, in welchen (angehende) LehrerInnen Achtsamkeit kennen lernen. Die Haltung der Achtsamkeit sollen sie ihren SchülerInnen später vorleben, aber auch Übungen in den Schulalltag einbauen; bspw.

vor einer Prüfung, am Beginn einer Einheit oder in anderen Phasen des Unterrichts.

Kaltwasser empfiehlt LehrerInnen, Aufmerksamkeitssteuerung, Stressbewältigung und emotionale Selbstregulation als Ziele der Übungen zu nennen. Sie meint, sie sei sich zwar bewusst, dass diese funktionalen Ziele die Haltung der Achtsamkeit verengen, doch sie habe von Kabat-Zinn gelernt, klein anzufangen (Kaltwasser, 2012, S. 172). Die Übungen werden den Fähigkeiten der LehrerInnen und SchülerInnen entsprechend an-gepasst. Beispielsweise werden eine Rosine mit allen Sinnen erforscht, die Auswirkun-gen einer veränderten körperlichen Haltung auf die Stimmung untersucht, oder einfache

Qigong-Übungen ausgeführt. Stille-Phasen, in denen man den Atem beobachtet ohne ihn zu verändern, folgen auf die vorbereitenden Übungen und können sukzessive in ih-rer Dauer ausgeweitet werden (ebd., S. 172–175). Durch eine Anpassung der Übungen soll man schrittweise in die Achtsamkeitsmeditation eingeführt werden. Durch die Beto-nung persönlicher Vorteile erwartet man sich, SchülerInnen und LehrerInnen zur Praxis zu motivieren. Insgeheim erhofft man sich, dass hierdurch das Interesse geweckt und die grundlegenden Fähigkeiten zu einer intensiveren Praxis ausgebildet werden. Trotz der zum Teil großen Hoffnungen, die in die Achtsamkeit gesetzt werden, geht man sehr pragmatisch vor und schätzt bereits kleine Erfolge (Weare, 2012, S. 194).

Die Entwicklung des zeitgenössische Verständnis von Achtsamkeit als säkulare Metho-de zur Entwicklung, Aufrechterhaltung und WieMetho-derherstellung von kognitiver und so-zio-emotionaler Leistungsfähigkeit ermöglichte die Rezeption in der pädagogischen Diskussion. In dieser wird jedoch auf Gefahren und Grenzen hingewiesen, die mit der Übernahme eines solchen Achtsamkeitskonzept einhergehen.

2.4.2 Fallstricke des zeitgenössischen Achtsamkeitsverständnisses

Ein pädagogischer Nutzen – so die Bildungswissenschaftler Elsholz und Keuffer – kön-ne zwar unterstellt werden, dieser sei jedoch zu überprüfen. Forschungsergebnisse soll-ten nur vorsichtig ins Feld geführt werden. Denn pädagogische Übung sei „auf den gan-zen Menschen gerichtet und habe nicht das Ziel, eine ‹‹verkümmerte›› Ganzheit zu-gunsten hochgetriebener Einzelleistungen zu produzieren.“ (Elsholz & Keuffer, 2012, S. 154) Außerdem zeige die Erfahrung, dass die Pädagogik oftmals zu hohe Erwartun-gen in Verfahren gesetzt habe, die sich später als überzoErwartun-gen herausstellten. Die natur-wissenschaftlichen Forschungsergebnisse verleiteten dazu, Achtsamkeit zu instrumenta-lisieren. Der Achtsamkeit in der Pädagogik gehe es jedoch nicht um Therapie. Sie habe eine eigenständige Wirkung und ließe sich „nicht im pädagogischen Sinne als verwert-bar oder funktionalisierverwert-bar […] bezeichnen“ (ebd., S. 157).

Auch Dauber kritisiert die Instrumentalisierung der Achtsamkeit. PädagogInnen erhof-fen sich einen Entspannungseffekt, der zu einer höheren Leistungsfähigkeit führen soll (2012, S. 197). Da zurzeit in der Wissenschaft nur gelte, was operationalisiert und

ge-messen werden könne, zögere er, ein Verfahren zum Training der Achtsamkeit zu entwi-ckeln. Ihm gehe es mehr um eine Haltung (2006).

Weare meint:

Achtsamkeit […] stellt ihrer wahren Bedeutung nach solche [zum Zwecke der Leistungssteigerung, Anm. S.L.] nützlichen Strategien infrage. Sie betont statt-dessen das Nicht-Bewerten, das Leben im Moment und die Verringerung des persönlichen Strebens und der zentralen Stellung des Ego. Dieses Paradox macht es nötig, kritisch darauf zu sehen, ob Achtsamkeit in Schulen und im Ge-sundheitswesen eingesetzt werden, dabei aber vollständig authentisch bleiben kann. (Weare, 2012, S. 193 f.)

Trotz der Zurückhaltung in Bezug auf einen möglichen pädagogischen Nutzen, der Be-scheidenheit mit kleinen Erfolgen, und der Skepsis, ob eine „authentische“ Praxis im Bildungswesen überhaupt möglich ist, steckt hinter der pädagogischen Diskussion rund um Achtsamkeit eine große Vision, die religiös anmutet.

2.4.3 Die integrale Vision

Die integrale Vision bezieht Achtsamkeit nicht nur auf die Förderung der individuellen Gesundheit und Leistungsfähigkeit, sondern sieht sie auch als Triebfedern für eine ethi-sche Vervollkommnung des Menethi-schen, für einen soziopolitiethi-schen Wandel und für ein tiefgehendes Welt- und Selbstverständnis (Altner, 2004, S. 601–604).

Die ethische Dimension

Man versucht zwar zur Achtsamkeitspraxis zu motivieren, indem man die persönlichen Vorteile benennt, erhofft sich aber auch „sozial und ökologisch verantwortlichere“

(Dauber, 2012, S. 197) Menschen. Weare äußert die Hoffnung, dass die Erforschung der Achtsamkeit, neben den individuellen Vorteilen, in Zukunft auch die Entwicklung von gesellschaftlichen Engagement und Mitgefühl untersucht (2012, S. 194). Dass prosozia-les Verhalten im pädagogischen Diskurs eine größere Rolle spielt als bei therapeuti-schen Anwendungen, zeigt sich auch bei der Beschreibung der Achtsamkeit durch Alt-ner. Er verwendet psychologische Tests als Grundlage, um die Charakteristika der Acht-samkeit auszumachen, er fügt jedoch auch den Aspekt der Achtung hinzu, der in den

Fragebögen der Psychologie keine Bedeutung hat. In seiner Darstellung der Achtsam-keit greift er außerdem die Ausführungen des Befreiungstheologen Leonardo Boff auf.

Dieser schreibt im portugiesischen Original von „cuidado“ (2013, S. 16), was Sorge und Fürsorge meint, ins Deutsche aber als Achtsamkeit übersetzt wird. Darunter ver-steht er „eine liebe- und respektvolle, nicht-aggressive und damit nicht-zerstörerische Beziehung zur Wirklichkeit.“ (ebd., S. 18) In diesem Sinne definiert das Bildungshaus Schloss Retzhof Bildung als „[…] achtsame[n] Umgang mit der Umwelt und sich selbst.“ (Retzhof, o.J.) Im pädagogischen Diskurs wird Achtsamkeit nicht nur als nicht-urteilende, sondern auch als wertschätzende Aufmerksamkeit verstanden, die nicht nur für das Individuum, sondern auch für die Gesellschaft und die Umwelt von Nutzen sein soll.

Die emanzipatorische Dimension

Achtsamkeitspraxis soll die innere und äußere Freiheit von Menschen steigern. Sie die-ne nicht nur dazu, bewusst zu erleben, sondern auch dazu, das Leben zu gestalten (Alt-ner, 2006, S. 24 f.). Kaltwasser spricht davon, dass man sich meist in einem Auto-Pilot-Modus befinde. Achtsamkeit helfe zu agieren, indem automatisierte Routinen bewusst und damit veränderbar werden (2008, S. 50 f.). Achtsamkeit in der Pädagogik soll je-doch nicht nur zur inneren Freiheit beitragen, d.h. zur Erweiterung der Handlungsfähig-keit innerhalb der gegebenen Bedingungen. Sie soll nach Dauber auch dazu führen, ge-sellschaftliche Institutionen infrage zu stellen, anstatt sie als gegeben und unveränderbar anzusehen (2012, S. 206 f.). Achtsamkeit mache, so Elsholz und Keuffer, „nicht gefügig und blind, sondern im Gegenteil wach für Missstände aller Art.“ (2012, S. 162).

Die epistemische Dimension

Elsholz und Keuffer meinen, Achtsamkeit sei per se schon eine Forschungshaltung. Der Blick nach innen solle die nach außen gerichtete Forschung ergänzen. Besonders in geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern könne Achtsamkeitspraxis einen Beitrag zur Verschmelzung von Forschung und Bildung leisten (ebd., S. 157 f.). Auch Dauber sieht in der Achtsamkeit eine Art Forschungshaltung. Er spricht von einer Haltung des Nicht-Wissens; einer leidenschaftlichen Bejahung des Wissens, dass man nicht weiß.

Diese sei die Grundlage eines radikalen Infragestellens eines jeden Gedankens und jeg-licher Institution hinsichtlich ihrer Effekte auf das Wohlergehen der Menschen (2012, S.

206 f.).

Auf einer zweiten Ebene bezieht sich die integrale Vision im pädagogischen Diskurs auf das Werk Jean Gebsers (Altner, 2004; Dauber, 2006; Elsholz, 2013). Wie schon Enomi-ya-Lassalle und Dürckheim, welche die Rettung der europäischen Kultur in der Ent-wicklung eines meditativen Bewusstseins sahen, werden Achtsamkeitspraktiken das Po-tential zur Förderung der Onto- und Phylogenese zugesprochen (Altner, 2004; Dauber, 2006; Elsholz, 2013).

Jean Gebser entwarf ein Strukturmodell der menschlichen Bewusstseinsgeschichte.

Demnach entwickelt sich das Bewusstsein des Einzelnen und ganzer Kulturen in fünf aufeinander aufbauenden Stufen: der archaischen, der magischen, der mythischen, der mentalen und der integralen Struktur. Im Laufe dieser Entwicklung verändere sich die Wahrnehmung von einer unperspektivischen zu einer perspektivischen und schließlich zu einer aperspektivischen Sicht auf die Welt. Die mentale Struktur wird in eine effizi-ente und eine defizieffizi-ente rationale Phase eingeteilt. Die mentale Bewusstseinsstufe wird als Weiterentwicklung der mythischen Struktur betrachtet, gehe aber mit Problemen einher, welche nur durch ein integrales Bewusstseins gelöst werden könnten. Dass die Entwicklung des Bewusstseins durch „integrale Anthropotechniken“, wozu Achtsam-keitspraktiken zählen, gefördert werde, ist die Hauptthese in Elsholz‘ Dissertation Bil-dung und Bewusstsein (2013).

Auf der integalen Bewusstseinsstufe wird der menschliche Geist fähig, „die komplexe Vielfalt der Erscheinungen nicht nur rational differenzierend zu erfassen, um sie bewer-ten, kontrollieren und verändern zu müssen, sondern sie auch als durchscheinendes Ganzes in Geistesgegenwart achtsam sein lassen zu können.“ (Altner, 2004, S. 10) In seinen eigenen Worten beschreibt Gebser die integrale Struktur des Bewusstseins fol-gendermaßen:

Der ungeteilte, der ichfreie Mensch, der nicht mehr Teile sieht, sondern das

„Sich“ realisiert, die geistige Form des Mensch- und Weltseins, nimmt das Gan-ze wahr [...]. Für ihn gibt es weder Himmel noch Hölle, weder Diesseits noch

Jenseits, weder Ich noch Welt, weder Immanenz noch Transzendenz, sondern über deren magische Einheit, deren mythische Ergänztheit, deren mentale Ent-zweiung und Synthese hinaus das nur wahrnehmbare Ganze. (Gebser, 1977, Band 3, S. 689, zitiert nach Elsholz, 2013, S. 13).

Eine solche Wortwahl stößt bei einer der Aufklärung verpflichtenden Bildungswissen-schaft auf Skepsis, ist sich Elsholz bewusst. Dennoch sieht er Gebsers Werk als beste Grundlage, um die Entwicklung des Menschen nach dem Erwachsenwerden zu bespre-chen. Ähnliche Strukturmodelle der menschlichen Bewusstseinsentwicklung die etwa zur gleichen Zeit von Sri Aurobindos und Teilhard de Chardins entwickelt wurden, sei-en aufgrund sprachlicher und religiöser Hindernisse wsei-eniger zugänglich. Gebsers Werk entspreche noch am ehesten wissenschaftlichen Kriterien. Es sei jedoch nicht durchgän-gig mit diesen vereinbar und widersetze sich einer „rein wissenschaftlichen Rezeption (nach der heute gängigen Auffassung von Wissenschaft)“ (ebd., S. 55).

Aufgrund einer fehlenden kritischen Rezeption Gebsers Werk und einer mangelnden Akzeptanz in den wissenschaftlichen Communities ist es fraglich, ob sein Werk eine ge-eignete Argumentationsgrundlage für den Einsatz von Achtsamkeitspraktiken in der Er-wachsenenbildung bietet. Mittlerweile gibt es neue Strukturmodelle des Bewusstseins, welche die Entwicklung des Menschen nach dem Erwachsenwerden beschreiben. Eine Übersicht findet sich bei Wilber (2011, 94 ff.). Eine bildungswissenschaftliche Diskus-sion und kritische Rezeption solcher wäre für die Erwachsenenbildung fruchtbar. An-hand solcher könnte die These, Achtsamkeitspraktiken fördern die Bewusstseinsent-wicklung Erwachsener, empirisch überprüft werden.

Einen anderer Zugang, der den Einsatz von Achtsamkeitspraktiken in der Erwachsenen-bildung zu rechtfertigen im Stande sein könnte, wählt der Bewusstseinsphilosoph Tho-mas Metzinger. Auf diesen wird im folgenden Exkurs eingegangen.

Exkurs: Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit

Metzinger entwickelte die Selbstmodell-Theorie der Subjektivität (2003). Das „Selbst“

ist ihm zufolge ein im Bewusstsein repräsentiertes Modell des Organismus, das auf Ge-hirnaktivierung basiere. Da das Modell transparent sei, d.h. nicht als solches erkannt werde, habe der Mensch in gewöhnlichen Bewusstseinszuständen das bewusste Erleben, ein Selbst zu sein (ebd.). In seinem Essay Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit (2013) stellt er drei Thesen auf :

[1] Das Gegenteil von Religion ist nicht Wissenschaft, sondern Spiritualität.

[2] Das ethische Prinzip der intellektuellen Redlichkeit kann man als Sonderfall der spirituellen Einstellung beschreiben.

[3] Die wissenschaftliche und die spirituelle Einstellung entstehen in ihren Reinformen aus derselben normativen Grundidee. (ebd., S. 6)

Laut Metzinger erleben wir derzeit die Anfänge einer historischen Umbruchssituation, die mit großen Herausforderungen einhergeht. Die beschleunigte Entwicklung verände-re unser Menschenbild radikal. In seinem Essay geht er der Frage nach, ob eine säkula-risierte Form der Spiritualität denkbar sei. „Könnte es ein modernes spirituelles Selbst-verständnis geben, das den veränderten Bedingungen Rechnung trägt und mit dem (nicht nur für Philosophen wichtigen) Wunsch nach intellektueller Redlichkeit in Ein-klang zu bringen ist?“ (ebd., S. 2)

Der Mensch sei zum einen aufgrund evolutionär entstandener Mechanismen der Selbst-täuschung nicht fähig trotz besseren Wissens adäquat auf Herausforderungen wie bspw.

den Klimawandel zu reagieren. Zum anderen befinde sich das wissenschaftlich-philoso-phische Selbstverständnis des Menschen in einem fundamentalen Umbruch. Er spricht von einer naturalistischen Wende im Menschenbild, welche durch neue Erkenntnisse in der Genetik, der kognitiven Neurowissenschaft, der evolutionären Psychologie und der Philosophie des Geistes ausgelöst werde (ebd., S. 2 f.).

Wir beginnen nun – ob wir wollen oder nicht – auch unsere mentalen Fähigkei-ten zunehmend als natürliche EigenschafFähigkei-ten unserer selbst zu begreifen, als

Ei-genschaften mit einer biologischen Geschichte, die mit den Methoden der Natur-wissenschaften erklärt, prinzipiell technologisch kontrolliert und vielleicht sogar auf nicht biologischen Trägersystemen erzeugt werden können. (ebd., S. 3) Die naturalistische Wende im Menschenbild werde von vielen als Bedrohung und Krän-kung erlebt (ebd., S. 2 f.).

Seit dem Ende des zweiten Weltkriegs sei eine spirituelle Gegenkultur entstanden, die abseits organisierter Religionen stattfinde. Sie lege den Fokus auf die Praxis. Die Acht-samkeits- oder Einsichtsmeditation aus der buddhistischen Vipassana-Tradition sei ne-ben anderen die am weitesten verbreitete Methode und weltanschaulich weitgehend neutral. Die spirituellen Praxis verfolge eine erfahrungsbasierte Form der Erkenntnis, die begrifflich nicht klar benennbar sei. „[M]an kann sagen, dass es dabei um die Be-wusstheit als solche geht, unter Auflösung der Subjekt-Objekt-Struktur und jenseits der individuellen Erste-Person-Perspektive.“ (ebd., S. 8) Sie werde als eine spezielle Form von Selbsterkenntnis beschrieben, die befreiend wirke und reflexiv auf das eigene Be-wusstsein gerichtet sei. Das Streben nach einer solchen Art des Wissens finde sich zum Teil auch in Religionen und der traditionellen Metaphysik, vor allem bei MystikerIn-nen. Sie verbinden damit meist ein Erlösungsideal. Eine allgemeingültige Lehre dieser Form von Selbsterkenntnis gebe es nicht, da sie nicht in Begriffe zu fassen sei oder ar-gumentativ begründet werden könne. Ob es sich um eine wahre Erkenntnis oder bloße Selbsttäuschung handle, zeige sich – so die klassische Antwort spiritueller bzw. religiö-ser Traditionen – im Verhalten. Fortschritt werde durch das Maß der ethischen Integrität einer Person gemessen. Statt um Therapie oder Wellness gehe es einer substantiellen spirituellen Praxis um eine „radikale, existentielle Form von Befreiung durch Selbster-kenntnis“ (ebd., S. 8) und um „ethische Integrität durch Selbstwissen“ (ebd., S. 8). Eine aufgeklärte, säkularisierte Spiritualität zeichne sich durch ihre Unbestechlichkeit in mehrerer Richtungen aus:

[…] gegenüber den Vertretern metaphysischer Glaubenssysteme, die die Medita-tionspraxis an eine wie auch immer geartete Theorie zu binden versuchen, aber auch gegenüber den rein ideologischen Formen des rationalistischen Reduktio-nismus, die alle nicht-wissenschaftlichen Formen des Erkenntnisgewinns aus rein weltanschaulichen Gründen diskreditieren möchten. Vor allem jedoch geht

es um die Entdeckung einer von allen Theorien und Vorstellungen unabhängige Unbestechlichkeit sich selbst gegenüber. (ebd., S. 10)

Unbestechlichkeit sei ein Grundmerkmal intellektueller Redlichkeit. Sie zeichne der un-bedingte Wille nach Erkenntnis aus, auch dann wenn sie der vorherrschenden Lehrmei-nung widerspricht oder emotional belastend ist. Intellektuelle Redlichkeit bedürfe der Fähigkeit der Selbstkontrolle. Letztere werde durch eine spirituelle Praxis trainiert und kultiviere dadurch die geistigen Voraussetzungen kritischen, rationalen Denkens. Spiri-tuelle Praxis und rationales Denken verbinde „[…] eine Ethik des inneren Handelns um der Erkenntnis willen.“ (ebd., S. 12) Beide würde darauf abzielen, die geistige Autono-mie zu steigern (ebd.).

Metzinger argumentiert u.a. am Beispiel John Lockes, intellektuelle Redlichkeit ent-stamme einer spirituellen Praxis. Dieser sah es als religiöse Pflicht, seine „gottgegebe-ne“ Erkenntnisfähigkeit dazu zu nutzen, „Gott“ zu erkennen. Gleichwohl seien die meisten religiösen VertreterInnen und auch jene der sogenannten spirituellen Gegenkul-tur unredlich. Sie würden trotz des Erkenntnisfortschritts an tradierten Lehrmeinungen festhalten und Erkenntnisse verleugnen, die emotional belastend sind. Hingegen sei ei-ner spirituellen Praxis daran gelegen, Erkenntnisse zu sammeln, statt sie zu verleugnen (ebd.).

Beispielsweise sei der Glaube an Gott und an ein Leben nach dem Tod nach dem heuti-gen Stand der Wissenschaft als intellektuell unredlich zu betrachten. Auch das Erlö-sungsideal müsse im Rahmen einer säkularen Spiritualität neu bestimmt und Erkennt-nisansprüche neu interpretiert und begründet werden (ebd., S. 25).

Es sieht im Moment so aus, als ob Befreiung immer nur innerweltliche Befrei-ung sein kann […]. Es geht dann nicht mehr um ein Jenseits oder eine mögliche Belohnung in der Zukunft, sondern immer nur um den gelebten Augenblick der Achtsamkeit, den Moment des Mitgefühls, um das aktuelle Jetzt. Wenn es so et-was überhaupt noch gibt, dann ist der eigentlich sakrale Raum immer nur das bewusst erlebte Jetzt. (ebd., S. 24)

Was Erleuchtung, Befreiung bzw. Erlösung bedeute, darüber sei man sich nicht einmal innerhalb der buddhistischen Philosophie jemals einig gewesen. Sprachliche Berichte

seien immer Ausdruck einer bestimmten Weltanschauung und des Beschreibungssys-tems einer Person. Sogenannte Erleuchtungserfahrungen seien sprachlich nicht mitteil-bar. Die Erkenntnisse der modernen Philosophie und Wissenschaft sei nur für religiöse Glaubenssysteme eine Bedrohung. Eine säkularisierte Form der Spiritualität hingegen könnte sie sogar integrieren (ebd.).

Religion sei dogmatisch. Sie opfere die eigene Vernünftigkeit, um emotionalen Profit zu maximieren. Sie stabilisiere das Selbstwertgefühl der Menschen, gebe ihnen Geborgen-heit in einer Gemeinschaft und positive Gefühle. Spiritualität hingegen sei rationalen Argumenten gegenüber aufgeschlossen, suche nach Erkenntnis und löse das phänome-nale Selbst auf. Während Religionen sich organisieren und missionieren, sei Spirituali-tät etwas „radikal Individuelles und typischerweise eher still.“ (ebd., S. 28) Da Wissen-schaft sich organisiert und ihre Ergebnisse nach außen kommuniziert, sei das Gegenteil von Religion nicht Wissenschaft, sondern Spiritualität (ebd.).

Die dritte und letzte These Metzingers ist die Behauptung, Wissenschaft und Spirituali-tät liege dieselbe normative Idee zugrunde: der unbedingte Wille zur Wahrheit und das Ideal sich selbst gegenüber absolut ehrlich zu sein.

Das gemeinsame Ziel ist das Projekt der Aufklärung, die systematische Erhö-hung der eigenen geistigen Autonomie. Es gibt die zwei Grundformen des epis-temischen Handelns: subsymbolisch und kognitiv, in der Stille und im Denken – nämlich mit der Aufmerksamkeit (vielleicht beispielhaft verkörpert in der klassi-schen Tradition der Achtsamkeitsmeditation) und auf der Ebene des kritiklassi-schen, vernünftigen Denkens, der wissenschaftlichen Rationalität. (ebd., S. 32)

Intellektuelle Redlichkeit und Achtsamkeit seien beides geistige Tugenden und ihre Kultivierung diene der Steigerung der persönlichen Autonomie und der Erhöhung des zivilisatorischen Standards. Man müsse nicht zwischen den beiden wählen. Sie könnten nur gemeinsam verwirklicht werden (ebd., S. 32 ff.).

Metzingers Vision einer „Aufklärung 2.0“ (ebd., S. 31) ähnelt der integralen Vision im pädagogischen Diskurs. Beiden betrachten eine säkularisierte Form der Achtsamkeit-spraxis nicht nur als kompatibel mit dem Projekt der Aufklärung, sondern sprechen ihr auch die Rolle eines Katalysators zu (Elsholz, 2013).

Achtsamkeit muss in der Erwachsenenbildung auf eine andere Weise vermittelt werden als in therapeutischen oder religiösen Kontexten. Zum einen braucht es eine intensive Praxis, welche mehr ist als bloß ein Gesundheitsangebot. Zum anderen müssen sich Achtsamkeitskurse von esoterischen Angeboten abgrenzen und den aktuellen Erkennt-nisstand der Wissenschaft berücksichtigen. Deshalb soll im nächsten Kapitel geklärt werden, was unter Erwachsenenbildung verstanden wird und wie sie sich gegenüber an-deren Angeboten abgrenzen lässt.

3 Was wird unter Erwachsenenbildung verstanden?

Der Rahmen dieser Arbeit erlaubt es nicht, verschiedene Definitionen der Erwachsenen-bildung zu diskutieren. Um in der Folge die zehntägigen Meditationskurse des Vipassa-na-Vereins Österreich hinsichtlich ihres erwachsenenbildnerischen Charakters zu

Der Rahmen dieser Arbeit erlaubt es nicht, verschiedene Definitionen der Erwachsenen-bildung zu diskutieren. Um in der Folge die zehntägigen Meditationskurse des Vipassa-na-Vereins Österreich hinsichtlich ihres erwachsenenbildnerischen Charakters zu

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